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Full text of "Zeitschrift für Volkskunde"

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ZEITSCHRIFT 


des 


Vereins  für  Volkskunde. 


Begründet  von  Karl  Weinhold. 


Unter  Mitwirkung  von  Johannes  Bolte 


herausgegeben 


von 


Hermann  Michel. 


21.  Jahrgang. 


Mit  vierzehn  Abbildungen  im  Text. 

BERLIN. 
BEHREND  &  C°. 

11)11. 


1911. 


6 


Inhalt.  III 


Inhalt. 


Abhandlungen  und  grössere  Mitteilungen. 

Seite 

Tannhäuser  und  die  Tannhäusersage.     Von  Richard  M.  Meyer 1 —  :;i 

Weiteres    über    Rübezahl    im    heutigen  Volksglauben.      Von    Richard  Loewe 

31—44.  126—151 
Die    altgermanische    Wirkgrube    auf   slawischem    Boden.      Vou    Karl   Rhanim 

(mit  Abbildung) 44—52.  112 

Katholische  Überlebsel  beim  evangelischeu  Volke.     Von  Richard  Andree    .    .  113—125 

Etwas  vom  Messen  der  Kranken    (der  rohe  Faden).     Von  Theodor  Zachariae  151—159 
Die  Erkenntnis    des  heutigen  Volkslebens    als  Aufgabe    der  Volkskunde.     Von 

Eduard  Hahn 225—233 

Das  Hickelspiel  in  Frankfurt  a.  M.     Von  Karl  Wehrhan 234—243 

Brummshageusch    und  Vater  Bümke,    zwei  pommersche    Sagengestalten.     Von 

Alfred  Haas 243—248 

Das    Hungertuch    von   Telgte    in   Westfalen.      Von    Karl    Brunner    (mit    Ab- 
bildung)   321—332 

Die  Taufe  totgeborener  Kinder    ist    noch  heute  üblich.     Von  Richard  Andree  333 

Alte  Zigeunerwarnungstafeln.      Von  Richard  Andree  (mit  Abbildung)    ....  334—336 

Ein  papierener  Irrgarten.     Von  Franz  Weinitz  (mit  Abbildung) 336—338 

Zwei  Segen.     Von  Franz  Weinitz 339-:'.4n 

Die  Volkstracht  des  Rieses.      Von  Ludwig  Mussgnug  (mit  vier  Abbildungen)  341—34?! 

Schlesische  Terra  sigillata.     Von  Karl  Brunner  (mit  vier  Abbildungen)   .    .    .  345—351 
Der  Chiemgauer  Schiffsumzug    vom  28.  Februar  1911.     Mitgeteilt    von  Robert 

Eisler  (mit  zwei  Abbildungen) 352—355 

Koreanische  Erzählungen  (1—19),  gesammelt  von  Dominicus  Enshoff  ....  355—367 


Kleine  Mitteilungen. 


Der  Spruch  der  Toten  an  die  Lebenden  (1—147).     Von  W.  F.  Storck  53—63.  89—  91 

Sylter  Lieder.    Von  Theodor  Siebs (>!—  7  1 

Zum  deutschen  Volksliede  (36—42).    Von  Johannes  Bolte 74-  84 

Zum  Volksliede  vom  Tod  zu  Basel.     Von  Marie  Schulz 84—85 

Les    contes    populaires    dans    le    Livre    des    rois    de     Firdausi.       Von    Victor 

Chauvin 85—  86 

Ludwig  Katona  zum  Gedächtnis.     Von  Robert  Gragger 8(1—  8S 

Eine  Gesellschaft  für  Volkskunde  in  Chile.     Von  Joh.  Bolte 88—89 

Zum  Liede  'Was  braucht  man  im  Dorf.     Von  Arthur  Kopp 91 

Vom  Notfeuer.     Von  Rudolf  Reichhardt 9] 

Heilkraft  der  Treuhand.     Von  Emil  Schnippel '.»1 

Gereimte  Märchen  und  Schwanke  aus    dem  16.  Jahrhundert    (1.  H.  Sachs,    Der 

Ritter  mit  der  verzauberten  Nadel.     2.  Die   Feindschaft   zwischen   Hunden, 


IV  Inhalt. 

Seite 
Katzen  und  Mäusen.    3.  Ein  Lied  von  einem   ehlichen  Volk.    4.  L.  Wessel, 
Der  Wandrer   mit   dem  Hasen.     5.  A.  Meyer,  Der  Landsknecht   mit   den 

Hühnern).    Von  Johannes  Bolte 160—113 

Albanesische  Volkslieder  (1—7).     Von  Franz  Sattler 173  —  176 

Ein  altisländisches  Eechenrätsel.     Von  August  Gebhardt 177—178 

Klabautermann.     Von  Eduard  Hahn 178—179 

Das  Borenleihen  (Bärenführen).     Von  Erich  Weitland L79 

Segen  wider  die  Rose  aus  Masuren.     Von  Emil  Schnippe! 179 

Jacob  Grimm  an  Emmanuel  Cosquin.    Von  Johannes  Bolte ■249—251 

Deutsche  Volksbräuche  aus  Galizien  (1—4).     Von  Raimund  Friedrich    Kaindl  251—255 

Volkskundliches  aus  dem  Isartale.    Von  Max  Hoefler 256-259 

Sprichwörter     und     Redensarten     aus    Vorarlberg     (1—447).      Von     f    Adolf 

Dörler 259-27:; 

Zum  Fangsteinchenspiele.    Von  Elisabeth  Lemke  und  Johannes  Bolte     .    .    .  274—27(5 
Volkstümliche    Obst-    und    Speisenamen    im    Braunschweigischen.      Von    Otto 

Schütte 276—278 

Der  Teufel  im  Glase.     Von  Paul  Beck 278—279 

Ein  altnordisches  Bärensohnmärchen.     Von  f  Bernh.  Kahle 280—281 

Nachtrag  zum  Spruch  der  Toten  an  die  Lebenden.    Von  Max  Roediger.    .    .  281—282 
Zur  Sage    von    der    erweckten  Scheintoten.    Von  Johannes  Hertel,    Johannes 

Bolte,  August  Andrae 282—285 

Sagen  aus  Dürrengleina  (Thüringen).    A'on  Hans  Schache 286—287 

Amulette  und  Gebete  aus  Salzburg.    Von  Johannes  Bolte 287—289 

Zur  Rumpelmette.     Von  E.  Haslinghuis 290—291 

Sizilianische  Gebäcke.     Von  Elisabeth  Lemke 291—292 

Ein  russischer  Schutzbrief  wider  den  Kometen  Hallev.     Von  August  v.  Löwis 

of  Menar _■  292-293 

Eine  Warnung  vor    den  Künsten    der  Hexen    auf   einem  Flugblatte  v.  J.  1G27. 

Von  Adolf  Jacoby 293-297 

Henning  Frederik  Feilberg.     Von  Johannes  Bolte 297—298 

Eine  Gesellschaft  für  Volkskunde  in  Kanada.    Von  Hermann  Michel 298 

Zum  'Letzteu  geben'.     Von  Friedrich  Schön 298—299 

Der  Peterstag  im  Volksbrauch.    Vou  Rudolf  Reichhardt 299 

Zur  Entwicklungsgeschichte  des  Volks-  und  Kinderliedes  1 :    Schlaf,    Kindchen. 

schlaf.    Von  Georg  Schläger 368—377 

Verschwiegene  Liebe.     Von  Elisabeth  Lemke ■"' 

Ein  Lied  auf  Turennes  Tod  (1675).    Von  Otto  Stückrath 377—378 

Fränkische  Vierzeiler  (1—45).     Von  Georg  Rauch        378—382 

Wie  zeichnet  man  Volkstänze  auf?     Von  Raimund  Zoder 382—: B88 

Schlangensegen  und  Fuchsbeschwörung.     Von  Leopold  Bein 389 

Der  Regenbogen  im  Glauben    und  in    der  Sage  der  Provinz  Posen.     Von  Otto 

Knoop 390-392 

Wie  man  in  Erlangen  spricht.     Von  Joseph  Gengier 392—399 

Beiträge    zur    Volkskunde    des    Ostkarpathengebietes    (7— 9).       Von    Raimund 

Friedrich  Kaindl 399—403 

Zum     topographischen    Volkshumor     aus     Schleswig -Holstein.       Von     August 

Andrae 404 

Volksspiele    aus    der    Kufsteiner    Gegend    (1—3).     Von    Karl    Brunner  -  Inns- 
bruck    404-405 

Eine    indische   Parallele    zu    Schillers    'Gang   nach    dem    Eisenhammer'.      Von 

Johannes  Hertel 406^407 

Der  Soldatenhimmel.    Von  Johann  Lewalter 407—408 

Zum  70.  Geburtstage  von  Giuseppe  Pitre.     Von  Johannes  Bolte 408—409 


Inhalt. 


Berichte  und  Bücheranzeigen. 

Seite 

Neuere  Märchenliteratur.     Von  Johannes  Bolte 180—198 

Neuere  Arbeiten  zur  slawischen  Volkskunde     1.  Polnisch  und  Böhmisch.     Von 

Alexander  Brückner 198—208 

Bäumker,  W.  Das  katholische  deutsche  Kirchenlied,  4.  Band  (A.  Wrede).  .  429—430 
Berthold,  0.     Die  Unverwundbarkeit  in  Sage  und  Aberglauben  der  Griechen 

(E.  Fe'hrle) 415-417 

Bert  seh,  H.    Weltanschauung,  Volkssage  und  Volksgebrauch  (R.  M.  Meyer)   .  100 

Birt.  Tb.    Aus  der  Provence  (J.  Hirsch) 216 

Bolte,    J.    und    M.    Breslauer,     Acht    Lieder     aus      der    Reformationszeit 

(A.'  Kopp) t25 

Bugge,  S.    Der  Runenstein  von  Rök  (A.  Heusler) 212—214 

Edo-e-Partington,     J.       Certain       obsolete      Utensils      in      North  -  Wales 

&(R.  Andree) '-"' 

Fehrle,  E.    Die  kultische  Keuschheit  im  Altertum  (F.  Böhm) 302—304 

Franz.  A.    Die  kirchlichen  Benediktionen  im  Mittelalter  (A.  Wrede) 305—306 

Friedel,  E.  und  R.  Mielke,    Landeskunde    der  Provinz  Brandenburg,  2.  Bd. 

K.  Beucke) 214-215 

v.  Frisch,  E.    Kulturgeschichtliche  Bilder  vom  Abersee  (M.  Andree-Eysn)    .    .  216 

Fuhse,  F.    Beiträge  zur  Braunschweiger  Volkskunde  (R.  Andree) 1(»1 

Hahne,  H.    Das  vorgeschichtliche  Europa  (S.  Feist) 208—210 

Hästesko,    F.    A.      Die     westfinnischen     Zauberlieder      gegen     Krankheiten 

(R.  Karsten) 426-427 

Hoede,  K.    Das  Rätsel  der  Rolande  (Curt  Müller) I-1 

de  Jong,  K.  H.  E.     Das  antike  Mysterienwesen  (E.  Samter) 93—96 

Kelemina,  J.     Untersuchungen  zur  Tristansage  (F.  Ranke) 420—  121 

Kemmerich,  M.     Prophezeiungen  (R.  M.  Meyer) 417—418 

v.  Klinckowström,    Graf  C.    Bibliographie  der  Wünschelrute  (L.  Weber)    .  U8 

Knappert,  L.    Geschiedenis  der  Nederlandsche  hervormde  Kerk  (H.  F.  Wirth)  427—429 

Kossinna,  G.     Die  Herkunft  der  Germanen  (S.  Feist) 419—420 

Kretzschmar,  H.     Über  Volkstümlichkeit  in  der  Musik  (C.  Sachs) 100—101 

Kropp.  Ph.  Latt'uezeitliche  Funde  an   der  keltisch-germanischen  Völkergrenze 

A.  Kiekebusch) 433—434 

Levy,  P.     Geschichte  des  Begriffes  Volkslied  (H.  Lohre) 421-  123 

Lütjens,  A.    Der   Zwerg    in    der   deutschen  Heldendichtung    des    Mittelalters 

(R.  M.  Meyer) Bo8 

Marett,  R.     Die  Anthropologie  und  die  Klassiker  (E.  Samter) 210—212 

Merker.  M.     Die  Masai  (S.  Feist) ;1(l1 

Samter,  E.     Geburt,  Hochzeit  und  Tod  (E.  Goldmann) 410-415 

Schrader,  0.     Die  Indogermanen ,(A.  St.  Magr) 300-302 

Schulte,   J.    Chr.       Martin    von    Cochem,    sein    Leben    und    seine   Schriften 

fA.   Wrede) '■'!> 

Seefried-Gulgowski,    E.     Von    einem   unbekauuten  Volke    in    Deutschland 

(F.  Treichel) |:;- 

S  eil  er,  F.    Die  Entwicklung    der  deutschen  Kultur  im  Spiegel  des   deutschen 

Lehnworts  3,1  (H.  Michel) 131—482 

Stengel,  P.     Opfergebräuche  der  Griechen  (E.  Samter) 96—  9'J 

Vi  an,  R.     Ein  Mondwahrsagebuch  (Helene- Meyer) 97 —  98 

Weinreich,  0.    Der  Trug  des  Nektanebos  (R.  M.  Meyer) 306—307 

Wesselski,      A.        Die     Schwanke      und     Schnurren      des     Pfarrers     Arlotto 

(J.  Bolte) 308-309 

Wilke,  G.     Spiral-.Mäander-Keramik  und  Gefässmalcrei  (S.  Feist) 

Wörterbuch  der  Elberfelder  Mundart  (J.  Äsen) 424 


VI  Inhalt. 


Seite 


Notizen  (Basler  Studentensprache,  Brandstetter,  de  Cock,  Dohse,  Gerdes, 
Gotthelf,  Hoeber,  Höfler,  Aaoygayla,  Lorrain,  Mann,  A.  Schrader, 
0.  Schrader.  Teubners  Künstler-Steinzeichnungen,  Yasconcellos,  Werner. 
Wiedemann.  -  -  Evangelien  van  den  Spinrocke,  Junk,  Kittredge,  Kortuni, 
Kühnau,  Ranke.  —  Baragiola,  Beyer,  Bronner,  de  Cock  en  Teirlinck, 
Dittmann,  v.  Gennep,  Goldziher,  Höfler,  Kerler,  Loewo,  Marzell, 
Messikominer,  Piper,  Sahr,  Spies,  Stettiner,  Violet,  Zenker.  —  Orooke, 
Dobbeck,  Friedwagner,  Garbe,  Günther,  Hennig,  Heyden,  Hilka,  v.  Hör- 
mann,  Knortz,  Krohn.  Leskien,  Loosli,  Meinhof,  Neubaur,  Schott,  Schuchardt 

101—105.  217—218.  309—312.     4;J4-  136 

Entgegnung.     Von  Wolfgang  Schultz 105—106 

Zur  Besprechung  von  Robert  Eisler 106 

Bernhard  Kahle  f.     Von  Max  Roediger 219 

Uelegiertentag  in  Einbeck.     Von  Max  Roediger 318 

Aufruf  zur  Sammlung  volkstümlicher  Pllanzennamen.     Von  Heinrich   Marzell  318—320 

An  unsere  Mitglieder 320 

Schönbachs  Segensammlung.     Von  Max  Roediger 436 


Aus  den  Sitzungsprotokollen  des  Vereins  für  Volkskunde.    Von  Karl  Brunn  er 

107-112.  219-224.     313—317 
Register 437—442 


Tannhäuser  und  die  Tannhäusersage. 

Von  Richard  Bf.  Meyer. 


So  lang  es  eine  vergleichende  Mythen-  und  Sagenforschung  gibt,  ist 
sie  an  umstürzenden  Überraschungen  vielleicht  noch  nie  so  reich  gewesen 
als  in  den  letzten  Jahren.  Alles  scheint  vertauscht;  was  alt  war,  soll  neu 
sein,  was  neu  schien,  alt.  Für  die  Merseburger  Zaubersprüche,  die  als 
sicherste  „Überreste  germanischen  Heidentums"  galten,  will  soeben  Edward 
Schröder  (Zs.  f.  d.  Alt.  52,  180)  christliche  Vorlagen  annehmen,  und  die 
so  verdächtige  Weltesche  der  Edda  kann  nach  Robert  Eisler  (Himmels- 
zelt und  Weltenmantel  ISMO)  aus  uralten  Mythen  entsprossen  sein.  Für 
den  'Mythus"  von  Beowulf  aber  hat  Panzer  in  seinem  neuen  Werk  ein 
Märchen  als  eigentliche  Grundlage  erwiesen,  während  umgekehrt  für 
weite  Strecken  der  französischen  Heldensage  nicht  volkstümliche  Über- 
lieferung, sondern  nach  ßedier  und  Ph.  Aug.  Becker  bewusste  literarische 
Ausgestaltung  angenommen  werden  soll.  Wiederum  Bilder  und  Ausdrücke 
bei  Rienzo  und  Dante,  die  als  deren  persönliches  Eigentum  galten,  stellen 
Burdach  (Sinn  und  Ursprung  der  Worte  Renaissance  und  Reformation, 
Sitzungsber.  der  Berl.  Akad.  1910)  und  Kampers  (vgl.  Internat.  Wochen- 
schrift 4,  181  f.)  auf  eine  tiefe  und  breite  volkstümliche  Basis,  während 
Roethe  (Nibelungias  und  Waltharius)  das  Volksepos  von  den  Nibelungen 
auf  eine  individuelle  Nachahmung  des  Waltharius  durch  den  Schreiber 
Konrad  zurückführt  und  Singer  (Mittelalter  und  Renaissance;  Die 
Wiedergeburt  des  Epos.  1910  S.  41)  die  Entstehung  des  Tierepos  für 
die  persönliche  Tat  eines  einzelnen  Mönchs  erklärt.  Ein  so  spezifisch 
französisches  Stück  wie  Rostands  'Chantecler'  will  man  auf  deutsch«' 
Anregung  zurückführen  (vgl.  Vossische  Zeitung  1910,  17.  September)  und 
eine  Sage,  die  so  durchaus  für  urdeutsch  galt  wie  die  von  Tannhäuser, 
soll  völlig  Italien  angehören! 

Nun  versteht  es  sich  ja  von  selbst,  dass  diese  verschiedenen  Ent- 
deckungen methodisch  und  prinzipiell  ungleich  geartet  sind.  Ich  glaube, 
dass    die    neue  Bewertung    absichtlicher  literarischer  Einwirkung  auf    die 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1911.    Heft  1.  I 


2  Meyer: 

tlüssio-e  'Sage'  von  grosser  allgemeiner  Bedeutung  ist.  Ich  stehe  mit  Be- 
wunderung vor  der  Umsicht,  mit  der  Burdach,  Kampers,  Singer  volks- 
tümliche Anschauungen  und  individuelle  Absichten,  uralte  Vorstellungen 
und  momentane  Stimmungen  zusammenwirken  lassen.  Ich  halte  die  Be- 
reicherung unseres  Materials  durch  die  Funde  von  Gaston  Paris  und 
Söderhjelm  für  ungemein  wichtig;  aber  ich  bin  geneigt,  anzunehmen, 
dass  der  Eindruck  überraschender  neuer  Tatsachen  sowohl  Edward 
Schröder  bei  dem  Problem  der  Zaubersprüche  als  auch  Kristoffer  Nyrop 
bei  der  Frage  der  Tannhäuserlegende  zu  einer  überstarken  Umkehrung 
der  bisherigen  Anschauungen  veranlasst  hat.  Wobei  freilich  Schröder  mit 
eanz  anderer  Stoffbeherrschung  und  namentlich  mit  viel  gründlicherer 
Methode  arbeitet  als  Nyrop  in  seinem  ja  auch  nur  populär  gemeinten 
Schriftchen.  Aber  eben  wegen  der  volkstümlichen  Haltung  und  des 
hübschen  Vortrags  scheint  mir  das  geistreiche  Büchlein  (Kr.  Nyrop, 
Fortids  Sagn  og  Sänge,  Bind  6:  Tannhäuser  i  Arenusbjerget,  Kuben- 
havn,  Nordisk  Forlag  1909)  so  gefährlich.  Wir  haben  es  in  neuerer  Zeit 
wieder,  wie  in  früheren  Epochen,  allzuoft  erlebt,  dass  auf  mittelalterliche 
Leoenden  sich  moderne,  auf  volkstümliche  Sagen  sich  wissenschaftliche 
aufgebaut  haben;  die  Entschiedenheit,  mit  der  der  berühmte  dänische 
Gelehrte  Sätze  aufstellt,  die  meines  Erachtens  teils  unbeweisbar  sind, 
teils  nachweislich  unrichtig,  könnte  leicht  eine  ganz  neue  'Tannhäuser- 
sage'  zu  rascher  Verbreitung  bringen. 

Der  Status  controversiae  liegt,  kurz  berichtet,  wie  folgt:  Wir  haben 
früher  alle  angenommen,  die  Tannhäusersage  sei  ein  rein  deutsches  Ge- 
bilde. An  die  Person  des  historischen  Minnesängers,  der  im  13.  Jahrh. 
dichtete,  hätte  sich  eine  Legende  geheftet  wie  an  andere  seinesgleichen 
auch:  an  Neidhart  (zu  dessen  Gruppe  der  Tannhäuser  gehört),  an  Heinrich 
von  Morungen,  Gottfried  von  Neifen,  Keinmar  von  Brennenberg.  Diese 
Legende  wäre  ebenso  zustande  gekommen  wie  insbesondere  die  um- 
fänglichste und  (neben  der  Tannhäusersage)  dauerhafteste  dieser  Dichter- 
sagen, indem  an  eine  interessante  Persönlichkeit,  die  auch  in  ihren 
Dichtungen  gern  und  viel  von  sich  sprach,  allerlei  unhistorische  Angaben 
anschössen,  teils  aus  dem  umlaufenden  Sagenvorrat  (Brennberger  und 
Herzmäre;  Möringer  und  Heimkehr  des  vermissten  Gatten),  teils  aus  den 
missverstandenen  biographischen  Angaben  der  Dichter  selbst  (wie  be- 
sonders bei  dem  von  Eiuwental;  vgl.  meinen  Aufsatz  'Die  Neidhart- 
legende', Zeitschrift  f.  d.  Alt.  31,  64;  sonst  vgl.  Allgem.  d.  Biog.  23,  396; 
Erich  Schmidts  Charakteristiken  2,  25).  Natürlich  können  auch  beide 
Formen  zusammenwirken,  wie  etwa  in  der  Sage  von  den  Sieben  Meistern 
der  Singschule,  in  gewissem  Sinn  auch  in  der  vom  Wartburgkriege.  Auf 
jeden  Fall  sahen  wir  in  der  Tannhäuserlegende  eine  zwar  besonders 
merkwürdige,  aber  keineswegs  vereinzelte  Erscheinung  innerhalb  einer 
zusammenhängenden  Bewegung,  die  an  den  Untergang  des  Minnesangs  an- 


Taunhäuser  und  die  Tannhäusersage.  .') 

knüpft  und  die  man  geradezu  die  'Dichterheldensage'  nennen  könnte.  — 
Diese  Anschauungen  fasst  z.  B.  meine  Darstellung  (AdB.  37,  385;  wieder 
abgedruckt  in  meinen  'Deutschen  Charakteren'   S.  60 f.)  zusammen. 

Sie  erschien  1894.  Drei  Jahre  später  kamen  die  allerdings  'bahn- 
brechenden Untersuchungen'  von  Gaston  Paris  und  Verner  Söderhjelm 
(vol.  Kluoe,  Bunte  Blätter  S.  28  Anm.).  Sie  wirkten  sehr  laugsam  auf  die 
deutsche  Auffassung  der  Sage  ein.  Allerdings  führte  Fr.  Kluge  (Der 
Venusberg;  Beilage  zur  Allgemeinen  Zeitung  1898,  123,  24.  März,  wieder 
abgedruckt  in  seinen  'Bunten  Blättern'  1908  S.  28 f.)  im  unmittelbaren  An- 
schluss  an  die  beiden  Romanisten  die  Untersuchung  sofort  in  einem  wichtigen 
Punkt  (Verhältnis  des  Sibyllenbergs  zum  Venusberg)  weiter,  und  Erich 
Schmidt  (Tannhäuser:  Charakteristiken  2,  24 f.  1901)  sowie  Karl 
Reuschel  (Die  Tannhäusersage.  Neue  Jahrbücher  13,  653f.  1904)  ver- 
mittelten den  heimischen  Kreisen  die  fremde  Anschauung,  wobei  sie  jedoch 
(wie  später  Ernst  Elster,  Tannhäuser  in  Geschichte,  Sage  und  Dichtung. 
Bromberg  1908)  ihr  Hauptinteresse  der  späteren  Entwicklung  zuwandten, 
wie  sie  vor  allem  durch  die  Namen  Tieck,  Heine,  Wagner  bezeichnet 
ist.  Aber  eigentlich  brennend  ward  die  Frage  erst  durch  die  verdienst- 
volle Untersuchung  von  Heinrich  Dübi  in  dieser  Zeitschrift  (17,  249f. 
1907)  und  durch  den  Vortrag  von  Fridrich  Pf  äff  auf  der  Baseler  Philologen- 
versammlung (1907.  Kurzes  Referat  in  den  Verhandlungen  der  49.  Ver- 
sammlung deutscher  Philologen  und  Schulmänner  S.  104 f.).  Die  Jahre 
1897  und  1907  können  als  kritische  Tage  der  Tannhäuserlegende  be- 
zeichnet werden.  —  Mit  zum  Teil  ganz  neuen  Ansichten  schritt  endlich 
(in  dem  angeführten  Werkchen)  Nyrop,  wie  ich  glaube,  aus  der  Bahn 
der  Forschung  heraus,  die  nach  den  Früheren  G.  Paris,  Söderhjelm, 
Kluge,  Dübi,  Pf  äff  festgelegt  haben;  bis  sich  dann  P.  S.  Barto  (Journal 
of  English  and  Germanic  Philology  9,  293)  ganz  vom  Wege  verlor. 
(Wertlos  ist  nach  Boltes  freundlicher  Mitteilung  Wattez,  De  legende 
van  T.,    Verslagen    der   k.  vlaamsche  Academie    te   Gent   1909,    S.  127f.). 

Wir  müssen  nun  Tatsachen  und  Hypothesen  unterscheiden. 

1.  Festgestellt  ist  durch  die  angeführten  Forscher: 

a)  In  Italien  gab  es  früh  die  Ortssage  von  einem  Berg  der  Sibylle. 
Von  ihm  erzählte  zuerst  (nicht,  wie  Pfaff  S.  106  meint  Pietro  Bersuire 
gest.  1362,  vgl.  Kluge  S.  32,  sondern)  Andrea  dei  Magnabotti  in  seinem 
Roman  Guerino  il  Meschino  (vgl.  Kluge  S.  46  f.,  Dübi  S.  250,  Nyrop 
S.  66f.)  und  besonders  eingehend  Antoine  de  la  Säle  (geb.  1387)  in 
seiner  Salade  „einer  Erziehungsschrift  für  Johann  von  Anjou,  den  Sohn 
des  Königs  Rene"  (vgl.  Kluge  S.  37  f.,  Dübi  S.  252  f.,  Nyrop  8.  46 f.). 
Dieser  hat  1420  seine  Forschungsreise  auf  den  Monte  della  Sibilla  gemacht 
und  1438  —  1442  sein  Werk  niedergeschrieben  (Kluge  S.  43,  Nyrop  S.  46). 
Beide  erzählen,  dass  in  der  Grotte  dieses  'Paradieses  der  Sibylle',  wie  de 
la    Säle    sagt    (Dübi   S.  253;    vgl.  Nyrop   S.  53f.),    die    Sibylle    mit    ihren 

1* 


4  Meyer: 

Frauen  in  grosser  Pracht  lebt.  Dorthin  kommt  der  Romanheld  Guerino; 
aber  durch  einige  Einsiedler  gewarnt,  lässt  er  sich  nicht  verführen  ein 
ganzes  Jahr  dort  zu  bleiben  —  dann  hätte  er  ewig  bleiben  müssen  und 
wäre  am  Jüngsten  Tage  verdammt  worden.  „Und  bald  beobachtet  er. 
wie  die  Bewohner  des  Feenreiches  sich  alle  Samstage  in  Schlangen  und 
Nattern  wandeln  und  erst  Montags  früh,  wenn  der  Papst  in  Rom  seine 
Messe  endet,  wieder  ihre  menschliche  Gestalt  annehmen'1  (Kluge  S.  48). 
Alitome  de  la  Säle  berichtet  von  einem  deutschen  Ritter,  der  eindrang; 
„man  darf  9  oder  30  oder  330  Tage  bleiben.  AVer  den  letzten  Termin 
verstreichen  lässt,  muss  ewia-  im  Berge  bleiben"  und  würde  verdammt 
werden.  „Jeden  Freitag  um  Mitternacht  werden  die  Königin  Sibylle  und 
ihre  Frauen  zu  Ottern  und  Schlangen  und  bleiben  so  24:  Stunden  lang'-. 
Am  letzten  erlaubten  Tag  entflieht  der  Ritter,  dem  seine  Dame  eine  ver- 
gette  d'or  (goldenes  Stäbchen  nach  Kluge  S.  44  und  Erich  Schmidt  S.  29, 
Ring  nach  Gaston  Paris)  mitgibt.  Er  pilgert  zum  Papst;  nach  dem  einen 
wäre  dies  Innocenz  VI.  v.  J.  1352,  nach  dem  andern  Urban  V.  v.  J.  1362 
oder  VII.  v.  J.  1377  gewesen."  Der  Papst,  obwohl  erfreut  über  die  Reue, 
verweigert,  „um  ihn  noch  mürber  zu  machen",  die  Absolution  und  jagt 
ihn  fort.  Der  Ritter,  von  seinem  Knappen  noch  verhetzt,  kehrt  ins 
Sibyllenparadies  zurück  und  meldet  dies  Hirten,  die  er  trifft  und  denen 
er  einen  Brief  an  den  Papst  mitgibt  (Dübi  S.  254 f.). 

Spätere  Zeugen  wie  Luigi  Pulci  (1488)  im  'Morgante  Maggioiv" 
und  Bernardino  Bonavoglia  erzählen  nur  allgemein  von  Besuchen  in 
der  Sibyllengrotte  (Dübi  S.  257,  vgl.  S.  57),  worauf  auch  Ariosto,  Are- 
tino  und  andere  anspielen  (ebd.  S.  258).  Von  solchen  Besuchen  zeugen 
auch  die  durch  de  la  Säle  (Dübi  S.  255,  Erich  Schmidt  S.  28,  Nyrop  S.  60) 
aufgezeichneten  Felsinschriften,  worunter  die  eines  Her  Hans  Wauban- 
burg  (Msc.)  oder  Waubranburg  (Druck).  Man  dächte  gern  an  einen 
Hans  von  Brandenburg  —  ja  wenn  Johann  der  Alchemist  (geb.  1403,  gest. 
1464;  vgl.  Hirsch,  AdB.  14,  153)  je  in  Italien  gewesen  wäre!  —  Einige 
dieser  Besucher  sollen  nicht  wiedergekehrt  sein.  In  Deutschland  wird 
die  Kunde  von  der  Sibylle  im  Berg  durch  den  Wartburgkrieg  (Ende 
13.  Jahrh.)  vorausgesetzt,  der  erwähnt,  dass  Felicia,  Sibyllen  Tochter,  mit 
Juno  und  Artus  im  hohlen  Berg  lebe  (Dübi  S.  250,  vgl.  S.  263  Anm.; 
Nyrop  S.  117,  Barto  S.  3 12  f.). 

In  keinem  dieser  Berichte  werden  Tannhäuser  oder  Frau  Venus  genannt; 
wodurch  ihre  Identität  mit  dem  deutschen  Ritter  oder  der  Sibylle  natürlich 
noch  nicht  prinzipiell  ausgeschlossen  ist. 

Eine  Bearbeitung  dieser  Sage  mit  offenbar  persönlichen  Zutaten  gibt 
Fra  Leandro  Alberti  1550  (Dübi  S.  258),  der  von  der  Grotte,  dem  schönen 
Freudenreich,  den  Abschiedsgeschenken  wie  andere  berichtet,  aber  a)  die 
Frauen  jede  Nacht  in  Schlangen  verwandelt  und  ß)  eine  Art  von 
Reminiszenz  an  das  Labyrinth  einflicht:    „Keiner  ist  gezwungen,  über  ein 


Tannhäuser  und  die  Tannhäusersage.  ."> 

Jahr  zu  bleiben,  nur  dass  jedes  'Jahr  einer  von  den  Eingetretenen  bleiben 
muss"  (ähnlich  Bersuire  beim  Pilatusberg:  Kluge  S.  32).  Schon  der  Satzr 
dass  „diejenigen,  welche  das  Königreich  betreten,  sich  zuerst  die  Lieb- 
kosungen dieser  scheusslichen  Reptile  gefallen  lassen  müssen'',  läuft  dem 
Geist  der  Sage  völlig  zuwider  und  ist  rein  märchenhaft. 

Wir  wiederholen  als  charakteristisch  die  Stichworte:  Grotte  im  Berg 
—  Sibylle  und  Paradies  —  Ritter  —  Schlaugeii  —  Erlösung  am  letzten 
Tage  der  Frist. 

1))  Gleichfalls  in  Italien,  im  Herzogtum  Spoleto  im  Gebiet  von  Norcia, 
unmittelbar  dem  Sibyllenberg  benachbart  (Kluge  S.  38),  ist  ein  sagen- 
reicher .,Berg  des  Sees  der  Königin  Sibylle"  oder  „Berg  des  Pilatus- 
sees". Von  diesem  berichtet  zuerst  jener  Benediktinermönch  Pierre 
Bersuire  (Kluge  S.  32).  Auch  diesen  Berg  hat  de  la  Säle  besucht 
(Dübi  S.  59);  später  1497  will  ihn  der  kölnische  Patrizier  Arnold 
von  Harff  besucht  haben  (Kluge  S.  35;  vgl.  Dübi  S.  60,  Nyrop  S.  60). 
Auf  ihm  treiben  Nekromanten  ihr  Wesen:  noch  Goethe  im  Faust  II 
(v.  10  439)  spielt  auf  diese  Nekromanten  von  Norcia  an  (Kluge  S.  33  Anm.). 
Hier  kann  man  mit  dem  Teufel  seinen  Pakt  schliessen,  oder  auch  schon 
früher  elend  untergehen.  Aber  mit  Tannhäuser  und  Venus  oder  Sibylle 
hat  dieser  Berg  nichts  zu  schaffen,  den  übrigens  von  Harff  in  Wirklich- 
keit so  wenig  besucht  hat  (Kluge  S.  137  Anm.)  wie  Pulci  die  Sibylle 
(Dübi  S.  252).  —  Spätere  Zeugnisse  stammen  aus  dem  17.  Jahrh.  (Del 
Rio:  Kluge  S.  51),  auch  aus  Deutschland  (1(577:    Dübi  S.  63). 

C)  Drittens  ist  aber  auch  in  Italien  ein  Venusberg  bezeugt.  Das 
wichtige  erste  Zeugnis  hat  Dübi  (S.  251)  hervorgeholt:  der  Züricher  Chor- 
herr Felix  Hemmerlin  erzählt  1497  zunächst  ebenfalls  vom  Pilatussee 
und  dem  Sibyllenberg;  fährt  aber  dann  fort:  „dieser  Berg  heisst  gemeinig- 
lich Venusberg,  weil  Venus  hier  ihr  Wesen  treibe.  In  den  Grotten  sind 
dämonische  Wesen,  Incubi  und  Succubi,  in  der  Gestalt  schöner  Weiber, 
die  von  irgend  woher  gekommene  Männer  betören.''  Ein  einfältiger  Mann 
aus  Schwyz  hat  bekannt,  in  diesen  Bergen  bei  den  unsaubern  Geistern 
ein  Jahr  in  Wollust  zugebracht  zu  haben.  Dort  war  er  in  einem  para- 
diesischen Garten  in  vollem  Jubel.  „Aber  ein  wohlmeinender  Greis  warnt 
beim  Eintritt  den  Schwyzer  und  seine  Gefährten,  nicht  über  ein  Jahr  zu 
verweilen,  sonst  müssten  sie  immer  in  dem  Berge  bleiben.  Kr  wiederholt 
die  Warnung  nach  einem  Jahre,  das  den  Erschrockenen  wie  ein  Monat 
verflossen  ist."  (Diese  doppelte  Warnung  ist  offenbar  ein  später  Zug: 
nach  Ablauf  eines  Jahres  war  der  Berggast  verloren).  —  Der  arme  .Mann 
war  sehr  zerknirscht,  weshalb  Hemmerlin  ihm  Absolution  vermittelte. 
Wahrscheinlich  war  es  aber  wohl  nur  solch  ein  'vindaere  wilder  maere' 
von  der  Art  derer,  'die  mit  den  ketenen  liegent  und  stumpfe  sinne 
triegent',  wie  Hans  Wohlgestanden,  der  151)9  in  Luzern  in  den  Turm 
gelegt  wurde,    weil    er  im  Venusberg  gewesen    sein  wollte  (Dübi   S.  260), 


0  Meyer: 

oder  die  Fahrenden,  die  sonst  damit  renommierten  wie  Herigers  propheta 
.mit  dem  Aufenthalt  im  Himmel  (vgl.  Klug«'  S.  67).  Dennoch  ist  zu  beachten. 
dass  der  Schwyzer  mit  zwei  Gefährten  aus  Alemannia  eingedrungen  sein 
will  (Dübi  S.  252).  —  Hemmerlins  Buch  ist  seit  1456  handschriftlich,  seit 
1497  allgemein  verbreitet  (ebd.),  geht  aber  auf  die  Jahre  1410  — 141:» 
zurück. 

Es  foh»t  angeblich  ein  erlauchter  Gewährsmann:  Enea  Silvio 
Piccolomini,  später  Papst  Pius  II.  (Kluge  S.  31,  Erich  Schmidt  S.  29, 
Dübi  S.  2.56,  Nyrop  S.  83).  Ein  kursächsischer  Leibarzt  hatte  angefragt, 
'an  Veneris  montem  apud  Italiam  sciret;  nam  ibi  magicas  artes  tradi." 
Aber  er  weiss  nichts  davon  und  denkt  nun  an  den  Sibyllensee  bei  Norcia. 
wo  Nekromantie  getrieben  wird.  Und  so  ist  er  eigentlich  ein  Zeuge 
gegen  den  italienischen  Yenusberg.  —  Dagegen  berichtet  der  Zürcher 
Dominikaner  Felix  Faber  in  seinem  Evagatorium  (nach  1483;  Kluge 
S.  57,  Dübi  S.  259,  Nyrop  S.  84),  nach  dem  Muster  eines  ersten  Venus- 
berges auf  Paphos  sei  unter  andern  auch  von  einem  solchen  in  Toskana 
gefabelt  worden,  „in  welchem  die  Frau  Venus  mit  Männern  und  Frauen 
den  Lüsten  fröhne".  Von  ihm  vielleicht  abhängig  erklärt  1486  Bernhard 
v.  Breitenbach,  nur  auf  Cypern  sei  die  wahre  Venusgrotte  und  der 
Venusberg,  Tuscien  habe  Venus  nie  gesehen  (Kluge  S.  134),  und  ganz 
ebenso  der  Luzerner  Junker  Melchior  Zurgilgen  noch  1519,  der  wieder 
den  hohen  Frau-Venusberg  für  Paphos  reklamiert:  „wan  da  hat  sy 
gewonet  und  das  lant  Tustraam  (lies  Tusciam)  also  genant  nie 
gesehen"  (Dübi  S.  260). 

Hemmerliu,  Breitenbach,  Zurgilgen  erwähnen  Tannhäuser  nicht,  wohl 
aber  Faber,  der  ausdrücklich  „ein  Volkslied,  das  allgemein  in  Deutsch- 
land gesungen  werde",  auf  den  italienischen  Venusberg  bezieht  und  hierbei 
den  Helden  für  einen  schwäbischen  Ritter,  Danhuser  von  Danhusen  bei 
Dünkelsbühl,  erklärt  (Dübi  S.  259).  Erst  hier  also  haben  wir  den  Anschluss 
der  italienischen  Legende  an  die  Tannhäusersage  erreicht. 

d)  Früher  als  Faber  Tannhäuser  in  den  italienischen  Venusberg 
bannt,  wird  dieser  in  Deutschland  (Dübi  S.  257;  Barto  S.  302)  ohne 
Lokalisierung  erwähnt,  ohne  Verbindung  mit  Taunhäuser  schon  1357,  in 
Verbindung  mit  ihm  zuerst  1453  in  der  'Mörin'  Hermanns  von  Sachsen  - 
heim  (vgl.  Nyrop  S.  13),  wo  'der  Tanhuser  uss  Frankenlant'  als  Gemahl 
der  Königin  Venus  im  Paradies  des  verzauberten  Berges  lebt  und  dir 
treue  Eckhart,  „der  eigentlich  die  Treue  verteidigen  sollte,  die  Untreue 
verteidigt"  (\V.  Menzel,  Deutsche  Dichtung  1,  379).  Die  Lokalisieruni: 
fehlt  gleichfalls  (Dübi;  Barto  S.  305)  in  dem  Meisterlied  von  Tannhäuser, 
„wo  dieser  seine  Reue  darüber  ausspricht,  dass  er  in  den  Venusberg  ge- 
gangen sei,  und  erzählt,  der  Papst  Urban  IV.  habe  ihm  die  Absolution 
verweigert,  er  hoffe  aber  auf  die  Gnade  Gottes."  Das  Meisterlied  hat 
(ioedeke  ins  15.  Jahrh.  verlegt;    Bolte    hält  dies    aber    (nach  freundlicher 


Tannhäuser  und  die  Taiuihäusersage.  7 

Mitteilung-)  für  irrig.    „Dasselbe  Lied  'Frau  Venusin  wie  hastu  mich'  steht 
nämlich  in  einer  anderen  Meisterliederhs.  des  17.  Jahrh.  mit  dem  Datum  1541.' 
d.  26.  Mai    (Nürnberger  Stadtbibl.  Will  III,    782  fol.    S.  1128:    'Der  Dan- 
häusser  im  Yenusberg.    Im  langen  Ton  Bangratz  Danhäusers'),  leider  ohne 
Verfassernamen.   Dass  es  aber  nicht  von  Haus  Sachs  herrühren  kann,  zeigt 
das  alphabetische  Register  im  letzten  Bande  von  Keller-Goetzes  Ausgabe. 
Man  darf  also  nicht  mit  Goedeke   das  Meisterlied  als  ein  Zeugnis  für  ein 
frühes  Stadium  der  Tannhäusersage  ansehen,  sondern  für  eine   Schöpfung 
des  16.  Jahrh.,    die    das  Volkslied    iu  ähnlicher  Weise    ausnutzt    wie    der 
Dialog  bei  Keller."     Dieser  Dialog  „der  Tanhauser  der  gibt  eyn  gut  1er" 
(Fastnachtspiele,    Nachlese  1858,    S.  47),    auf   den    mich  Bolte    freundlich 
aufmerksam  machte,  hat  zum  Gegenüber  Tannhäusers  nicht  Venus,  sondern 
Frau  Welt.     „Venus  erscheint  gesellt    mit  Welt    und  Asterot  wie    in  der 
bekannten    mittelalterlichen  Trias  Mundus,    Caro,    Daemonia    (R.  Köhler, 
Kl.  Schriften  2,  141),    und    die  Hervorhebung    der    hier    allein   das  Wort 
führenden  Welt  entspricht  nicht  bloss  der  von  Wirnt  von  Gravenberg  ge- 
schilderten  Gestalt  der  Frau  Welt,    sondern  noch  mehr  den  dramatischen 
Dichtungen    (Zs.    f.  d.  Phil.  21,  479f.),    in    denen    nicht    Venus,    sondern 
(Herr    oder    Frau)    Mundus    als  Wirt    in    dem    verderblichen    Hause    der 
irdischen    Lüste    erscheint;    in    dem    'Irdischen    Pilger    des    Joh.    Heros 
(1562)  tritt  Venus  als  eine  Tochter  der  Welt  auf,    und  der  Held  ist  eine 
Art  Tannhäuser". 

So  sicher  hier  auch  Bolte  den  späten  Ursprung  der  beiden  Gedichte 
nachweist,  gute  Tradition  möchte  ich  doch  nicht  ganz  in  Abrede  stellen. 
Das  Gedicht  'Tanhauser  und  die  Welt1  besitzt  nicht  nur  auffallend  alter- 
tümliche Formeln  (v.  20:  'das  hat  mich  in  ein  traueren  bracht':  Minnesangs 
Frühling  35,  22),  sondern  die  Situation  selbst,  Tannhäusers  Abschied  von 
der  Welt  (bes.  v.  21  f.)  •  scheint  noch  eine  Erinnerung  an  die  eigentliche 
Wurzel  der  historischen  Tannhäusersage  (nach  unserer  Auffassung),  an 
das  Busslied  des  Minnesängers  zu  bewahren.  (Eine  direkte  Bezugnahme 
auf  das  ihm  zugeschriebene  Lied  der  Weltflucht,  v.  d.  Hagens  Minne- 
singer 3,  48,  ist  selbstverständlich  nicht  vorhanden.)  —  Ebenso  könnte  in 
dem  Meisterlied  der  Hinweis  auf  die  Tafelfreuden  (v.  15  auch  find  man  da 
nach  luste  freudenreiche  den  lust  in  aller  speis  gemein)  einen  Nachklang 
an  des  Sängers  Freudenliste  (MSH.  2,  96;  XIV  Str.  3)  enthalten;  freilich 
ist  auch  im  Sibyllenberg  des  Wartburgkrieges  für  reichliche  Bewirtung 
iresoro-t.  Im  übrigen  enthält  die  Schilderung  der  Freuden  in  beiden  Ge- 
dichten  nur  formelhafte  Züge  (Ähnlichkeiten  in  der  Blumenpracht  Tann- 
häuser und  Welt  v.  14:  MSH.  2,  84;  III  Str.  3)  sind  zufällig.  Aber 
immerhin  stehen  auch  sie  noch  in  der  Tradition;  und  dass  der  Venusberg 
noch  nicht  lokalisiert  ist  (Tannhäuser  und  Welt  v.  27;  vgl.  im  Meisterlie.l 
v.  10  „im  Yenusberg")  spricht  besonders  für  eine  ältere  Vorlage  des 
Dialogs.      Ebenso    mangelt    die  Annahme    eines  bestimmten  Yenusberg'- 


8  Meyer: 

dem  Volksliede    (Nachträge    bei    Erich  Schmidt    S.  31  f.),    um    1515    auf- 
gezeichnet. 

e)  Später  finden  sich  dagegen  in  Deutschland  verschiedene  Venus- 
berge (Elster  S.  7,  Pfaff  S.  105);  zu  Uffhausen  bei  Baden  soll  die  Sage 
noch  fortleben  (Dübi  S.  26;  vgl.  Pfaff  S.  109).  Dagegen  ist  der  Hörsel- 
berg wahrscheinlich  erst  später  in  die  Tannhäusersage  gebracht  worden 
(Xyrop  S.  115 f.;  vgl.  S.  99,  Elster  S.  7). 

Zwei  besondere  Bestandteile  der  Sage  müssen  noch  eigens  betrachtet 
werden:    der  treue  Eckart  und  der  Stab. 

f)  Eckart  (vgl.  Erich  Schmidt  S.  30,  Kluge  S.  54  und  bes.  S.  45, 
Elster  S.  10)  wird  zuerst  von  Hermann  v.  Sachsenheim  ausdrücklich 
genannt,  später  auch  von  Hans  Sachs.  Im  Volkslied  bezieht  man  auf  ihn 
(Kluge  S.  45  Anm.)  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  den  Vers  15,  4  (bei 
Unland,  Volkslieder  Nr.  297  a). 

Danhauser,  ir  sölt  urlob  hau, 
mein  lob  das  sölt  ir  preisen, 
und  wa  ir  in  dem  land  um  fart, 
nemt  urlob  von  dem  greisen! 


&x 


oder  noch  deutlicher  in  der  Fassung  von   1550  (ebd.   Xr.  297  b,  16,  2): 

Danhuser,  gi  wilt  orlof  haen, 
nemet  orlof  van  dem  grisen! 
wor  gi  in  den  landen  varen, 
unse  loff  dat  schölle  gi  prisen. 

Immerhin  ist  die  Beziehung  nicht  sicher,  und  die  Verschiebung  liesse 
die  Frage  offen,  ob  nicht  erst  die  spätere  Interpretation  aus  dem  Greisen 
in  die  Welt  draussen  den  im  Berg  gemacht  hat.  An  eine  allgemeine 
W'eisheitsregel  wie  Parzival  127,  21  wird  man  ja  nicht  denken,  wo  dem 
in  der  Welt  fahrenden  jungen  Ritter  Ehrfurcht  vor  den  Greisen,  die  er 
draussen  treffen  wird,  anempfohlen  wird.  Wohl  aber  könnte  ursprünglich 
der  Papst  gemeint  sein,  auf  den  ja  in  der  nächsten  Strophe  Tannhäuser 
seine  Hoffnung  setzt.  Der  ursprüngliche  Sinn  von  Str.  15  wäre  dann: 
„Ich  verabschiede  euch,  Tannhäuser,  damit  ihr  mein  Lob  verkündet,  wo 
ihr  auch  in  der  Welt  umherfahrt,  und  von  dem  Greis  draussen  (Euphe- 
mismus) euch  wieder  verabschiedet."  Oder  es  könnte  an  einen  Begleiter 
Tannhäusers  gedacht  werden,  wie  denn  de  la  Säle  (vgl.  Dübi  S.  254)  von 
einem  Knappen  des  Ritters  erzählt,  der  im  Berg  zurückbleiben  möchte. 
Ich  gebe  aber  gern  zu,  dass  die  Beziehung  auf  den  WTarner  im  Berg,  von 
dessen  Warnen  wir  freilich  nichts  erfahren,  viel  ungezwungener  ist.  Aber 
dass  es  der  getreue  Eckart  sei,  wird  jedenfalls  nicht  gesagt;  so  wenig 
wie  der  Wilde  Alexander  in  seiner  schönen  Elegie  den  Namen  des  war- 
neiiden  waltwisen  (MSH.  3,  30b  Lied  5,  Str.  3)  nennt.  [Vgl.  auch 
Wickram,  Werke  5,  XLVIIIf.]  —  Die  Eremiten,  die  den  Guerino  warnen 


Tannhäuser  und  die  Tannhäusersage.  9 

(Kluge  S.  46,  Dübi  S.  250,  Nyrop  S.  67),  dürfen  eben  ihrer  Mehrzahl 
wegen  mit  dem  Eckart  der  deutschen  Sage  nicht  gleichgesetzt  werden. 

g)  Der  grünende  Stab  (vgl.  Erich  Schmidt  S.  34,  Elster  S.  8,  Pfaft 
S.  107)  fehlt  bei  de  la  Säle  (Kluge  S.  43)  und  kann  mit  der  goldenen  ver- 
gette  vielleicht  (ebd.  S.  44)  verknüpft,  jedenfalls  nicht  identifiziert  wrerden. 
Für  die  deutsche  Tannhäusersage  ist  er  zum  besondern  Kennzeichen  ge- 
worden, während  er  allen  italienischen  oder  auf  Italien  bezüglichen  Be- 
richten mangelt.  (Dass  er  dem  Meisterlied  fehlen  muss,  ist  etwas  ganz 
anderes;  vgl.  u.  S.  27). 

Diese  sieben  Tatsachenbündel  enthalten,  soviel  ich  sehe,  alle  lite- 
rarischen Fakta,  die  bis  jetzt  zur  Entwicklung  der  Tannhäusersage  vor- 
gebracht sind.  Zur  bequemeren  Übersicht  lasse  ich  noch  ein  chronologisches 
Verzeichnis  der  Belege  folgen,  wobei  ich  von  den  späten  und  unzweifel- 
haft „gelehrten"  Aussagen  des  17.  Jahrh.  (vgl.  Kluge  S.  51,  Dübi  S.  63) 
ebenso  absehe  wie  natürlich  von  den  dichterischen  Bearbeitungen  im 
19.  Jahrh.  (vgl.  Nyrop  S.  40  Anm.). 

1.  Tannhäuser  lebt  etwa  1268.  9.  Tannhäuser  und  die  Welt? 

2.  Wartburgkrieg,  Ende  des  13.  Jahrh.      10.  Felix  Paber  1480—83. 

3.  Pietro  Bersuire,  gest.  1362.  11.  Bernhard  v.  Breitenbach  i486. 

4.  Guerino  il  Meschino  1391.  12.  Luigi  Pulci  14H8. 

5.  Pelix  Hemmerlin  1410—13.  13.  Arnold  v.  Harff  1497. 

6.  Antoine  de  la  Säle  1438—42.  14.  Tannhäuserlied  1515. 

7.  Die  Mörin  1453.  15.  Zurgilgen  1519. 

8.  Vorlage  des  Meisterliedes  von  16.  Alberti  1550. 
Tannhäuser?  17.  Wohleestanden  1599. 


■.-' 


Das  •Xichtzeucmis'  des  Enea  Silvio  fällt  ins  Jahr  1431. 

2.  Wir  kommen  zu  den  Vermutungen,  die  man  an  diese  Berichte  und 
Tatsachen  geknüpft  hat.     Es  sind  zwei  Hauptgruppen  zu  scheiden. 

a)  An  dem  deutschen  Ursprung  halten  insbesondere  Erich  Schmidt 
(S.  30)  uud  Elster  (S.  7)  fest.  Erich  Schmidt  „vermutet  trotz  G.  Paris 
mit  Söderhjelm  und  Kluge  Lokalisierung  der  vorhandenen  Tannhäuser- 
sage durch  deutsche-  Reisende,  nicht  Verpflanzung  aus  Italien".  Doch  ist 
sein  Standpunkt  mit  dem  Kluges  nicht  identisch: 

a)  Erich  Schmidt  und  Elster  halten  sowohl  die  Tannhäuser  sage  als 
auch  den  Venusberg  für  autochthon. 

ß)  Kluge  hält  die  Tannhäusersage  für  alt,  den  Venusberg  aber  (vgl. 
S.  50)  für  Entlehnung;  ähnlich,  wie  es  scheint,  Pfaff  (S.  106f ). 

b)  Dagegen  halten  Dübi  und  Nyrop  die  gesamte  Sage  für  gelehrtes 
Lehngut,  doch  wieder  mit  verschiedenen  Nuancen: 

n)  Dübi  meint,  dass  die  Tannhäusersage  aus  Italien  durch  die  Schweiz 
nach  Deutschland  gewandert  sei  (S.  264)  unter  Anknüpfung  an  den  in 
der  Schweiz  vorkommenden  (Luzernischen)  (ieschlechtsnamen  Tannhuser 
(S.  261). 


10  Meyer: 

ß)  Nyrop  glaubt  an  dieselbe  Wanderung-,  hält  jedoch  den  Namen 
Tannhäuser  für  einen  rein  äusserlichen  Zufall  (S.  76).  Übrigens  sucht  er 
über  Italien  noch  weiter  nach  Frankreich  und  zu  der  keltischen  Sage 
zurückzugehen  (S.  91:  „für  mich  steht  das  über  allem  Zweifel"  S.  99), 
worauf  wir  hier  nicht  einzugehen  haben. 

y)  Nur  anhangsweise  erwähne  ich  die  dritte  Nuance:  Barto  (bes. 
S.  31 8 f.)  leitet  die  gesamte  Tannhäusersage  in  der  willkürlichsten  Weise 
von  der  Grallegende  ab,  eigentlich  nur,  wreil  auch  in  dieser  (wie  so  oft 
sonst)  die  Bergentrückung  vorkommt:  nach  Dietrich  von  Niem  (1410)  ist 
nahe  bei  Puteoli  (im  Neapolitanischen)  ein  Berg  der  hl.  Barbara  zu  sehen, 
'quem  delusi  multi  Alemani  in  vulgari  appellant  der  Gral,  asserentes, 
pro u t  etiam  in  illis  regionibus  plerique  autumant,  quod  in  illo  multi  sunt 
homines  vivi  et  victuri  usque  ad  diem  iudicii,  qui  tripudiis  et  deliciis 
sunt  dediti,  et  ludibriis  diabolicis  perpetuo  irretiti'.  Barto  selbst  nimmt 
(S.  316)  Vermischung  von  Yenus-  und  Gralberg  an  und  behauptet  (wie 
wir)  mit  ganz  guten  Gründen  gegen  Kluge  (S.  307)  den  deutschen  Ursprung 
der  Sage  (S.  310).  Seine  Nachweise  des  Zusammenfliessens  von  Arthur 
und  Tannhäusersage  etwa  bei  Fischart  (S.  319)  bringen  nichts  Neues,  da 
diese  Tatsache  ja  längst  durch  den  Wartburgkrieg  (vgl.  Barto  S.  312) 
bezeugt  ist.  Ein  Versuch,  das  Eindringen  Tannhäusers  in  den  Venusberg 
oder  das  Aufkommen  des  Namens  Venusberg  überhaupt  zu  erklären,  wird 
nicht  gemacht.  Es  bleibt  also  von  Bartos  Behauptungen  nichts  übrig  als 
die  Möglichkeit,  dass  Arthurs  Entrückung  in  den  Berg  auf  die  italienischen 
Sagen  Einfluss  ausgeübt  haben  kann:  denn  für  diese  ist  das  lustige  Treiben 
einer  Masse  bezeichnend,  für  die  deutsche  Tannhäusersage  der  Aufenthalt 
des  einzelnen  Ritters  in  Venus'  Armen.  Somit  dürfen  wir  von  Barto  ab- 
sehen und  uns  auf  jene  vier  Hypothesen  (Ericli  Schmidt-Elster,  Kluge- 
Pfaff,  Dübi,  Nyrop)  beschränken. 

Es  ergeben  sich  somit  zwei  Hauptfragen:  1.  Geht  unsere  Tannhäuser- 
sage auf  die  Person  des  Dichters  zurück?  2.  Ist  der  Venusberg  deutschen 
oiler  italienischen  Ursprungs? 

1.  Tannhäusersage. 

Es  ist  noch  die  Vorfrage  zu  beantworten,  welche  Bestandteile  denn 
die  Tannhäusersage  ausmachen?  Hierauf  antwortet  Pfaff  (S.  105):*  drei 
Grundstoffe:  Erlebnisse  des  Tannhäuser,  Sage  vom  Venusberg,  Legende 
vom  Stabwunder.  Allein  diese  Fassung,  obwohl  sie  das  Richtige  meint, 
setzt  doch  bereits  voraus,  dass  biographische  (oder  pseudobiographische) 
Motive  aus  dem  Leben  des  Dichters  verarbeitet  sind;  wir  müssen  deshalb 
anders  formulieren.  —  Die  Tannhäusersage  ist  nach  dem  allgemeinen 
Urteile  vor  allem  in  dem  Volkslied  enthalten.  Auf  dies  gehen  eben- 
sowohl die  späteren  Ortssagen  wie  die  neuere  Dichtung  zurück;  und 
schon    Felix   Faber  bezieht    die  Sage    auf    das  Lied.      Für   dessen  Inhalt 


Tannhäuser  und  die  Tannliäusersage.  1  1 

nun  sind  drei  Motive  wesentlich:  die  Erlebnisse  des  Ritters,  der  Venus- 
berg, das  Wunder  des  grünenden  Stabs.  Dies  letztere  vor  allem  gibt, 
mit  Paul  Heyse  zu  reden,  der  Lovelle'  ihren  'Falken*:  wie  der  dürre 
Srab  ausschlägt,  während  der  reuige  Sünder  schon  wieder,  Verstössen,  in 
das  Sündenparadies  zurückgekehrt  ist. 

Hino-eo-en  dürfen  wir  den  «-etreuen  Warner  nicht  als  gleich  wesentlich 
ansehen:  er  ist  nur  für  die  Frage  der  Filiation  unserer  Berichte  wichtig. 
Aber  er  ist  in  dem  Lied  nur  eben  angedeutet  und  hat  übrigens  auch  bei 
den  späteren  Dichtern,  die  wir  als  Interpreten  der  Legende  nicht  gering 
schätzen  dürfen,  keine  besondere  Bedeutung  errungen.  Auch  ist  zu  be- 
denken, dass  die  Figur  lange  schwankt:  Hemmerlins  zweimalige  Warnung 
ist  so  sonderbar  wie  die  Mehrzahl  der  warnenden  Einsiedler  bei  de  la  Säle; 
der  Name  taucht  spät  auf  und  ist  nicht  auf  die  Tannhäusersage  beschränkt. 

Ebensowenig  dürfen  wir  die  antipäpstliche  Tendenz  des  Liedes 
(Erich  Schmidt  S.  83,  R.  M.  Meyer  S.  387)  für  einen  integrierenden  Be- 
standteil erklären,  mag  sie  auch  alt  sein  (Kluge  S.  46);  noch  weniger 
werden  wir  sie  freilich  mit  Pfaff  (S.  106)  durch  den  Mythus  vom  ver- 
derblichen Anblick  des  Heiligen  wegerklären  wollen. 

Es  bleibt  also  die  Formel:  ein  Ritter  weilt  unter  Freuden  im  Venus- 
berg; ihn  packt  die  Reue;  er  zieht  zum  Papst,  der  die  Absolution  ver- 
weigert, weil  sein  Verbrechen  so  wenig  zu  sühnen  sei,  wie  der  dürre 
>tab  in  der  Hand  des  Stellvertreters  Christi  wieder  blühen  könne.  Der 
Ritter  kehrt  in  den  Berg  zurück,  und  zu  spät  zeugt  die  blühende  Gerte 
für  Gottes  Milde. 

Diese  Formel  passt  unverändert  auf  das  Volkslied;  mit  leisen  Modi- 
fikationen auf  de  la  Sales  deutschen  Ritter  (Dübi  S.  254;  vgl.  Nyrop  S.  65). 
Hier  sind  allerlei  Erweiterungen  vorhanden:  der  Knappe;  die  Bedingung 
einer  bestimmten  Frist  (auch  bei  Guerino,  ebd.  S.  250);  die  Verwandlung 
in  Schlangen;  der  goldene  Talisman;  endlich  des  Papstes  Absicht,  den  Ritter 
zu  absolvieren.  Diesen  letzteren  Zug  hat  man  wohl  unzweifelhaft  so  auf- 
zufassen, wie  er  von  den  Forschern  aufgefasst  worden  ist:  als  einen  (unge- 
schickten) Versuch,  den  Papst  zu  exkulpieren.  Die  antipäpstliche  Tendenz 
wird  vorausgesetzt,  denn  ohne  ihr  Vorhandensein  wäre  dieser  ganze  Intrigen- 
roman von  der  missglückten  Absicht  des  Papstes,  der  Intervention  des  Kar- 
dinals, der  betrügerischen  List  des  Knappen;  der  Begegnung  mit  den  Hirten 
und  dem  Brief  an  den  Stadthauptmann  von  Monte  Monaco  überflüssig;  aber 
sie  soll  beseitigt  werden.  —  Auch  die  andern  Züge  widerstreiten  dem 
Inhalt  des  Volksliedes  nicht;  es  sind  nur  eben  epische  Zusätze  zur  Ballade. 
Der  Ritter  ohne  Knappen  erscheint  nicht  mehr  denkbar;  der  Abscheu  des 
frommen  Verfassers  vor  der  Verführung  muss  so  stark  wie  in  Wirnt 
von  Gravenbergs  Bild  der  Frau  Welt  akzentuiert  werden;  die  Frist  als  Ersatz 
der  seelischen  Regung  könnte  sogar  leicht  ursprünglicher  sein  als  diese 
(vgl.  auch  Meisterlied  II  v.  1  f.).      Es    verbleiben    also    nur  zwei,    wie    es 


12  Meyer: 

scheint,  unwesentliche  Differenzen:  der  Name  des  deutschen  Ritters  bleibt 
ungenannt,  und  statt  Frau  Yenus  treffen  wir  die  Sibylle.  —  Wir  können  daher 
an  einem  Zusammenhang-  zwischen  dieser  Erzählung  und  dem  Tannhäuser- 
lied allerdings  nicht  zweifeln.  Aber  auf  eine  Vergleichung  dieser 
beiden  Berichte  hat  sich  die  Sagenkritik  auch  fast  aus- 
schliesslich  zu  stützen.     Denn 

1.  Alberti  (Dübi  S.  258)  gibt  den  gleichen  Bericht,  mit  einigen 
geringen  Modifikationen  (oben  S.  12),  wenn  auch  Nyrop  S.  70  diesen  Bericht 
für  'ganz  unabhängig'  erklärt! 

2.  Hemmerlins  (Dübi  S.  251)  Gewährsmann  setzt  ebensolche  Be- 
richte voraus  und  scheint  durchaus  abgeleitet. 

3)  Andrea  daBarberino  oder  dei  Magnabotti  gibt  ein  absichtliches 
Gegenstück  „zu  einem  Helden,  der  in  den  Freuden  des  unterirdischen 
Paradieses  aufgeht  und  schliesslich  dafür  die  ewige  Seligkeit  verwirkt" 
(Kluge  S.  48;  ebenso  Nyrop  S.  69;  vgl.  Dübi  S.  251). 

Man  darf  also  nicht  mit  der  Masse  der  auf  Italien  weisenden  Berichte 
operieren;  wir  kennen  vielmehr  nur  eine  Version  der  italienischen  Tann- 
häusersaae,  die  bei  de  la  Säle  ziemlich  rein,  bei  Alberti  und  Hemmerlin 
wenig  modifiziert,  im  Guerino  wie  in  Spiegelschrift  geschrieben  vorliegt. 
Die  übrigen  Berichte  aber,  der  Vers  des  Wartburgkriegs,  die  Mörin,  Arnold 
v.  Harffusw.  kommen  wohl  für  den  Ursprung  des  Venusbergs  in  Betracht, 
nicht  aber  für  die  Tannhäusersage  als  solche.  Im  wesentlichen  ist  also  aus 
de  la  Säle  (und  Andrea)  einerseits,  dem  Volkslied  andererseits  die  Frage 
zu  beantworten,  ob  der  Ritter  von  vornherein  „Tannhäuser"   ist. 

„Von  vornherein"  —   aber  auch  hier  ist  auf  diesem  Pfad,  wo  überall 
sagenvergleicherische    Fussangeln    liegen,    eine    Verwahrung    nötig.      Y\  tr 
sprechen  nur  von  der  Tannhäusersage  als  solcher,   wie  unsere  Formel  sie 
in  nuce  enthält.     Nicht  einzugehen  ist    auf  ihre  Vorgeschichte.     Da  kann 
man    über  Nyrops    lai  au  Guingamor    (S.  94—108)    und    dessen   keltische 
Quellen  (S.  99)  noch  weit  zurückgehen,  wie  der  dänische  Forscher  (S.  103) 
auch  selbst  andeutet.     Das  Motiv  des  in   seliger  Gefangenschaft   sich  ver- 
liegenden Helden  ist  uralt.     Böhme    (Altdeutsches  Liederbuch  S.  84)  er- 
innert  gut  an  Odysseus  bei  Kalypso;  aber  in  der  Odyssee  selbst  wird  das 
gleiche  Motiv  bei  den  Lotophagen    noch  einmal   gestreift.     Wir  finden  es 
in    der  heroischen  Novellistik    als  Sieg    der   Zauberin    über    den  Helden: 
Herakles    bei    Omphale,    Ingjald    bei    der    Sachsenprinzess,    Rinaldo    bei 
Armiden;  es  mag  auch  in  der  Überlistimg  <\<>s  Zeus  durch  die  mit  Aphro- 
ditens  Gürtel  ausgerüstete  Hera  mitklingen.       In  anderer   Gestalt   liegt  es 
in  der  Verzauberung  des  Ritters  vor,  der  ins  Elfenland   gerät,    und  so  in 
manchen  Volksliedern,  die  Unland    (Schriften  4,  263 f.)    dem  Tannhäuser- 
lied angenähert  hat.     Aber  eben:    dies  sind  uralte  Sagenschemata,    die  in 
die  Tannhäusersage  als  Elemente  eingegangen  sind:   genau  wie  das  Motiv 
der    blühenden    (ierte.      Wo    also    die    „Verzauberung    in    den    Berg    der 


Tannhiiuser  und  die  Tannhäuseisage.  13 

Wonne"  oder  das  Stabwunder  isoliert  oder  auch  in  anderer  Verbindung- 
vorliegen, da  haben  wir  die  Tannhäusersage  nicht.  Unsere  Frage  meint 
also  nur:  Ist  in  der  Erzählung  von  dem  Ritter  im  Berg  der  Wonne,  der 
zum  Papst  vergeblich  pilgert,  aber  dem  Gott  das  Zeichen  seiner  Gnade 
mit  der  blühenden  Gerte  gibt,  ist  in  dieser  Erzählung  der  Ritter  von 
vornherein  Tannhäuser,  oder  ist  sie  erst  später  (sei  es  auf  den  Dichter,  sei 
es  auf  einen  andern,  z.  B.  schweizerischen)  Tannhäuser  übertragen  worden? 

Dass  der  Dichter  des  13.  Jahrb.  gemeint  sei,  nehmen  die  meisten 
Forscher  als  selbstverständlich  an;  so  Erich  Schmidt  (S.  26),  Elster 
(S.  3.  9),  Pfaff  (S.  108);  selbst  Nyrop  scheint  (S.  lf.)  ursprünglich  von 
dieser  Anschauuni;'  ausgegangen  zu  sein.  Mit  dieser  Annahme  ist  aber, 
wie  mir  scheint  (obwohl  Pfaff  diese  Folgerung  nicht  sieht),  über  den 
Ursprung  entschieden;  denn  von  dem  Minnesinger  wusste  man  nach  einem 
Jahrhundert,  wenn  er  eben  nicht  in  die  Volkssage  übergegangen  war, 
gewiss  nicht  genus;,  um  eine  um  13!)  1  (wo  Andrea  die  wahrscheinlich 
frisch  auftretende  Sage  parodiert)  oder  jedenfalls  nicht  lauge  vor  1350 
entstandene  fremde  Sage  auf  ihn  zu  übertragen.  (Selbst  Nyrop  S.  66 
setzt  die  italienische  Legende  nicht  früher  an).  Wenn  der  Minnesinger 
der  Träger  der  Fabel  ist,  dann,  scheint  mir,  ist  ihr  deutscher  Ursprung 
sicher  —  wenn  auch  damit  noch  keineswegs  der  einheimische  Ursprung 
des  'Venusbergs'. 

Was  spricht  nun  für  und  was  gegen  die  Identität  des  Sagenhelden 
mit  dem  Minnesinger? 

a)  Für  die  Identität  glaube  ich  in  meinem  Aufsatz  in  der  Allgem. 
deutschen  Biographie  (37,  387)  starke,  ja  durchschlagende  Gründe  ange- 
führt zu  haben.  Freilich  ist  diese  Arbeit  nirgends  beachtet  worden,  auch 
nicht  von  Nyrop,  der  doch  bei  seiner  radikalen  Ansicht  am  sorgfältigsten 
die  Gegengründe  hätte  prüfen  sollen.  Aber  wäre  er  ein  Deutscher,  hätte 
er  diese  literarische  'Walhalla1  wahrscheinlich  auch  nicht  aufgesucht,  die 
ebenso  berühmt  ist  und  ebenso  sehr  aus  dem  Weg  gelegen  scheint  wie 
die  bei  Regensburg! 

Dass  das  Nebeneinander  von  sehr  lockeren,  epikureischen  Liedern 
und  einem  (echten  oder  unechten)  Busslied  vortrefflich  (besonders  auch  zu 
dem  Dialoggedicht,  siehe  oben  S.  7)  stimmt,  ist  oft  hervorgehoben  worden, 
am  schönsten  von  Erich  Schmidt  (S.  28):  „So  erscheint  er  als  romantischer 
Herkules  auf  dem  Scheideweg  zwischen  niederer  und  hoher,  höllischer 
und  göttlicher  Minne,  zwischen  der  heidnischen  Buhle,  die  allen  sünd- 
haften Reiz,  und  der  [im  Liede  augerufenen]  christlichen  Himmelskönigin, 
die  alle  sühnende  Reinheit  und  emporflügelnde  Heiligkeit  des  Ewig- 
Weiblichen  verkörpert." 

Aber  dieser  Gegensatz  war  immerhin  auch  bei  Neidhart  vorhanden; 
nur  dass  bei  diesem  die  bäurische  Minne  eine  bestimmte  Entwicklungs- 
tendenz der  Sage  vorzeichnete.   Beim  Tannhäuser  gehen  die  Berührungen 


] 4  M eyer : 

mit  unserm  Sagenhelden  weit  über  dies  —  an  sieh  entscheidende  — 
Grundmotiv  hinaus.  Er  hat  mit  der  beliebten  Formel  der  'unmöglichen 
Frist'  gern  gespielt:  die  Dame  will  den  Ritter  erhören,  wenn  er  den 
Apfel  des  Paris  bringt,  oder  den  Gral  (vgl.  Elster  S.  4).  Er  erzählt  von 
seinen  Abenteuern  im  Walde;  er  erwähnt  den  Apfel  der  Venus. 

Ferner:  das  Lied  nennt  Urban  IV.,  der  tatsächlich  1261 — 1264  re- 
gierte und  keineswegs  so  berühmt  war,  um  hinein  erfunden  zu  werden. 
Dass  de  la  Säle  andere,  spätere  Päpste  nennt,  entkräftigt  natürlich  nicht  das 
Argument,  wenn  das  Volkslied  Urban  IV.  nenne,  müsse  es  bald  nach 
Tannhäusers  Zeit  entstanden  sein  (so  z.  B.  Erich  Schmidt).  Nur  Nyrop 
hat  (S.  76)  mit  recht  seltsamer  Logik  diese  Folgerung  zu  erschüttern,  ja 
ganz  zu  leugnen  gesucht.  Erst  meint  er  allgemein,  solche  Angaben  seien 
oft  ganz  zufällig  oder  willkürlich.  Aber  wenn  sie  gut  stimmen,  ist  doch 
einfacher  anzunehmen,  sie  seien  motiviert!  Oder  soll  mit  dem  'Prinz 
Eugen*  vor  Belgrad  nur  gerade  der  von  Savoyen  nicht  gemeint  sein?  Ja, 
es  stimmt  aber  auch  nicht,  fährt  Nyrop  fort;  denn  Tannhäuser  ist  um  1205 
geboren  und  wäre  also  1261  —  1269  zu  alt  gewesen,  um  vom  Venusberg 
nach  Rom  zu  pilgern:  „unzweifelhaft  würde  das  Abenteuer  zu  einem  be- 
deutend jüngeren  Mann  besser  passen".  Das  heisst  denn  doch  recht  vor- 
urteilsvoll im  ersten  Satz  Willkür  zulassen  und  im  zweiten  Pedanterie 
fordern.  Tatsächlich  liegt  doch  aber  die  Sache  sehr  einfach.  Der  Dichter 
ist  um  1268  gestorben,  und  die  Sage  ist.  natürlich  nicht  vor  seinem  Ver- 
schwinden entstanden,  aber  in  einer  Periode,  in  der  man  sich  des  Papstes 
noch  erinnerte,  der  zu  seiner  Zeit  gelebt  hatte  —  während  Urbans 
Reo-ierungszeit  hätte  man  das  Lied  kaum  mit  seiner  Verdammnis  zu 
schliessen  gewagt.  Möglich  ist  ia  auch,  dass  Tannhäuser  selbst  einmal 
den  Namen  des  Papstes  erwähnt  hat;  lieben  doch  die  Fahrenden  mit 
Fürstennamen  zu  prunken. 

Statt  einer  so  einfachen  Erklärung  meint  Nyrop,  der  Name  Urbans 
habe  sich  'schon'  in  Italien  mit  der  Sage  verbunden,  und  'zufällig  sei  in 
Deutschland  aus  de  la  Sales  Urban  V.  oder  VII.  Urban  IV.  geworden  (S.  77). 
Der  Zufall  ist,  wie  bei  der  Erklärung  des  Namens  Tannhäuser  (S.  76), 
eine  recht  gewaltsame  Erklärung.  Warum  sollte  das  Lied  nicht  einen 
jener  beiden  Urbane  beibehalten,  warum  überhaupt  einen  genannt  haben? 
Wogegen  es  sich  leicht  begreift,  dass  de  la  Säle  den  Namen  auf  einen  ihm 
zeitlich  näher  stehenden  Urban  umdeutete,  neben  denen  er  ja  in  seiner 
Vorsicht  noch  einen  Innocenz  nennt.  Auf  den  alten  gleich  gewaltsamen 
Versuch,  den  Namen  'Urban'  als  den  des  'Stadtmenschen*  aus  dem  Gegen- 
satz zu  dem  Waldbewohner  'Tannhäuser'  abzuleiten  (und  warum  dann 
l  rban  der  Vierte?)  brauche  ich  nicht  einzugehen. 

Weiter:  Sagen  über  Minnesinger  sind,  wie  schon  erwähnt,  so  zahl- 
reich vorhanden,  dass  auch  unter  diesem  Gesichtspunkt  die  herkömmliche 
Auffassung  eine  grosse  Wahrscheinlichkeit  besitzt. 


Tannhäuser  und  die  Tannhäusersage.  15 

Endlich:  die  fremden  Berichte  sprechen  durchweg  von  einem  Deutschen 
im  Venusberg;  so  de  la  Säle,  der  seine  Tannhäusergeschichte  von  einem 
deutschen  Kitter  erzählt,  nachdem  er  schon  vorher  von  zwei  Deutschen 
berichtet  hatte,  die  vor  der  ehernen  Tür  umkehrten  (Dübi  S.  254);  ähnlich 
der  Simplicianus  des  Hemmerlin,  der  selbst  aus  Schwyz  ist,  aber  „mit 
zwei  Gefährten  aus  Alemannia"  in  die  Grotte  eingedrungen  sein  will 
(ebd.  S.  252).  Man  sucht  das  aus  dem  Nationalcharakter  zu  erklären:  die 
Deutschen  sind  auf  solche  Abenteuer  besonders  erpicht  (Dübi  S.  254  nach 
de  la  Säle)  und  überhaupt  besonders  reiselustig  (Nyrop  S.  7),  Ist  es  nicht 
einfacher  und  methodisch  richtiger,  die  Nennung  des  deutschen  Mannes 
damit  zu  erklären,  dass  die  Sage  eben  ursprünglich  von  einem  solchen 
erzählt  wurde? 

Somit  spricht  vieles  mit  triftigen  Gründen  dafür,  dass  die  Tannhäuser- 
sage ursprünglich  von  dem  deutschen  Ritter  Tannhäuser  erzählt  wurde. 
Was  spricht  dagegen? 

b)  Nyrop,  der  radikalste  Gegner  der  Tannhäuser-Hypothese,  hat  nur 
einen  guten  Grund  vorgebracht,  über  den  gleich  zu  handeln:  das  späte 
Auftauchen  der  Sage.  Dagegen  kann  in  seiner  Manier  mit  dem  'Zufall'  des 
Namens  Tannhäuser,  und  dem  'Zufall'  des  Namens  Urban  und  dem  'Zufall' 
ihres  Zusammentreffens  nicht  gerechnet  werden.    Wohl  aber  bleiben  zwei 

Einwände: 

a)  Tannhäuser  wird  verschiedenen  Landschaften  zugeschrieben. 
Allerdings  äussert  Felix  Faber  (Dübi  S.  259)  wohl  nur  seine  persönliche 
Vermutung-,  wenn  er  das  Volkslied  auf  einen  schwäbischen  Ritter  von 
Danhusen  deutet.  Aber  Hermann  von  Sachsenheim  nennt  'Tanhuser  us 
Frankenlant'  (ebd.  S.  257),  und  auch  bei  Hans  Sachs  (1557)  ist  Herr 
Danhauser  aus  Frankenland  geboren  (Erich  Schmidt  S.  '60).  Indes 
schmelzen  zunächst  wieder  beide  Angaben  in  eine  zusammen,  da  der 
fränkische  Meistersinger  im  'Hoffgesindt  Veneris'  selbst  von  dem 
schwäbischen  Ritter  abhängig  ist  (ebd.).  Diesem  aber  wird  man  wohl 
keine  Quellenkunde  zuschreiben:  er  hielt,  mit  gut  mittelalterlicher  Philo- 
logie, wie  Erich  Schmidt  bemerkt,  den  Minnesinger  für  einen  Franken, 
weil  dem  'fränkische  Städte  wohlvertraut'  waren.  Übrigens  ist  auch 
Neidhart  von  Riuwental,  über  dessen  bayrische  Heimat  kein  Zweifel 
herrscht,  später  zu  einem  'edeln  Franken'  geworden.  Auch  scheint  es 
wie  in  Luzern  (s.  u.)  in  Franken  Geschlechter  gegeben  haben,  die 
seinen  Namen  führten:  die  Nürnberger  Handschrift  nennt  den  Ton  des 
Meisterliedes  ja  nach  „Pankraz  Tannhäuser".  Tannhäuser  gehört  wohl 
sicher  dem  bayrisch- österreichischen  Gebiet  au1),  aber  er  hat  das 
nicht,  wie  der  von  Riuwental,  durch  zahllose  lokale  Anspielungen  be- 
glaubigt. 


1)  (Eine  andere  Ansicht  vertritt  jetzt  Kluckhohu,  Zs.  f.  d.  Alt.  52,   L58  Aniu.  l.j 


\Q  Meyer: 

ß)  Es  bleibt  ein  gewichtiges  Bedenken:  dass  die  deutsche  Sage  erst 
1515  in  vollentwickelter  Form,  erst  1453  in  Andeutung  auftaucht.  Hierauf 
legt  Nyrop  (S.  75)  grösstes  Gewicht;  obwohl  er  selbst  für  die  italienische 
Sage  höheres  Alter  fordert,  als  die  Belege  ergeben  (vgl.  S.  66).  Dübi 
(S.  257)  sagt  gar  betreffs  Urbans  IV.:  „Jedenfalls  ist  diese  Angabe  spät 
und  vereinzelt,  beweist  also  nichts  für  deutschen  Ursprung  der  Sage."  — 
Das  Bedenken  hat  Gewicht,  und  wen  lockte  es  nicht  zunächst,  die  An- 
spielung von  1453,  das  Meisterlied  und  die  weitere  Entwicklung  an 
Andrea  da  Barbarino  (1391)  und  de  la  Säle  (1438 — 1442)  sowie  den  Deutschen 
Hemmerlin  (1410—1413;  verbreitet  seit  1456,  im  Druck  seit  14137;  Dübi 
S.  252)  anzuschliessen?  —  Indes  ist  doch  gegen  die  Loslösung  des  Tann- 
häusers  im  Meister-  und  Volkslied  von  dem  Minnesinger  zu  viel  vor- 
zubringen, als  dass  wir  uns  diesem  Bedenken  gefangen  geben  dürften. 
Haben  wir  uns  doch  längst  von  der  Anschauung  frei  gemacht,  als  sei  alle 
Sage  sofort  literarisch;  dürfen  wir  doch  ruhig  eine  längere  mündliche, 
prosaische  Überlieferung  annehmen.  Dann  aber  ist  zu  bedenken,  dass  die 
Tannhäusersage  vielleicht  von  Anfang  an  (so  z.  B.  Elster  S.  6),  jedenfalls 
aber  seit  lange  eine  antipäpstliche  Tendenz  erhält,  die  zur  Vorsicht  bei 
der  Verbreitung  zwang.  Wie  ängstlich  hält  sich  de  la  Säle!  AVas  um  1515 
gedruckt  werden  konnte,  Hess  sich  hundert  Jahre  früher  nicht  ohne  Gefahr 
handschriftlich  verbreiten.  Überdies  darf  hier  immer  noch  mit  grösserem 
Recht  von  'Zufall'  gesprochen  werden.  Wie  spät  taucht  nach  jahrhundert- 
langem Schweigen  das  Hildebrandslied  auf!  Wie  lange  sind  die  italienischen 
Zeugnisse  selbst,  um  die  es  sich  in  unserm  Fall  handelt,  unentdeckt  oder 
unbemerkt  geblieben! 

Wir  dürfen  demnach,  glaube  ich,  mit  Bescheidenheit  die  erste  Haupt- 
frage (vgl.  oben  S.  29)  dahin  beantworten:  die  Tannhäusersage  geht  aller- 
dings auf  die  Person  des  Minnesingers  zurück.  Die  Entwicklung  haben 
wir  uns  so  vorzustellen,  dass  der  Dichter  noch  bei  Lebzeiten,  wie 
Neidhart,  oder  bald  nach  dem  Tode,  wie  im  Norden  Bragi  der  Alte,  der 
Held  sagenhafter  Vorstellungen  wurde,  die  an  seine  eigenen  Erzählungen 
anknüpften,  wie  bei  Neidhart,  wie  bei  Franeois  Yillon,  wie  bei  Lord 
Byron.  Diese  'älteste  Form  der  Sage'  (vgl.  Elster  S.  6)  enthielt 
jedenfalls  folgende  Elemente:  der  Ritter  ist  im  Venusberg.  (Von  seiner 
Ankunft  wird  nichts  berichtet;  er  mag  verlockt  worden  sein,  den  Berg 
des  Paradieses  aufgesucht  haben  oder  durch  Zufall  hineingeraten  sein. 
Das  letzte,  wie  in  den  Liedern  von  Oluf  u.  dgl.,  ist  das  wahrscheinlichste, 
lässt  auch  seine  Sünde  am  ehesten  als  sühnbar  erscheinen).  Hier  geniesst 
er  alle  Freuden  des  Gatten,  alle  Ehren  des  Königs.  Nach  längerer  Zeit 
aber  treibt  es  ihn  in  die  Ferne.  (Das  Motiv  kann  die  Reue  und  Angst 
allein  gewesen  sein;  oder  wie  bei  de  la  Säle  und  Andreas  Ritter  die  Furcht 
vor  einem  bestimmten  Termin,  der  den  Aufenthalt  unwiderruflich  macht. 
Für  die  erste  Fassung  spricht  die  wahrscheinliche  Anknüpfung  an  Tann- 


Tannhäuser  und  die  Tannhäusersage.  17 

häusers  Busslied,  für  die  zweite  die  Analogie  ähnlicher  Fabeln,  die  den 
Aufenthalt  unwiderruflich  machen,  wie  z.  B.  der  Granatapfel  der  Persephone). 
Er  pilgert,  von  Frau  Venus  ungern  entlassen,  zum  Papst  und  beichtet. 
Der  Papst  hält  einen  Stab  in  der  Hand.  (Nach  Kluge  S.  43  ist  das  Stab- 
wunder ein  sekundärer  Zuwachs,  ähnlich  scheint  Pfaff  S.  108  zu  denken, 
der  es  nur  für  ein  sagenhaftes  'Zeichen  der  Erwählung'  erklärt,  während 
Kluo-e  S.  44  und  Nyrop  S.  74  den  Stab  höchstwahrscheinlich  aus  der 
verkette  d*or  ableiten,  die  doch  nimmer  blühen  könnte.  „Es  ist  immer 
schon  aufgefallen",  sagt  Kluge  (S.  44),  „wie  der  Papst  im  Volkslied  dazu 
kommt,  bei  der  Beichte  einen  dürren  Stab  in  der  Hand  zu  halten".  Aber 
noch  heut  hält  der  Poenitentiar  in  der  Peterskirche  einen  solchen  bei  der 
Beichte  in  der  Hand  und  berührt  damit  den  Absolvierten,  wie  ich  selbst 
den  Kardinal-Grosspoenitentiar  habe  tun  sehen.  Somit  erklärt  sich  diese 
crux  höchst  einfach;  indes  ist  wohl  zu  begreifen,  wie  bei  de  la  Säle  aus 
dem  Stab  des  Papstes,  der  exkulpiert  werden  soll,  die  goldene  Rute  der 
Venus  wird  (Dübi  S.  254,  vgl.  oben  S.  9),  nicht  aber  das  Umgekehrte. 
An  sich  wäre  deshalb  auch  bei  dem  Tannhäuserdialog  und  dem  Meister- 
lied ein  späteres  Fortlassen  des  antipäpstlich  mindestens  klingenden 
Schlusses  denkbar.  Aber  die  Situation,  die  den  Tannhäuser  noch  vor  der 
Pilgerfahrt  ('Tannhäuser  und  die  Welt')  oder  aber  unmittelbar  nach 
der  Rückkehr  in  den  Berg,  der  Frau  Venus  gegenüber,  die  er  anredet 
(Meisterlied)  zeigt,  Hess  beidemal  eine  Erwähnung  des  Stabwunders 
gar  nicht  zu;  so  dass  in  dieser  Hinsicht  die  beiden  Gedichte  weder  für 
noch  gegen  das  Alter  des  Stabwunders  in  der  Tannhäusersage  zeugen 
können.  Der  Papst  erklärt,  Tannhäusers  Sünde  sei  unsühnbar,  und  drückt 
das  in  einer  Formel  aus,  die  an  Tannhäusers  beliebte  'unmögliche  Fristen' 
(AdB.  37,  388)  anklingt;  da  der  Sänger  seine  Motive  gern  wiederholt 
(ebd.  S.  387),  konnte  er  sogar  in  einem  verlorenen  Lied  diese  Wendung 
selbst  gebraucht  haben:  „Eh  grünt  ein  dürrer  Stab".  —  Tannhäuser  ver- 
zweifelt und  kehrt  zurück;  aber  der  Stab  blüht  auf  und  bezeugt  Gottes 
unermessliche  Milde.  (Dieser  Ausgang,  von  de  la  Säle  wieder  wegen  seiner 
als  antipäpstlich  empfundenen  Tendenz  beseitigt,  braucht  deshalb  noch 
nicht  von  vornherein  mit  den  antipäpstlichen  Schlussworten  des  Volks- 
liedes ausgedrückt  worden  zu  sein). 

Ich  glaube  in  dieser  umständlichen  Formulierung  mit  aller  möglichen 
Vorsicht  das  einio-ermassen  Sichere  und  das  nur  Wahrscheinliche  unter- 
schieden  zu  haben.  Im  übrigen  wiederhole  ich  (vgl.  oben  S.  12),  dass 
selbstverständlich  auch  diese  'Urform  der  Tannhäusersage1  noch  ihre  Vor- 
geschichte hat.  Die  Literatur-  und  die  Sagengeschichte  treffen  die  Ele- 
mente so  selten  rein  und  unverarbeitet  an  wie  die  Chemie.  Jedes  Motiv 
der  Sage  hat  seine  eigene  Vorgeschichte:  der  glückselige  Berg  in  jenen 
Träumen    von    einem    glücklichen  Land    (Nyrop    S.  101  f.),    die    von    den 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.  1911     Heft  l.  - 


[g  Meyer: 

grobmateriellen  Formen  des  altirischen  Schlaraffenlandes  (Thurneysen, 
Sagen  aus  dem  alten  Irland  S.  126 f.)  über  das  mohammedanische  Paradies 
der  Huris  bis  zu  dem  reinen  Idealismus  des  christlichen  Himmels  führen; 
der  wunderbare  Stab  in  all  jenen  Mythen  von  Wiederbelebung  der  toten 
Natur  von  Aarons  Gerte  an  (ebd.  S.  73).  Vereinigt  sind  biographische 
Kiemente  (Taunhäusers  Hand,  sein  Busslied)  und  literarische  (die  'un- 
möglichen Fristen"),  ethische  Momente  (die  Warnung  vor  der  Verführung) 
und  theologische  (die  Rettung  durch  Gnade).  Aber  gerade  solche  Ver- 
schmelzung beweist  das  organische  Werden.  Denn  all  diese  disparaten 
Elemente  sind  zwanglos  und  zwingend  zugleich  zusammengeschlossen.  Sie 
rinden  ihre  Einheit  eben  in  dem  Bild  Taunhäusers. 

Carl  Spitteler  wirft  (in  seinen  'Lachenden  Wahrheiten")  einmal  die 
spöttische  Frage  auf,  worin  denn  eigentlich  das  'Hamlet-Motiv'  bestehe: 
ob  in  der  Unentschlossenheit,  oder  dem  geistreichen  Pessimismus,  oder 
der  Liebe  zu  Ophelia.  Worauf  einfach  zu  antworten  ist,  dass  wir  eben 
nicht  von  einem  Hamlet -Motiv  zu  sprechen  brauchten,  wenn  es  mit  einer 
appellativischen  Bezeichnung  genügend  ausgedrückt  wäre.  Durch  seine 
Gestalt  schafft  der  Dichter  eben  einen  neuen  'Begriff',  psychologisch  - 
fest  wie  der  des  Geizes  oder  der  Rachsucht.  Diese  Wirkung  der 
künstlerischen  Anschaulichkeit  pflegt  in  der  Sagen-  und  Literaturgeschichte 
bedeutend  unterschätzt  zu  werden.  Man  sieht  Hamlet,  man  sah  Tann- 
häuser oder  Odysseus  oder  David  mit  einer  Deutlichkeit,  mit  einer  Hand- 
eiflicrikeit,  die  eben  eine  blosse  Allegorie  nie  erreicht.  Will  man  aber 
umschreiben,  so  kann  man  sagen.  Tannhäuser  sei  im  Christentum,  wie 
Prometheus  in  der  Antike,  der  erste  Vertreter  eines  Typus,  der  für  die 
Literaturgeschichte  von  grösster  Bedeutung  werden  sollte:  des  edlen 
Sünders.  Deshalb  darf  er  nicht  untergehen,  weil  er  den  Erzählern 
-  mpathisch  ist.  Er  sündigt  aus  der  Vornehmheit  seiner  Natur  heraus. 
und  _die  göttliche  Vorsicht-,  wie  Lessing  von  Faust  sagt,  „kann  dem 
Menschen  nicht  den  edelsten  der  Triebe  gegeben  haben,  um  ihn  ewiir 
unglücklich  zu  machen." 

:ürlieh  hat  auch  dieser  Typus  seine  Evolution,  in  der  Tannhäuser 
einen  wichtigen  Wendepunkt  bedeutet.  Vor  ihm  liegen  die  freigesprochenen 
Büsser:  die  grosse  Buhlerin  Magdalena.  Gregorius.  der  die  heiligsten 
Bande  der  Ehe  und  Familie  brach.  Sie  haben  büssen  dürfen.  Dem 
Ritter,  der  das  Christentum  bei  der  heidnischen  Zauberei  verleugnet  hat. 
bleib:  -  igentüche  Grausamkeit  des  Papstes  nach  der  späteren 

Auffassung)  die  Basse  versagt  —  er  wird  gerettet  durch  Gnade.  Dies  ist 
wirklich  eine  Führung  der  Handlung,  die  an  Goethes  Faust  erinnert. 
Tann  .  weil    er    stark  genug  war.   sich  solcher  Erden- 

_   zu  entreissen.     Modern  ausgedrückt:    Rettung    und    Sünde 
.  ihm  aus  der  gleichen  Quelle,  sind  Bekundungen   der  gleichen 

:  er  zum  Vorläufer  der   •Zerrissenen  im 


Tannhäuser  und  die  Tannhäusersage.  19 

19.  Jahrh.,  und  von  Tannhäuser  schlingt  sich  ein  unsichtbares  Band  zu 
Byrons  Manfred,  wie  ein  sichtbares  Maria  Magdalena  mit  Dostojewskis 
Sonja  verbindet. 

Tannhäuser  muss  also  gerettet  werden;  das  liegt  in  der  poetischen 
Loo-ik,  das  folgt  aus  seinem  Bild,  wie  es  nun  einmal  sich  gestaltet  hatte. 
Gerettet,  und  wenn  auch  durch  ein  Wunder.  Nun  aber  muss  man  sich 
meines  Erachtens  vor  der  Auffassung  hüten,  als  liege  darin  von  vornherein 
eine  'protestantische'  oder  gar  eine  bewusst  kirchenfeindliche  Tendenz. 
Vielmehr  ist  der  theologische  Gedanke  zunächst  nur  der  der  unerschöpf- 
lichen Gnade  Gottes:  Gott  kann  selbst  den  Sünder  lossprechen,  dessen 
Sündenschwere  seinen  Vicarius  zwingt,  ihn  zu  Verstössen.  Das  entspricht 
durchaus  der  herkömmlichen  katholischen  Bussordnung.  Ganz  leichte 
Sünden  kann  jeder  Beichtvater  absolvieren:  schwerere  sind  dem  Bischof 
reserviert;  die  schwersten  dem  Papst.  Und  so  erfindet  die  Sage  schliesslich 
auch  -reservierte  Fälle',  in  denen  nur  Gott  selbst  lösen  kann.  Aber  schon 
dies  ist  allerdings  ketzerisch,  wenn  auch  unbewusst.  Und  sobald  sich 
Gegensätze  gegen  den  Papst  geltend  machten,  musste  allerdings  die  latente 
antipäpstliche  Tendenz  sich  zur  offenen  auswachsen: 

Do  was  er  widrumb  in  den  berg 
und  het  sein  lieb  erkoren, 
des  mus  der  vierde  bapst  Urban 
auch  ewig  sein  verloren. 

Wenn  der  Papst  wirklich  die  Gewalt  hätte,  von  Sünden  loszusprechen, 
sa»te  Luther,  dann  verdiente  er  den  schlimmsten  Tod,  falls  er  nur  Eine 
arme  Seele  in  die  Hölle  gelangen  Hesse  —  eine  Auffassung,  der  schon 
das  Meisterlied  (Dübi  S.  257)  nahe  kommt. 

So  glaube  ich  denn  allerdings,  dass  die  literarische  Gestaltung  der 
Sage  mit  einer  starken  geistigen  Bewegung  zusammenhängt  —  mit  der- 
selben national- christlichen  Stimmung,  die  den  Wartburgkrieg  erzeugt 
hat.  Die  Opposition  gegen  das  ausserdeutsche  asketische  Ideal  der 
heiligen  Elisabeth,  die  zur  Ermordung  des  ersten  und  glücklicherweise 
einzigen  deutschen  Inquisitors,  des  Konrad  von  Marburg,  führte  (vgl. 
AdB.  37.  387)  und  der  Kampf  der  einheimischen  Dichter  gegen  die  fremden, 
französierenden  Gäste  auf  der  Wartburg,  das  geht  Hand  in  Hand,  wie  in 
der  Zeit  Ludwigs  IL  von  Bayern  der  Kampf  gegen  die  -protestantischen 
Nordlichter'  Geibel,  Heyse.  Sybel  zugleich  konfessionell  und  partikularistisch 
gefärbt  war.  Heinrich  von  Ofterdingen,  der  wahrscheinlich  doch  historische 
Dichter,  wird  zum  Anwalt  der  thüringischen  Dichterschule:  Tannhäuser 
wird  zum  Vertreter  der  altheimischen  Frömmigkeit.  Ich  möchte  deshalb 
das  Lied  am  liebsten  auch  in  Thüringen  entstanden  denken,  oder  dort 
wenigstens  den  "antipäpstlichen  Schluss'  angesetzt,  den  es  nach  Elster 
(S.  8)  erhielt:    freilich  möchte  ich  nicht  mit  ihm  sagen,    die   ältesten  Be- 


20  Meyer: 

standteile  seien  im  päpstlich-pfäffischen  Sinn  gehalten,  denn  der  Bann- 
spruch gegen  die  sündhafte  Minne  ist  doch  allgemein  christlich.  Den 
Hörselberg  darf  man  freilich  dafür  nicht  anrufen,  der,  wie  erwähnt,  in 
der  Sage  erst  jung  ist  (Dübi  S.  249 f.)-  —  Aber  manche  Spuren  weisen 
auch  auf  fränkischen  Ursprung;  was  denn  zu  jenem  'Tannhauser  A'on 
Frankenland"  beigetragen  haben  könnte. 

Alles  scheint  sich  somit  hier  glatt  und  einfach  zu  fügen.  Die  Sage 
dringt  später,  durch  das  Lied  vermittelt  (wie  schon  Hemmerlin  meint) 
nach  Italien  und  wird  dort  lokalisiert. 

Doch  halt!  da  sind  wrir  schon  im  Bereich  unserer,  zweiten  Haupt- 
frage (vgl.  oben  S.  10): 

2.  Yenusberg. 

Auch  wenn  die  Taunhäusersage  an  den  deutschen  Ritter  und  Fahrenden 
anknüpft,  auch  wenn  sie  deutschen  Ursprungs  ist,  kann  noch  immer  der 
A^enusber«:  aus  Italien  stammen.  Wir  müssen  hier  wieder  zweierlei 
Möglichkeiten  scheiden;  a  priori  sogar  drei: 

1.  Eine  autochthone  italienische  Sage  vom  Venusberg  und  dem  Ritter 
kann  sich  mit  der  deutschen  Tannhäusersage  vereinigt  haben; 

2.  die    deutsche    Tannhäusersage    kann    Venus    und    den    Venusberg 
übernommen  haben; 

3.  sie    kann    beides  besessen,    aber    nach   italienischen  Quellen    den 
Venusberg  benannt  haben. 

Die  zuerst  angeführte  Möglichkeit  ist  aber  doch  zu  gering;  an  der 
Identität  der  'Tannhäuserlegenden'  bei  Andrea  da  Barbarino  und 
de  la  Säle  mit  der  deutschen  ist  ja  gar  nicht  zu  zweifeln  (vgl.  oben  S.  12). 
Es  bleiben  also  die  beiden  andern;  wobei  ich  meine  Meinung  gleich  dahin 
formulieren  möchte,  dass  nicht  der  Berg  der  Venus  entlehnt  ist,  vielleicht 
aber  der  Venusb  erg. 

Das  klingt  spitzfindig;  aber  es  enthält  eine  notwendige  Unterscheidung, 
die  man  bisher  nicht  hätte  unterlassen  sollen.  Es  ist  zweierlei,  ob  von 
vornherein  der  Berg  der  Wonne  da  war,  und  nur  später  mit  einem 
italienischen  Venusberg  gleichgesetzt  wurde,  oder  ob  dieser  für  die  ganze 
Konzeption  der  Sage  wesentlich  war. 

Die  erste  Möglichkeit,  dass  nämlich  Venus  erst  später  ihren  Einzug 
in  die  Sage  gehalten  habe,  scheint  Elster  (S.  5 f.)  zu  begünstigen.  Er 
greift  auf  alte  Sagen  vom  Bund  mit  den  Eibinnen  zurück;  erinnert  an 
(iottheiten,  die  wie  Holda  und  Berchta  mit  stattlichem  Hofstaat  im  Innern 
der  Berge  hausen,  und  für  Venus  an  ihre  Wiederbelebung  durch  die 
Vagantenpoesie.  Allerdings  schreibt  er  schon  der  ältesten  Fassung  die 
Verbindung  Tannhäusers  mit  Venus  zu,  scheint  aber  doch  eine  Tannhäuser- 
sage  vor  Tannhauser  und  mit  einer  einheimischen  Freudenkönigin  an- 
zudeuten.    Hiergegen  wendet  Xyrop  (S.  83)  ein,    dass  Berchta  und  Holda 


Tannhäuser  und  die  Tannhäusersage.  21 

beide  von  spätem  Ursprung  seien  (aber  doch  wohl  älter  als  das  Tann- 
häuserlied) und  nichts  mit  Venus  zu  schaffen  hätten  —  was  aber  die  von 
ihm  empfohlene  Sibylle  noch  viel  weniger  zu  tun  hat.  Aber  jedenfalls 
ist  festzuhalten:  wo  wir  Tannhäuser  genannt  finden  (in  der  Mörin,  in 
den  Liedern  und  später),  da  ist  er  auch  mit  Venus  verbunden.  Nur  in 
den  Formen  der  Sage,  die  ihn  nicht  nennen  (Guerino,  de  la  Säle)  ist  es  die 
Sibylle  (Dübi  S.  250,  wo  er  irreführend  'Sibylle -Venus'  sagt,  und  S.  259), 
die  den  Ritter  lockt  und  zieht. 

Danach  bleibt  das  Wahrscheinlichste,  dass  in  der  Tat  in  dem  glück- 
seligen Berg,  den  Tannhäuser  betrat,  von  allem  Anfang  an  Frau  Venus  sass. 

Und  was  spricht  dagegen?  Sie  ist  nicht  volkstümlich,  antwortet  man. 
Das  aber  ist  die  Sibylle  auch  nicht,  die  Nyrop  und  Dübi,  Kluge  und 
Pfaff  für  echt  volkstümlich  zu  halten  scheinen;  bemerkt  doch  Kluge  selbst, 
der  Name  sei  kein  altes  volkstümliches  Erb  wort:  das  müsste  'Sevella' 
oder  'Sevolla'  lauten  (S.  52):  „das  Wort  ist  eine  gelehrte  Erneuerung  aus 
dem  Altertum".  Dann  wäre  der  Name  Venus  sogar  echter  volkstümlich, 
der  nach  Pfaff  (S.  106)  als  der  einer  alten  Abgöttin  erhalten  geblieben 
wäre,  so  dass  man  auf  sie  die  Eigenschaften  der  Holda,  Berchta  usw.  hätte 
übertragen  können,  —  was  ich  nicht  vertreten  will.  Vielmehr  scheint  es 
mir  bei  Sibylla  im  Gebiet  von  Norcia,  bei  Frau  Venus  in  Deutschland  um 
denselben  Grad  von  Volkstümlichkeit  zu  handeln.  Man  muss  nämlich  durch- 
weg im  Mittelalter  mit  verschiedenen  Graden  der  Volkstümlichkeit 
rechnen.  Es  gibt  eine  Volkspoesie  der  Ungebildeten,  eine  gelehrte  Volks- 
poesie der  Vaganten,  eine  höfische  Volkspoesie,  die  alle  drei  mit  einem 
bestimmten  Schatz  von  Motiven,  Voraussetzungen,  Formeln.  Mitteln 
arbeiten;  man  könnte,  englische  Ausdrücke  uneigentlich  verwendend,  von 
broad  church,  low  church.  high  church  sprechen.  Sibylla  gehört  der 
Volkspoesie  und  Volkssage  der  Vaganten  an,  wie  Kluge  schön  und  reichlich 
(vgl.  auch  Bunte  Blätter  S.  61  f.)  gezeigt  hat;  dass  das  eigentliche  Volk 
von  ihr  mehr  gewusst  hätte,  als  die  Fahrenden  ihm  erzählten,  ist  nicht 
nachzuweisen.  Ganz  dasselbe  gilt  aber  auch  nach  Kluges  eigenen  Nach- 
weisen (S.  59 f.)  von  Venus.  Die  Namengebung  'Monte  della  Sibilla'  hat 
ihr  Gegenbild  in  deutschen  Arenusbergen,  bei  denen  zum  Teil  auch  erst 
die  gelehrte  Volksetymologie  tätig  war  (Kluge  S.  29)  wie  sie  ähnlich  sich 
auch  beim  Pilatus  versucht  hat  (Dübi  S.  67).  Was  Sibyllen  rocht  ist.  ist 
Frau  Venus  billig;  „eine  gelehrte  Benennung"  (Nyrop  S.  82)  ist  V  enus- 
berg'  aber  noch  weniger  als  'Berg  der  Sibylle1. 

Und  Tannhäuser  selbst  erwähnt  Frau  Venus,  aber  nicht  die  Sibylle; 
und  in  dem  Umkreis  seiner  eigenen  gelehrttuenden  und  doch  volkstümlichen 
Poesie  müssen  wir  uns  Sage  und  Lied  entstanden  denken,  wie  die  Neidhart- 
legende unter  den  Neidhartiauern.  Die  breite  Volkstümlichkeit  erwarb 
dem  Lied  wohl  erst  die  'urreformatorische'  Tendenz:  und  sie  ist  durch 
die  Nennung  der  Frau  A'enus  keineswegs  gehemmt  worden. 


22  Meyer: 

Die  deutsche  Tannhäusersage  hätte  also  Venus  und  ihren  Berg  bereits 
zu  eigen  gehabt.  Und  dennoch  könnte  der  Venusberg  italienischer  An- 
regung verdankt  werden.  Dies  ist  die  Meinung  von  Pfaff  (S.  106): 
„  Reisende  hatten  die  Erzählung  vom  Sibyllenberg  aus  Italien  mitgebracht. 
Dieser  ferne  zauberhafte  Berg  ward  nun  in  der  deutschen  Überlieferung 
mit  allen  Eigenschaften  des  Venusbergs  ausgestattet."  Und  so  wäre  denn 
der  italienische  Berg  der  Sibylle  zu  dem  ersten  wirklich  geographisch 
fixierten  Venusberg  geworden,  während  das  Tannhäuserlied  und  Hermann 
von  Sachsenheim  den  hohlen  Berg  noch  nicht  lokalisieren  (Dübi  S.  257). 
Mir  o-eht  es  hier  wie  bei  der  Vergleichung  Guerinos  und  der  Salade 
mit  dem  Tannhäuserlied:  eine  Beziehung  scheint  mir  auch  diesmal  un- 
zweifelhaft vorhanden,  aber  auch  diesmal  führt  sie  meines  Erachtens  nicht 
von  Italien  nach  Deutschland,  wie  Dübi  und  Nyrop  meinen,  sondern  um- 
gekehrt von  Deutschland  nach  Italien. 

a)  Die  frühesten  italienischen  Berichte  wissen  nur  von  dem  Pilatus- 
oder Sibyllenberg.  Den  Venusberg  kennt  weder  Pierre  Bersuire  (1362) 
noch  Facio  degli  Uberti  (1367);  auch  viele  spätere  Gewährsmänner  bei 
Kluge  (S.  32  f.)  und  Dübi  (S.  256 f.)  wissen  nichts  vom  Venusberg.  Kluge 
(S.  34)  nennt  allerdings  den  Nekromantenberg  den  'Venusberg  der 
fahrenden  Schüler';  aber  das  ist  er  jedenfalls  nicht  von  vornherein.  Die 
Nekromanten  wenden  sich  an  die  Sibylle,  die  von  Cumä  nach  Norcia  ge- 
wandert ist  (Magnabotti  bei  Dübi  S.  250)  und  deren  prophetischer 
Charakter  sich  erst  allmählich  verwischt  (ebd.  S.  252). 

Wir  geben  Nyrop  nochmals  seine  Frage  zurück:  was  hat  die  Sibylle 
mit  Venus  zu  schaffen?  Ferner  aber  scheinen  mir  folgende  Erwägungen 
zwingend,  die  uns  kein  Verfechter  der  transalpinischen  Hypothese  an- 
gestellt zu  haben  scheint.  Wenn  es  in  Italien  von  vornherein  oder 
mindestens  um  die  Wende  des  14.  Jahrh.  eine  ausgebildete  Sage  von 
Tannhäuser  im  Venusberg  gab,  wie  z.  B.  Dübi  (S.  253)  behauptet,  wie 
kommt  es,  dass  de  la  Säle  und  Alberti  und  gar  der  in  seiner  Erfindung 
völlig  freie  Andrea  da  Barbarino  sie  in  den  Sibyllenberg  verlegen?  Und 
wenn  die  ältesten  italienischen  Zeugnisse,  wie  gesagt,  Tann- 
häuser nicht  im  Veuusberg,  sondern  nur  im  Sibyllenberg 
kennen,  wie  ist  es  dann  möglich,  dass  die  aus  Italien  ein- 
geführte Sage  in  Deutschland  gar  nichts  von  Tannhäuser  im 
Sibyllenberg  weiss,  sondern  nur  von  Tannhäuser  im  Venus- 
berg? Mir  scheint  diese  Tatsache  schon  allein  Nyrops  zuversichtliche 
Behauptung  umzustossen,  an  der  Tannhäusersage  sei  nichts  germanisch 
als  der  Name  des  Helden  (S.  44)  ein  Satz,  der  wie  seine  Behauptungen 
vom  'Zufall'  in  den  deutschen  Texten  fast  mit  einer  gewissen  Schaden- 
freude vorgebracht  wird. 

b)  So  muss    er  sich  denn    (S.  117)   auch  selbst  berichtigen,    wenn  er 
erklärt    hat,    deutsche  Dichter    hätten    den  Namen    der    römischen   Göttin 


Tannhäuser  und  die  Tannhäusersage.  23 

für  die  'unbekannte  Sibylle'  eingeführt  (S.  82).  Denn  man  kannte  in 
Deutschland  nicht  nur  die  Sibylle  (die  ja  auch  der  Tannhäuser  selbst,  und 
zwar  bald  nach  der  Venus,  erwähnt  MSH.  2,  85;  IV,  7),  sondern  sogar 
den  Sibyllenberg.  Darauf  bezieht  sich  doch  unzweifelhaft  die  'höchst 
rätselhafte  Stelle'  im  Wartburgkrieg: 

Felicia,  Sibillen  kint, 

Und  Juno,  die  mit  Artus  in  dein  berge  sint. 

Felicia,  Sibillen  Tochter,  und  Juno  sind  Wesen  von  Fleisch  and  Bein, 
sagt  das  Gedicht  (ed.  Simrock  Str.  83);  sie  leben  mit  Artus  im  Berg 
und  die  Massenie  wird  wohl  gepflegt;  es  fehlt  nicht  an  Trank  und  Speise, 
Ross  und  Rüstung.  Das  hat  St.  Brandan  verkündet  (Str.  86).  Auch  ein 
Geistlicher  ist  bei  ihnen  im  Schloss  des  Berges  (Str.  84).  Das  passt  alles 
vortrefflich  zum  Sibyllenberg;  und  so  liegt  denn  auch  (Dübi  S.  263  Anm.) 
in  der  Nähe  des  italienischen  'Venusberges'  ein  Castellum  Felicitatis,  in 
der  Nähe  eines  Schweizer  Venusbergs  eine  Ruine  Freudenberg.  Die 
Glückseligkeit  im  Sibyllenberg  ist  in  Felicia  verkörpert;  und  nicht  einmal 
hier  erscheint  neben  Sibylla  Venus,  sondern  Juno. 

Jedenfalls  aber  beweist  der  Wartburgkrieg,  den  sogar  Dübi  (S.  250) 
in  seinem  Unmut  über  das  störende  Zeugnis  'ein  poetisch  fast  wertloses 
Produkt  des  ausgehenden  Minnesingertumes"  schilt,  dass  Sibylla  und  der 
Bero-  in  Deutschland  Ende  des  13.  Jahrhunderts  nicht  unbekannt  waren. 
Und  dennoch  ging  Tannhäuser  nicht  in  den  Sibyllenberg  ein,  wo  er  bei 
Artus  und  Felicia  so  gut  hätte  leben  mögen? 

c)  Nun  aber  folgen  jene  Zeugen  für  die  Tanuhäusersage  in  Italien, 
und  alle  lokalisieren  sie  gerade  da,  wo  sie  kein  Deutscher  lokalisiert:  in 
den  Sibyllenberg.  A)er  von  den  Eremiten  (vgl.  den  unterirdischen  Abt 
des  Wartburgkriege?!)  gewarnte  Guerino,  der  deutsche  Ritter  des  de  la  Säle, 
und  noch  des  Fra  Leandro  Alberti  Grottenbesucher  (Dübi  S.  258)  sind  in 
diesem  Berg.  Weshalb,  wenn  der  Venusberg  in  Italien  der  Ursitz  der 
Legende  ist? 

d)  Aber  weiter:  es  wird  ausdrücklich  gegen  den  italienischen  Venus- 
berg protestiert,  und  zwar  nicht  im  Sinn  des  Rationalismus,  der  einen 
solchen  überhaupt  leugnet  (was  natürlich  auch  geschah,  vgl.  Kluge  S.  35 
Anm.),  sondern  aus  besserer  Kenntnis.  Man  hat  aus  Deutschland  bei 
Aeneas  Sylvius  angefragt,  ob  es  in  Italien  einen  Venusberg  gebe  (Dübi 
S.  250).  Der  sächsische  Astronom,  der  fragt,  weiss  also  jedenfalls  von 
einem  Venusberg.  Piccolomini  weiss  durchaus  nichts  davon;  er  rät  herum, 
ob  Porto  Venere,  oder  ein  der  Venus  in  Sizilien  geweihter  Berg  Eryx  (von 
dem  sonst  in  diesem  Zusammenhang  nirgends  die  Rede  ist)  oder  endlich 
der  Hexenberg  bei  Norcia  (d.  h.  der  Sibyllenberg)  gemeint  sei.  Und 
diesen  Beleg  hat  man  als  Zeugnis  für  den  italienischen  Venusberg  ver- 
wandt! 


24  Meyer: 

Dasselbe  tat  merkwürdigerweise  sogar  Kluge  (S.  34)  mit  der  Aussage 
Bernhards  v.  Breidenbach.  Dieser  aber  spricht  von  dem  Yenusberg 
auf  Cypern  und  leugnet  den  in  Italien:  „denn  da  (in  Cypern)  hat  sie 
gewohnet  und  das  Land  Tusciam  genannt  nie  gesehen,  da  etlich  Leut  sie 
vermeinen  in  einen  Berg  Verstössen  sein  und  grosse  Lust  und  Freud 
darin  haben,  da  es  doch  nichts  ist".  Da  kann  man  doch  wirklich  nicht 
sagen,  der  gelehrte  Antiquar  „bestätige  den  verbreiteten  Glauben,  dass 
in  Tuscia,  d.  h.  in  Italien  unser  Yenusberg  liege".  Ganz  im  Gegenteil; 
Breidenbach,  der  Italien  durchreist  hat,  erklärt  den  Glauben  der  Deutschen 
an  einen  Yenusberg  in  Italien  für  irrig;  es  sei  nichts  damit.  Ganz  wörtlich 
(wie  schon  bemerkt)  wiederholt  das  Melchior  Zurgilgen  (Dübi  S.  260), 
nur  dass  er  den  Yenusberg  bei  Paphos  weiss.  Und  auf  den  Yenusberg 
im  Orient  bezieht  sich  auch  die  Schwindelei  des  Hans  Wohlgestanden 
(Dübi  S.  260),  der  im  Yenusberg  gewesen,  im  Koten  Meer  gebadet  und 
im  Jordan  gewesen  sein  wollte. 

Keins  von  diesen  Zeugnissen  von  1431  (Enea  Silvio),  1486  (Breiden- 
bach), 1519  (Zurgilgen),  1599  (Wohlgestanden)  beweist  für  einen  Yenus- 
berg in  Italien.  Am  deutlichsten  aber  spricht  Breidenbachs  Fahrt- 
genosse Felix  Faber.  Auf  Cypern  bei  Paphos  liegt  der  Yenusberg. 
..  Xach  dem  Beispiel  dieses  ersten  Yenusberges  und  seiner  Grotten  seien 
dann  in  heidnischer  Zeit  überall  Yenusberge  gesehen  und  in  'Historien' 
o-enannt  worden.  Auch  in  'moderner'  Zeit  fable  das  ungebildete  Yolk  von 
einem  Bers;  in  der  Toskana,  unweit  Rom.  in  welchem  die  Frau  Yenus 
mit  gewissen  Männern  und  Frauen  den  Lüsten  fröhne".  Auf  diesen  soll 
sich  das  in  Deutschland  gesungene  Tannhäuserlied  beziehen  (Dübi  S.  259). 
Unmöglich  kann  ich  in  dieser  wichtigen  Stelle  mit  Dübi  „Andeutungen 
über  das,  was  wir  heute  den  Zusammenhang  der  Yenusr  mit  der  Sibyllen- 
sage nennen  würden",  erblicken.  In  Deutschland  wird  das  Lied  ge- 
sungen, das  sich  auf  einen  Berg  in  Tuscien  bezieht,  der  in  Wirklichkeit 
gar  kein  Yenusberg  sei.  Deutsche  also,  wie  jener  sächsische  Leibarzt, 
haben  den  Yenusberg  nach  Italien  verlegt. 

e)  Es  sind  denn  auch  nur  Deutsche,  die  den  Sibyllenberg  mit  dem 
Yenusberg  gleichsetzen.  Das  tut  zuerst  1497  Felix  Hemmerlin  (Dübi 
S.  251).  Er  erzählt  von  dem  Sibyllenberg  und  fährt  fort:  „der  Berg  heisst 
gemeiniglich  Yenusberg";  dann  erzählt  er  seine  simplicianische  Tannhäuser- 
>ai:e  (vgl.  oben  S.  5).  Und  im  selben  Jahr  hört  Arnold  v.  Harff  von 
Frau  Yenus  Berg  bei  Norcia  (oder  Nocera?  Kluge  S.  35).  Das  sind  die 
einzigen,  die  in  Italien  von  einem  Yenusberg  wissen.  Kein  italienischer 
Zeuge  ist  dafür  aufgebracht!  Und  Harff  ist  der  denkbar  unzuverlässigste 
Zeuge  (AdB.  10,  599,  vgl.  Kluge  S.  37  Anm.). 

f)  Xun  beachte  man  noch  folgendes.  Hermann  von  Sachsenheim, 
der  in  der  'Mörin'  Tannhäuser  zuerst  mit  Frau  Yenus  gesellt,  steht  in 
Beziehungen    zur    Erzherzogin    Mathilde    in    Rottenburg    (Yogt    in    Pauls 


Tannhäuser  und  die  Tannhäusersage.  25 

Grundriss  2.  Aufl.  2,  345).  Zu  deren  geistigem  Hofhalt  gehört  aber  auch 
Niklas  von  Wyl,  der  seinerseits  mit  Felix  Hemmerlin  und  Aeneas 
Sylvius  Piccolomini  befreundet  ist.  Hier  treffen  wir  drei  Namen,  die  für 
unsere  Frage  wichtig  sind:    Enea  Silvio,  Hemmerlin,   Sachsenheim. 

Breidenbach  (AdB.  3,  285)  seinerseits  ist  von  Jerusalem  ab  mit 
Felix  Faber  (AdB.  6,  490)  zusammen  gereist.  Faber  stammt  aus  Zürich, 
und  in  Zürich  hab  ich  schon  früh  ein  besonderes  Interesse  für  unsern 
Minnesinger  vermutet,  vielleicht  durch  die  besondere  Andacht  der  Zürcher 
zu  dem  von  Tannhäuser  gefeierten  Thomas  a  Becket  von  Canterbury  ver- 
mittelt (ADB.  36,  387),  und  Felix  Hemmerlin  lebt  in  Zürich  und  stellt  somit 
zwischen  den  beiden  'Tannhäusergruppen'  eine  Vorbindung  her.  Sie  um- 
fassen zusammen  alle  für  unsere  Fragen  in  Betracht  kommenden  deutschen 
Namen  mit  der  einzigen  Ausnahme  Arnolds  v.  Harff,  der  dafür  aber 
literarisch  abhängig  scheint.     Was  bedeutet  diese  merkwürdige  Tatsache? 

Zunächst,  dass  wiederum  die  Zahl  der  Zeugnisse  einschrumpft,  wie 
vorhin  (oben  S.  12)  die  der  Belege  für  die  Schlangenweiber  im  Sibyllen- 
berg.  Es  handelt  sich  bei  den  Reisegenossen  Faber  und  Breidenbach 
wesentlich  um  ein  gemeinschaftliches  Zeugnis,  dem  aber  auch  der  Zürcher 
Chorherr  Hemmerlin  und  der  spätere  Papst  nicht  fern  stehen.  Aber 
mir  scheint  überhaupt  diese  bisher  übersehene  Gruppenbildung  noch 
weiteres  Licht  auf  die  ganze  Entwicklung  der  Sage  zu  werfen.  Man  be- 
denke, dass  zu  dem  Kreis  der  Erzherzogin  Mathilde  auch  Jakob  Puter  ich 
von  Reicherzhausen  (gest.  um  1470)  gehört.  Dieser  Name  'spricht  Bände'. 
Püterich  ist  nur  der  eifrigste  Vertreter  des  neu  erwachten,  in  Freiburg 
und  München  zentralisierten  Interesses  für  die  ältere  deutsche  Dichtung. 
Diese  Sammlertätigkeit  muss  auch  für  die  alte  Tannhäuserdichtung  neue 
Teilnahme  erweckt  haben.  Jedenfalls  wurde  dadurch  Hermann  von  Sachsen- 
heim darauf  gebracht,  halb  ironisch  den  edlen  Tannhäuser  aus  Franken- 
land mit  seiner  Gattin  Venus  und  dem  treuen  Eckart  in  seiner  'Mörin' 
eine  Hauptrolle  spielen  zu  lassen;  etwa  wie  Dr.  Faustus  in  Arnims 
•Kronen Wächtern'  travestiert  auftritt.  Die  gelehrteren  Mitglieder  des 
Kreises  aber  begeben  sich  auf  die  Quellensuche.  Felix  Hemmerlin  wird 
iu  Italien  auf  einen  Pseudo-Tannhäuser  im  Sibyllenberg  aufmerksam.  Das 
erregt  weiterhin  Aufmerksamkeit;  aus  Sachsen  her  fragt  man  bei  Enea 
Silvio  an;  gerade  bei  ihm,  weil  er  der  Korrespondent  jenes  'altdeutschen' 
Kreises  in  Italien  geworden  war.  Aber  Enea  weiss  nichts  von  einem 
Venusberg  in  Italien.  Es  ist  irrig,  wenn  Kluge  (S.  31)  oder  Pfaff  (S.  105) 
meinen,  „er  habe  gehört,  dass  der  Venusberg  bei  Norcia  liege";  er  hat 
gar  nichts  von  einem  Venusberg  in  Italien  gehört. 

Aber  inzwischen  müssen  die  deutschen  Nachfragen  doch  ihre  Wirkung 
getan  haben.  Wie  man  etwa  in  Trimberg  über  den  Minnesinger  Süsskind 
Dinge  aus  den  Leuten  herausgefragt  hat,  die  auch  ich  gläubig  annahm 
(Zs.  f.  d.  Alt.  38,    201  f.;  vgl.  Roethe,  AdB.  36,  336f.)    oder  wie  man  die 


2i;  Meyer: 

Sieo-friedsquelle  im  Odenwald  glücklich  erfragt  hat,  so  setzte  mau  von 
Deutschland  aus  auch  einen  Yenusberg  in  Italien  durch.  Solche  Gerüchte 
finden  Hemmerlin,  Faber,  Breidenbach  vor;  worüber  gleich  mehr. 

Diese  Lokalisierung  hatte  Enea  Silvio  an  die  Hand  gegeben;  und  sie 
war  o-eboten,  weil  tatsächlich  die  deutsche  Tannhäusersage  des  13.  Jahrh. 
im  14.  Jahrh.  im  Sibyllenberg  lokalisiert  worden  war.  Nun  zog  sie  zurück 
und  kehrte,  wie  Tannhäuser,  in  den  deutschen  Venusberg  heim. 

Schon  Felix  Hemmerlin  fand  im  Sibyllenberge  einen  Pseudo-Tann- 
häuser  vor.  Denn  bereits  hatte  der  Sibyllenberg  den  Namen  Venusben; 
erhalten  (Dübi  S.  251),  —  wir  zweifeln  nicht,  dass  es  durch  die  vielen 
Besucher  'de  Alemannia'  geschah,  von  denen  er  und  de  la  Säle  (Dübi 
S.  255)  u.  a.  berichten.  In  Deutschland  war  es  längst  üblich,  dass  Fahrende 
behaupteten,  im  Venusberg  gewesen  zu  sein  —  nämlich  im  deutschen 
Venusberg,  den  Crusius  1544  und  Hans  Sachs  1556  (Kluge  S.  63)  doch 
o-ewiss  meinen.  Nun  setzt  der  simplicianus  aus  Schwyz  das  Geschäft  bei 
der  neu  errichteten  Tannhäuser-Filiale  im  Herzogtum  Spoleto  erfolgreich 
fort;  gerade  wie  es  schon  früher  auch  dort  in  der  Sibyllengrotte  solche 
Betrüger  gegeben  hatte  (Dübi  S.  256). 

Aber  die  literarische  Bemühung  um  die  Heimat  der  Frau  Venus 
dauert  fort.  Den  wahren  Venusberg  entdecken  die  Reisegenossen  Felix 
Faber  und  Bernhard  v.  Breidenbach:  er  ist  nur  auf  Cypern.  Es  ist  also 
nichts  mit  dem  in  Tuscien,  von  dem  ungebildete  Leute,  nun  auch  schon 
in  Italien  selbst,  fabeln.  Und  der  Züricher  Dominikaner  setzt  (Dübi 
S.  259)  hiuzu:  das  Tannhäuserlied  beziehe  sich  ebenfalls  auf  diesen 
falschen  Venusberg.  Der  Anschluss  an  die  moderne  Hypothese  ist  erreicht: 
Kluge,  Dübi,  Pfaff,  Nyrop  schliessen  sich  Felix  Faber  an.  Und  ebenso 
ist  schon  für  die  späteren  Gelehrten  des  16.  und  17.  Jahrh.  der  italienische 
Venusberg  zur  Tatsache  geworden:  für  Paracelsus  (1588)  oder  Del  Rio 
(1606;  vgl.  Kluge  S.  31). 

Dies  scheint  mir  eine  einfache,  in  ihren  Hauptpunkten,  vor  allem 
durch  Enea  Silvios  Brief  deutlich  bezeugte  Entwicklung.  Der  'Venus- 
berg der  Deutschen'  (Kluge  S.  50)  und  besonders  der  deutschen  Fahrenden 
(ebd.  S.  31.  33)  ist  ursprünglich  einfach  der  'Berg  der  Venus'  gewesen: 
der  unbekannt  wo  liegende  Berg,  in  dem  Tannhäuser  und  Venus  noch  in 
der  'Mörin'  oder  den  Tannhäuserliedern  leben,  er  wird  allmählich  mit 
dem  Sibyllenberg  identifiziert,  durch  gelehrte  Nachfrage  identifiziert  — 
wir  haben  kein  direktes  volkstümliches  Zeugnis  für  den  Venusberg  in 
Italien,  wie  wir  solche  für  den  italienischen  Sibyllen-  und  Pilatusberg 
oder  für  den  deutschen  Berg  der  Venus  besitzen.  Nicht,  wie  Nyrop 
meint,  die  Venus  der  deutschen  Sage,  sondern  der  Venusberg  der  italienischen 
ist  gelehrtes  Machwerk. 

g)  Man  wird  jenen  langgestreckten  Bemühungen    des  15.  Jahrh.  aber 
noch  eine  andere  Wirkung  zuschreiben  müssen. 


Tannhäuser  und  die  Tannhüusersage.  27 

Dass  die  Tannhüusersage  gleich  an  das  Leben  des  Dichters  an- 
schliesst,  hoffen  wir  erwiesen  zu  haben.  Dass  sie  noch  im  14.  Jahrh. 
literarisch  ward,  ist  mindestens  sehr  wahrscheinlich.  Nun  aber  regt  sie 
sich  von  neuem,  sei  es,  dass  die  Sammler  auf  die  Dichtung  wirkten, 
sei  es,  was  ich  eher  glaube,  dass  ihnen  ein  neues  Leben  der  Sage 
entgegenkam.  Nun  entsteht  etwa  gleichzeitig  mit  der  'Mörhv  das  Meister- 
lied von  Tannhäuser  (Germania  28,  44):  ein  Monolog  des  heimgekehrten 
Ritters  in  der  Form  des  Selbstberichtes,  an  die  Tradition  des  Tageliedes 
(II,  11  f.)  angeknüpft.  Es  setzt  das  Tannhäuserlied  durchaus  voraus,  das 
es  seltsam  entstellt:  aus  jenem  Vers  „uemt  urlob  von  dem  greisen" 
wird  (III,  4): 

wo  ir  seit  in  dem  lant,  das  merket  zware, 
so  habt  euch  Urlaub  von  dem  grünen  reise. 

Es  gehört  zu  den  wunderlichen  Entgleisungen,  ■  an  denen  die  Tann- 
häuserforschung nicht  arm  ist,  dass  der  Herausgeber  Karl  Goedeke  be- 
merkt: „Das  Meisterlied  scheint  von  allen  das  älteste  zu  sein,  da  es  nur 
Sünde  und  Reue  kennt,  aber  noch  nicht  das  Wunder  des  grünenden 
Stabes,  das  die  Verzeihung,  die  hier  nur  erhofft  wird,  verbürgen  sollte" 
(Germ.  28,  44),  was  ihm  vielfach  nachgesprochen  worden  ist.  Aber  der  Tann- 
häuser, der  im  Venusberg  Gott  anfleht,  kann  ja  doch  noch  gar  nicht  erlöst 
sein!  Es  wäre  ja  gegen  alle  Logik,  wenn  er  schon  von  dem  Wunder  in 
Rom  wüsste! 

Nun  kommt  auch  endlich  (1515)  das  alte  Volkslied  zum  Druck  und 
gewinnt  eine  weite  Verbreitung,  von  der  vorreformatorischen  und  refor- 
matorischen Stimmung  der  Zeit  gefördert.  Aber  auch  hier  fliesst  keine 
Andeutung  ein,  die  auf  das  Land  Tuscia,  auf  Norcia  oder  sonst  auf  Italien 
wiese;  Frau  Venusberg  im  Volkslied  bleibt  wie  der  Venusberg  im  Meister- 
lied ein  mythisches  Irgendwo,  so  wenig  lokalisiert  wie  'Elfenhöh'  oder 
der  'dunkle  Tann'  der  Edda  (vgl.  meine  Altgermanische  Religionsgeschichte 
S.  46!>,  10).  Der  Venusberg  der  Tannhäusersage  ist  niemals  anders  als 
durch  den  Glauben  gelehrter  Forscher  in  das  Land  jenseits  der  Alpen 
versetzt  worden.  — 

Unsere  Untersuchung  hat  also  auf  beide  Hauptfragen  zu  überein- 
stimmenden Antworten  geführt:  die  Tannhäusersage  bezieht  sich  auf  den 
Minnesinger  und  ist  in  Deutschland  entstanden;  der  Venusberg  gehört  ihr 
von  Anfang  an  und  ist  erst  spät  durch  gelehrte  Forschung  (und  Char- 
latanerie  der  Fahrenden)  mit  dem  Sibyllenberg  gleichgesetzt  worden. 
Wie  der  Venusberg  über  die  Alpen  getragen  wurde,  glauben  wir  erklärt 
zu  haben;  aber  es  bleibt  noch  ein  Punkt  aufzuhellen.  Die  Identifizierung 
war  möglich,  weil  in  dem  Sibyllenberg  schon  längst,  zur  Zeit  des  Magna- 
botti,  des  de  la  Säle,  die  deutsche  Tannhäusersage  eine  zweite  Niederlassung 
hatte  (oben  S.  26).     Aber  wie  ist  sie  dahin  gekommen? 


•_>8  Meyer: 

'Das  frühe  Auftreten  der  Sage  vom  deutschen  Ritter  im  Sibyllen- 
berg' (Kluge  S.  51)  ist  ja  das  Hauptmotiv  für  diejenigen  Forscher,  die 
die  ganze  Sage  von  Italien  nach  Deutschland  wandern  Hessen.  E^ass  es 
für  diese  Route  nicht  zeugt,  glaube  ich  dargetan  zu  haben.  Aber  merk- 
würdig ist  es  ja  doch,  wie  die  Sage  nach  Welschland  gelangte,  ehe  sie 
auch  daheim  deutliche  Spuren  hinterlassen  hatte.  Doch  führten  wir  schon 
(i  runde  an.  die  das  lange  Schweigen  der  deutschen  Quellen  erklärlich 
machen  helfen  (oben  S.  15). 

Das    wichtigste    ist,    dass    in    der  "Verherrlichung    von  Gottes    Gnade 

gegenüber    der  Strenge    des  Papstes    doch    eben  gleich    eine,    wenn  auch 

zunächst  latente,  Ketzerei  lag.    Die  Sage  von  dem  Ritter,  den  Gott  erlöst, 

obwohl    er    sich    der    Frau  Venus  ergeben  hatte,   war  in  dieser  Form  für 

die  Orthodoxie    im    Lande    des  Papstes    unmöglich.      Es  musste    ein  viel 

stärkerer  Ausdruck  des  Abscheues  gegenüber  der  Sünde  gefordert  werden. 

Frau  Venus  kommt  in  den  Tannhäuserliedern  viel  zu  gut  fort.     Wohl  ist 

sie  'eine  Teufelin';    aber  von    ihrem  roten  Mund    und  ihrem  stolzen  Leib 

ist  doch  mehr    die  Rede    als  von    ihrer  Abscheulichkeit.     Ganz  anders  in 

den    italienischen  Tannhäuserberichten.     Da  wird    sie    samt  ihren  Frauen 

jeden  Freitag  (de  la  Säle  bei  Dübi   S.  254)  oder  Samstag    (Guerino,   ebd. 

S.  251)  oder  gar  jede  Nacht  (Leandro  Alberti,  ebd.  S.  258)  eine  greuliche 

Schlange.      Eben    dieser    Zug    kehrt    nun    in    der    St.  Gallischen  Version 

wieder: 

Tanhuser  war  ein  wundrige  Knab, 
Gross  Wunder  geht  er  zu  schauen, 
Er  gell  woll  uf  Fru  Vrenes  Berg 
Zu  den  dri  schöne  Jungfraue. 

Die  sind  die  ganze  Woche  gar  schön, 
Mit  Gold  und  Side  behänge, 
Hand  Halsgeschmeid  an  und  Maienkron  — 
Am  Samtig  sind  Otre  und  Schlange. 

Von  seinem  Standpunkt  aus  musste  Kluge  (S.  53)  hier  'den  alten 
Zug  mit  bewunderungswürdiger  Treue  gewahrt'  sehen,  Dübi  ebenso  (S.  263) 
besonders  'deutliche  Spuren  der  italienischen  Legende'  als  Beweis  der 
Wanderung  aus  Italien  durch  die  Schweiz  nach  Deutschland  auffassen, 
Nyrop  (S.  72)  liier  die  ursprüngliche  und  vollständige  Fassung  der  Sage 
entdecken.  Auch  ist  ja  hier  wiederum  der  Zusammenhang,  um  Nyrops 
Lieblingswort  (S.  44,  99  u.  ö.)  zu  gebrauchen,  'unzweifelhaft'.  Aber  nicht 
so  wieder  die  Interpretation. 

Sieht  man  von  den  Beziehungen  zu  den  drei  (oder  zwei)  italienischen 
Versionen  ab,  so  wäre  wohl  kaum  jemand  auf  den  Gedanken  gekommen, 
gerade  die  St.  Gallische  Fassung  für  besonders  alt  zu  erklären.  'Romantisch 
heildunkel  und  sprunghaft',  sagt  Erich  Schmidt  (S.  36),  künden  diese 
Schweizerlieder,  Altes  und  Neues  mischend,  die  Geschichte  des  Helden  — 


Tannhäuser  und  die  Tannlniusersage.  29 

man  denke  nur  an  die  rhetorische  Anapher  der  vorletzten  Strophe  im 
Entlibucher  Lied!  Dass  Tannhäuser  zu  den  drei  schönen  Jungfrauen 
geht,  stimmt  weder  zu  den  andern  Berichten  (auch  nicht  zu  Felicia  und 
Juno  bei  der  Sibylle  im  Wartburgkriege!),  noch  ist  es  mit  der  Sage  als 
solcher  in  Übereinstimmung  zu  bringen,  die  überall  eine  grosse  Vertreterin 
der  Weltlust  in  den  Vordergrund  stellt.  (Auf  die  Verschiebung  des 
Schlangentages  leg  ich  wenig  Gewicht,  da  auch  schon  Andrea  und  de  la  Säle 
differieren;  immerhin  liegt  auch  hier  ein  Missverständnis  vor,  da  der 
Sonntag  durch  des  Papstes  Messe  den  Unholdinnen  gerade  Freiheit 
gewährt).  Die  mannigfachen  späten  Beziehungen,  die  Dübi  (S.  263)  auf- 
zählt, beweisen  auch  eben  nur,  dass  die  Tannhäusersage  hier  wie  an 
andern  Orten  (vgl.  ebd.  S.  261;  Elster  S.  7)  lokalisiert  worden  war.  Und 
vor  allem  nun:    was  beweist  jener  wichtige  Zug  selbst? 

Auch  hier  hat  man  die  Frage  aufzuwerfen,  ob  das  Weglassen  so 
leicht  zu  erklären  wäre  wie  der  Zusatz.  Ich  glaube:  nein.  Wir  ver- 
stehen, dass  jener  sagenhafte  Zug  eingefügt  wurde,  um  das  Grauen  vor 
den  höllischen  Gestalten  zu  vermehren.  Die  erbauliche  Tendenz  im 
Guerino  (Kluge  S.  48)  hat  die  Ottern  vielleicht  erst  in  den  Liebesgarten 
gebracht:     'latet    anguis    in    herba\  Weshalb    aber    sollte    das    Lied 

sie  ausscheiden,    wenn    es    sie    vorfand?      Sie    hätten    den    Eindruck    der 
unsühnbar-sühnbaren  Sünde  ja  nur  gesteigert! 

Wir  glauben  also:  wie  in  der  Vorgeschichte,  die  die  Berichte  vom 
Sibyllenberg  bringen  müssen,  während  die  deutschen  Lieder  die  sagen- 
hafte Situation  voraussetzen  können,  so  liegt  auch  hier  ein  fremder  Zusatz 
vor.  Die  schweizerische  Lesart  beweist  nichts  für  die  Heimat,  aber  viel 
für  die  Wege  der  Sage. 

Die  Schweiz  ist  der  natürliche  Vermittler,  und  andere  Sagen,  die 
diesen  Weg  eingeschlagen  haben,  sie  vielleicht  wirklich  in  südnördlicher 
Richtung,  fehlen  nicht  (Dübi  S.  48).  Wir  können  aber  vielleicht  die 
Umschlagstelle  noch  genauer  bezeichnen.  In  Zürich  beweist  die  starke 
Vertretung  Tannhäusers  in  der  Heidelberger  Handschrift,  die  denn  doch 
wohl  die  Manessische  ist,  für  ein  besonderes  Interesse  an  dem  Minne- 
singer (vgl.  oben  S.  25).  In  der  Schweiz  ist  das  Lied  mehrfach  verbreitet, 
die  Sage  mehrfach  lokalisiert  (Dübi  S.  260 f.);  in  Luzern  liegen  Hans 
Wohlgestanden  (ebd.  S.  260)  und  Hans  Sager  (S.  261)  wegen  angeblicher 
Venusbergfahrt  im  Turm.  In  Zürich  ist  Hemmerlin  Chorherr,  Faber, 
aus  altem  patrizischem  Geschlecht  der  Schmied  (dem  später  der  von 
0.  F.  Meyer  besungene  Komthur  angehört),  Dominikanermönch.  Aus  Luzern 
stammen  der  Junker  Zurgilgen  (Dübi  S.  260f.)  und  die  Entlibucher  Fassung; 
die  beiden  andern  aus  St.  Gallen  und  Aargau.  In  der  deutschesten  Ecke 
der  Schweiz  haben  wir  das  Verbreitungsgebiet  der  Tannhäusersage  — 
um  den  Vierwaldstättersee,  im  Aargau,  St.  Gallen,  weniger  schon  im 
Bernischen.     In  Luzern  wird,    wie  wir    nun  sagen  dürfen,    der  Name  des 


3()  Meyer:   Tannhäuser  und  die  Tannhäusersage. 

Helden  zu  einem  Geschlechtsnamen  (Dübi  S.  261).  Aber  in  demjenigen 
Teile  der  Schweiz,  der  nach  Italien  neigt,  finden  wir  keine  Sparen  der 
ano-eblich  von  dort  nach  der  Schweiz  eingeführten  Sage;  schon  das 
romanischem  Einfluss  zugängliche  Baselland  fällt  aus.  Das  schweizerische 
Zentralgebiet  der  Tannhäusersage  schliesst  an  das  süddeutsche  (mit  Frei- 
burg im  Breisgau)  unmittelbar  an. 

Xun  wird  man  sagen:  da  doch  die  Schweiz  jedenfalls  vermittle,  be- 
weise diese  Sage  nichts  für  die  Richtung  der  Übermittlung.  Aber  das 
trifft  keineswegs  zu.  Jenseits  der  Alpen  haben  wir  nur  vereinzelte 
Spuren  der  Tannhäusersage  —  derartig  vereinzelt,  dass  sie  bis  auf  Gaston 
Paris  und  Söderhjelm  völlig  übersehen  werden  konnten.  Solche  spär- 
lichen 'Spritzer  konnten  durch  jede  beliebige  Anregung  vermittelt  werden. 
Diesseits  haben  wir  eine  starke  und  breite  Vertretung  in  zahlreichen 
Liedern,  Anspielungen,  Lokalisierungen.  Wäre  diese  reiche  Saat  aus  den 
Körnern  erwachsen,  die  in  der  italienischen  Heimat  auf  steinigen  Boden 
fielen  (was  an  sich  ja  nicht  undenkbar  wäre),  so  müssten  wir  auf  dem 
Weg  diesseits  der  Grenze  mehr  Anzeichen  der  Wanderung  finden,  als 
Dübis  Pleiss  aufspüren  konnte. 

Ich  glaube,  wir  dürfen  daran  festhalten,  dass  die  Hauptstadt  der 
'deutschesten  Schweiz'  die  Tannhäusersage  an  Italien  abgegeben  hat.  In 
Zürich  lebte  schon  zur  Zeit  des  Manesse  ein  besonderes  Interesse  für  den 
Sänger;  aus  Zürich  kommen  im  15.  Jahrh.  die  ersten  'Tannhäuserforscher' 
und  insbesondere  Felix  Faber  begründet  die  (sit  venia  verbo)  Venus- 
bergphilologie, in  deren  Nebenzweig,  die  Forschung  über  den  Sibyllen- 
berg, übrigens  sogar  Goethe  eingetreten  ist:  im  Anhang  zum  'Cellini' 
verweist  er  zu  des  Künstlers  nekromantischen  Abenteuern  auf  „ein 
italienisches  Märchen,  Guerino  Meschino,  und  ein  altes  französisches  W^erk", 
jedenfalls  de  la  Säle  (Weimarer  Ausg.  44,  359;  vgl.  Kluge  S.  53  Anm.).  — 
Zwischen  Rüdiger  Manesse  und  Felix  Faber  wird  sich  wohl  noch  irgend 
ein  Zürcher  gefunden  haben,  der  ein  Augenmerk  auf  Tannhäuser  hatte, 
oder  sonst  jemand  de  Alemannia.  Dem  fiel  bei  dem  obligatorischen 
Besuch  des  Sibyllenbergs  (und  des  für  die  Urkantone  besonders  inter- 
essanten Pilatusbergs)  der  Venusberg  ein:  Dämonen  und  Zauber  hier  und 
dort,  hier  und  dort  gefährlicher  Eintritt,  weil  unsicherster  Ausgang.  Und 
Andrea  dei  Maguabotti  aus  Barbarino,  maestro  di  canto  und  Vielschreiber 
(Gaspary,  Gesch.  der  ital.  Lit.  2,  262),  der  von  überall  her  Kuriositäten 
aufrafft,  „die  Sitten  der  Einwohner,  die  Pflanzen  und  Spezereien,  die  Un- 
geheuer" (ebd.  S.  265),  griff  das  auf.  Und  so  pflanzte  er  vielleicht  das 
erste  Reis  der  Tannhäusersage  in  welscher  Zunge;  doch  sollte  dieser 
dürre  Stab  keine  Blüten  tragen.  Denn  wenn  auch  Nyrop  von  der  Sage 
nur  den  Kamen  des  Helden  für  germanisch  hält  —  den  er  dann  auch 
noch  mit  dem  treuen  Aventin  (Erich  Schmidt  S.  31)  aus  'Thanauses" 
hätte  ableiten  mö^en  —  die  Erfahrung  der  Jahrhunderte  hat  doch  gezeigt, 


Loewe:   "Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  31 

dass  diese  Legende  nur  dem  germanischen  Geist  entspricht.  Selbst  die 
germanischen  Nachbarländer  haben  sich  dieser  tiefsinnigen  Sage  ver- 
schlossen, —  das  Lied  ward  „von  den  Dänen  unerfreulich  bearbeitet,  in 
Holland  frei  umgetauft,  mit  Bewahrung  manches  alten  Zuges  umgestaltet 
in  der  Schweiz",  urteilt  ein  Kenner  wie  Erich  Schmidt  (S.  31).  Ich  denke, 
schliesslich  beweist  auch  dies  nicht  wenig  für  die  Ursprungsfrage.  Gewiss, 
auch  Sagen  können  adoptiert  werden,  und  ein  deutscher  Tondichter  hat 
aus  der  spanischen  Don  Juan-Fabel,  ein  deutscher  Poet  sogar  aus  der 
antiken  Legende  von  Amphitryon  das  Letzte  und  Tiefste  herausgeholt. 
Dass  aber  den  Kern  einer  Sage  nur  die  Entlehnenden  fühlen  und  er- 
halten, die  Nation  dagegen,  der  sie  entsprungen  sein  soll,  nur  Spuk  und 
Zauberschein  damit  zu  verbinden  weiss,  das  wäre  denn  doch  gar  zu 
paradox.  Nein,  Heinrich  Heine  und  Richard  Wagner  sind  auch  Zeugen 
für  den  deutschen  Ursprung  der  Tannhäusersage,  wie  es  Goethe  trotz 
Theophilus  für  den  der  Faustsage  und  Schiller  trotz  Eigil  für  den  der 
Tellsage  sein  könnte. 

Doch  solche  Argumente  soll  man  nur  als  Schlussstein  bringen.  Ich 
bin  absichtlich  so  umständlich  und  mit  pedantischen  Wiederholungen, 
breiten  Analysen  nicht  sparsam  vorgegangen.  Der  Pfad,  den  Meister  der 
Methode  wie  Ludwig  Uhland,  Gaston  Paris,  Erich  Schmidt  freigelegt,  den 
Forscher  wie  Werner  Söderhjelm,  Friedrich  Kluge,  Heinrich  Dübi,  Ernst 
Elster,  Fridrich  Pfaff  mit  Glück  weiter  gebahnt  haben,  soll  nicht  durch 
das  tumultuarische  Vorgehen  einer  allzu  populären  Schrift  unwegsam 
gemacht  werden.  Gerade  weil  Nyrop  temperamentvoll  und  geistreich 
schreibt,  mag  er  viel  Schüler  in  den  Sibyllenberg  locken;  im  Venusberg 
aber  ist  er  nie  gewesen. 

Berlin. 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben. 

Von  Richard  Loewe. 

(Vgl.  oben  18,  1.  151.) 


Mein  früherer  Bericht  über  die  heutigen  volkstümlichen  Anschauungen 
und  Erzählungen  über  Rübezahl  konnte  wegen  der  Kürze  der  Zeit, 
die  mir  für  meine  Sammlungen  zu  Gebote  gestanden  hatte,  nur  ein 
sehr  unvollständiger  sein,  weshalb  ich  im  Juli  und  August  1909  —  und 
zwar  diesmal  auf  mehr  als  fünf  Wochen  —  abermals  eine  Reise  in  das 
Riesengebirge  unternahm.  Meinen  Plan,  möglichst  in  allen  Teilen  dieses 
Gebietes  Sammlungen  vorzunehmen,  konnte  ich  freilich  auch  diesmal  nicht 


32  Loewe: 

vollständig  durchführen,  wie  ich  denn  in  dessen  östlichstem  Striche  um 
Landeshut  überhaupt  nicht  gewesen  bin;  dagegen  habe  ich,  um  der  geo- 
graphischen Verbreitung  der  Rübezahlsage  nachzugehen,  die  Grenzen  des 
eigentlichen  Rieseugebirges  überschritten,  und  zwar  westlich  desselben  fast 
das  ganze  Isergebirge  durchquert,  östlich  davon  aber  wenigstens  noch  das 
kleine  Rabengebirge  besucht;  ausserdem  aber  habe  ich  zufällig  noch  ein 
Rübezahlmärchen,  das  noch  viel  weiter  östlich,  im  Eulengebirge,  erzählt 
wurde,  in  einem  Riesengebirgsdorfe  gehört  und  anderwärts  auch  noch  über 
Rübezahl  geltende  Anschauungen  aus  dem  nördlich  vom  Riesengebirge 
liegenden  Bober-Katzbachgebirge  und  wieder  anderwärts  solche  aus  dem 
weit  nördlich  vom  Eulengebirge  gelegenen  Zobtengebirge  erfahren.  Im 
übrigen  ist  es  mir  noch  besonders  wichtig  erschienen,  möglichst  in  der 
Nähe  der  Hauptlokalisierungsstätte  Rübezahls  auf  dem  Brunnberg,  d.  h.  in 
den  zur  Gemeinde  Petzer  (Gross- Aupa  III)  gehörigen  Häusergruppen  des 
Riesengrundes,  des  Stumpengrundes,  des  Blaugrundes  und  der  Richter- 
bauden Material  zu  gewinnen. 

An  meiner  Absicht,  meine  Forschungen  im  Riesengebirge  fortzusetzen, 
hatte  mich  auch  der  Angriff  nicht  irremachen  können,  den  Prof.  Dr. 
Theodor  Siebs,  Mitteilungen  der  schlesischen  Gesellschaft  für  Volkskunde, 
Heft  XX  S.  128  ff.,  gegen  den  Wert  meiner  Sammlungen  gerichtet  hat. 
Siebs  behauptet,  es  sei  von  vornherein  höchst  unwahrscheinlich,  dass 
„einem  Sommerfrischler,  sobald  er  ins  Riesengebirge  hineinschaut,  in 
Hülle  und  Fülle  die  Sagen  zuströmen  sollten,  wo  sie  den  besten  Kennern, 
die  im  Gebirge  heimisch  sind,  verborgen  blieben".  Nun,  ich  habe  meine 
zweite  Riesengebirgsreise,  die  des  Jahres  1907,  keineswegs  als  Sommer- 
frischler, sondern  lediglich  zum  Zwecke  der  Rübezahlforschung  unter- 
nommen, wenn  ich  auch,  durch  Regell  und  Cogho  irregeführt,  ursprüng- 
lich nur  die  Absicht  hatte,  mich  über  die  Lage  der  Punkte,  an  denen  die 
Erzählungen  von  Rübezahl  spielen,  genauer  zu  orientieren.  Auch  sind 
mir  die  Sagen  keineswegs  in  Hülle  und  Fülle  zugeströmt,  sondern  ich 
habe  mir  dieselben  bei  den  Leuten,  die  noch  über  Rübezahl  zu  erzählen 
imstande  und  zugleich  willens  sind,  mühsam  zusammensuchen  müssen. 
Ich  habe  aber  auch  Regell  und  Cogho  nicht  kurzweg  'gute  Kenner',  wie 
Siebs  mich  zitiert,  sondern  'gute  Kenner  des  Riesengebirges'  genannt, 
womit  ja  nicht  gesagt  ist,  dass  ich  sie  auch  für  gute  Kenner  der  Riesen- 
gebirgsbewohner halte.  Was  speziell  Cogho  betrifft,  so  hätte  er  sehr 
wohl  von  zwei  Leuten,  die,  wie  sie  mir  erzählten,  ihm  Auskunft  über 
Sasen  «;aben,  von  Gottlieb  Leder  in  Agnetendorf,  den  ich  1907  (vgl.  oben 
18,  15)  und  von  Robert  Fleiss  in  Krummhübel,  den  ich  1909  befragt 
habe,  erfahren  können,  dass  das  Volk  sehr  wohl  von  Rübezahl  spricht. 

Freilich  soll  nun  die  Äusserung,  dass  das  Volk  von  Rübezahl  nichts 
wisse,  jetzt  in  dem  Sinne  gemeint  sein,  dass  „die  Forscher  sowie  auch 
die  Leute  im  Gebirge,   die  als  Träger  echten  und  wertvollen  Sagenstoffes 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  33 

gelten  köünen,  die  sichere  Empfindung  haben,  dass  es  sieh  hier  eben 
nicht  um  altes  echtes  Gut  handle".  Von  dieser  Empfindung  habe  ich 
allerdings  bei  Leder  und  Fleiss,  die  doch  Cogho  als  Träger  echten  Sagen- 
stoffes augesehen  hat,  nichts  bemerkt;  Cogho  scheint  überhaupt  zu  seiner 
Ansicht,  wie  später  auch  Siebs,  nur  durch  Regell  gebracht  worden  zu  sein, 
vor  dem  kein  Forscher  je  behauptet  hat,  dass  das  Volk  von  Rübezahl 
nichts  wisse.  Regell  beruft  sich  in  einem  an  Siebs  gerichteten  und  von 
diesem  S.  130 f.  veröffentlichten  Briefe  auf  einen  jetzt  verstorbenen  Mann 
namens  Rose  aus  Klein-Aupa,  der,  selbst  ein  gläubiger  und  eifriger  Ver- 
treter des  Volksglaubens,  das  Vorhandensein  eines  solchen  Berggeistes  und 
irgendwelchen  Glauben  an  ihn  sehr  entschieden  geleugnet  habe;  das  gleiche 
behauptet  er  auch  von  seinen  andern  Gewährsmännern,  die  er  nicht  mit 
Namen  nennt.  Da  ich  diesen  „wurzelechten  Vertretern  unseres  Volks- 
glaubens" bisher  „keine  gleichwertig  erprobten  Zeugen  gegenübergestellt" 
hätte,  so  habe  er  alle  Veranlassung,  an  seiner  bisherigen  Überzeugung 
festzuhalten  und  nehme  an,  dass  die  von  mir  „ausgekundeten  Rübezahl- 
märchen  nicht  auf  heimischem  Boden  gewachsen,  sondern  von  aussen, 
wahrscheinlich  auf  literarischem  Wege,  angeflogen  sind". 

Warum  freilich  die  von  mir  ausgefragten  Riesengebirgsbewohner  nicht 
auch  als  „wurzelechte  Vertreter  unseres  Volksglaubens"  gelten  sollen,  ver- 
mag ich  nicht  einzusehen.  Es  befinden  sich  darunter  solche,  die  wie 
Carolina  Buchberger  aus  dem  Riesengrunde  (1908  S.  4)  und  Augustin 
Braun1)  aus  Gross-Aupa  (1908  S.  3)  des  Lesens  und  Schreibens  unkundig 
und  überhaupt  nur  im  Dialekt  zu  sprechen  imstande  sind.  Es  befindet 
sich  darunter  auch  ein  eifriger  Schatzsucher  und  Kenner  von  Schatzsagen 
wie  der  oben  genannte  Gewährsmann  Coghos,  Gottlieb  Leder  aus  Agneten- 
dorf.  Dazu  kommt,  dass  mir  von  den  verschiedensten  Leuten  aus  dem 
Volke  im  Riesengebirge  gesagt  wurde,  dass  früher  in  ihrer  Heimat  sehr 
viel  über  Rübezahl,  vielfach  auch,  dass  dort  von  ihm  mehr  als  von  anderen 
Geistern  gesprochen  worden  sei.  Ist  es  aber  bei  solcher  Lage  der  Dinge 
wirklich  denkbar,  dass  einzelne  stark  wundergläubige  Riesengebirgsbe- 
wohner nicht  auch  von  Rübezahl  gewusst  oder  aber  eine  Empfindung  da- 
für gehabt  haben  sollen,  dass  der  Rübezahl,  von  dem  andere  Leute  ihres 
Gebirges  erzählten,  nicht  eigentlich  der  Volkssage  angehörte?  WTenn 
wirklich  der  betreffende  Rose  und  die  übrigen  Gewährsleute  Regells  „eine 
Gleichstellung  ihrer  Mitteilungen  mit  den  Rübezahlsagen  geradezu  als 
eine  perfide  Kränkung,  als  einen  Zweifel  an  ihrer  eigenen  Glaubwürdigkeit" 
auffassten,  so  muss  der  Grund  dafür  in  etwas  anderem  zu  suchen  sein  als  darin, 
dass  die  Rübezahlsage  im  Riesengebirge  nicht  bodenständig  gewesen  wäre. 

Ich  habe  ja  schon  oben  18,  12  darauf  hingewiesen,  dass  zu  der  Scheu, 
speziell  von  Rübezahl  zu  sprechen,    schon    die  Schule   beigetragen  haben 


1)  Irrtümlich  von  mir  Valentin  Braun  genannt. 
Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.   1911.   Heft  1. 


34 


Loewe: 


wird,  in  der  die  von  diesem  erzählten  Geschichten  als  'Märchen'  oder 
'Sagen'  bezeichnet  werden,  während  von  Geistern  wie  dem  Nachtjäger 
oder  dem  grossen  Leuchter  doch  in  der  Schule  überhaupt  nicht  die  Rede 
ist.  Dazu  kam  gewiss,  dass  gerade  die  Fremden  im  Riesengebirge  viel 
nach  Rübezahl  fragten  oder  wenigstens,  wie  mir  ein  Fremdenführer  be- 
richtete, ihren  Kindern  dort  von  demselben  erzählen  Hessen,  wobei  sie  sich 
in  den  meisten  Fällen  gewiss  nicht  gescheut  haben  werden,  selbst  über 
Kübezahl  als  einen  Aberglauben  zu  lächeln.  Gerade  dadurch,  dass  die 
Rübezahlsage  auf  literarischem  Wege  in  Deutschland  so  bekannt  geworden 
ist,  waren  die  Riesengebirgsbewohner  überhaupt  dem  Spotte  ausgesetzt; 
so  sagte  mir  der  1839  in  Wolfshau  geborene,  jetzt  in  Brückenberg  wohn- 
hafte Benjamin  Wolf,  dass  beim  Militär  Leute,  die  wie  er  selbst  aus  dem 
Riesengebirge  gebürtig  waren,  mit  Rübezahl  gehänselt  wurden.  Und  als 
sich  im  Riesens-ebirge  Bücher  mit  Titeln  wie  'Märchen  von  Rübezahl' 
verbreiteten,  mussten  doch  auch  diese  dazu  beitragen,  die  Figur  Rübezahls 
in  noch  höherem  Grade  als  andere  Geister,  von  denen  man  im  Riesen- 
gebirge sprach,  als. einen  Aberglauben  empfinden  zu  lassen.  Unter  solchen 
Umständen  ist  es  doch  aber  gewiss  nicht  zu  verwundern,  wenn  einzelne 
Leute,  die  sonst  aus  ihrem  Geister-  und  Wunderglauben  keinerlei  Hehl 
machten,  doch  gerade  von  Rübezahl  durchaus  nichts  wissen  wollten. 

Ein  Beispiel  dafür,  wie  Leute,  die  mit  Rübezahl  sehr  wohl  Bescheid 
wussten,    doch  einem  Fremden    gegenüber    nichts  von  ihm   zu  wissen  be- 
haupteten, während  sie  sonst  ihren  Wunderglauben  nicht  verbargen,  habe 
ich  ja  schon  oben  18,  12  angeführt.    Dass  dieser  alte  Mann  -      es  war  der 
jetzt  verstorbene,  damals  vierundachtzigj ährige  Bradler  aus  St.  Peter,    der 
Schwiegervater  von  Vincenz  Hollmann  aus  der  Scharfbaude  (18,  11)  —  in 
Wirklichkeit  sehr  wohl  von  Rübezahl  wusste,    beweist    auch  die  Dialekt- 
form Ribezäl,    deren   er  sich  bediente  (18,  158).     Etwas  Ähnliches,    wohl 
noch  Bezeichnenderes    kann  ich    jetzt    von    meiner  letzten  Reise  aus  den 
Bradlerbauden  berichten.     Dort    erzählte    mir  der  daselbst  1836  geborene 
Gastwirt  Vincenz  Hollmann  zunächst    ganz    unbefangen    und  gläubig  vom 
Nachtjäger,  vom  Drachen  und  vom  Wassermann;    als  ich  ihn  aber  darauf 
nach  Rübezahl  fragte,    wollte    er    zunächst  nicht  mit  der  Sprache  heraus. 
Als  ich  dann  weiter  in  ihn  drang,  sagte  er,  dass  er  von  Rübezahl  nur  auf 
der    schlesischen  Seite    des  Gebirges    gehört    habe;    dort    hätte    man  be- 
hauptet,   dass  bei   den  Schneegruben  Rübezahls  Kammer    sein    sollte,    wo 
sich  dieser    in    einer  Schlucht    des  Felsens    aufhielte.     Nun    ist  aber  eine 
Kammer  Rübezahls    bei  den  Schneegruben    sonst    ganz    unbekannt;    wohl 
aber  gibt  es    auf   der  böhmischen  Seite    des  Gebirges    am  Pantschefalle, 
also  ziemlich  nahe  bei  den  Bradlerbauden  selbst,    eine  Schlucht,    die  von 
den    Umwohnern    'Rübezahls    Schatzkammer'    genannt    und    als    ein  Auf- 
enthaltsort   Rübezahls    gedacht    wird.      Offenbar     hatte    Hollmann     diese 
Schlucht  im  Sinne,    verlegte    sie    aber  mit   etwas  verändertem  Namen  auf 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  35 

die  schlesische  Seite,  um  die  Bewohner  seiner  eigenen  Heimat  und  be- 
sonders sich  selbst  nicht  in  den  Verdacht  zu  bringen,  an  Kübezahl  zu 
glauben.  Er  erzählte  mir  dann  auch  eine  Geschichte  (die  ich  weiter 
unten  wiedergebe)  von  jemandem,  der  in  den  grossen  Teich  stieg,  und 
nannte  dabei  den  Betreffenden  zunächst  nur  einen  'Mann1,  gab  dann  aber 
auf  Befragen  zu,  dass  es  in  Wirklichkeit  Rübezahl  war;  die  Erzählung 
deckt  sich  in  der  Hauptsache  auch  mit  einem  mir  auf  derselben  Reise 
zuvor  vom  Schuhmacher  Hertrampf  in  Arnsdorf  berichteten  Rübezahl- 
märchen. Auch  wenn  ich  in  Kiesewald  und  Petersdorf  auf  Leute  ge- 
stossen  bin,  die  mir  sagten,  dass  dort  zwar  früher  vom  Nachtjäger  usw., 
aber  nicht  von  Rübezahl  gesprochen  worden  sei  (18,  17  ff.),  so  führe  ich 
das  jetzt  nicht  mehr  auf  den  Umstand  zurück,  dass  manche  Leute  in 
diesen  Dörfern  wirklich  mehr  von  anderen  Geistern  als  von  Rübezahl 
gesprochen  haben,  sondern  vielmehr  darauf,  dass  meine  Berichterstatter 
in  dem  Glauben  an  Rübezahl,  von  dem  ja  in  Wirklichkeit  allerwärts  im 
Riesengebirge  und  weit  darüber  hinaus  (wenn  auch  in  verschieden  starkem 
Masse)  erzählt  wurde,  einen  stärkeren  Aberglauben  als  in  den  Vorstellungen 
von  anderen  Geistern  sahen. 

Bei  solcher  Sachlage  kann  ich  allerdings  Siebs'  Rate  nicht  folgen,  zu 
meinen  früheren  mir  von  Regell  eingegebenen  Zweifeln  zurückzukehren. 
Siebs  meint  allerdings,  dass  Regell  als  Sohn  des  schlesischen  Stammes  für 
•das  Echte  bei  diesem  ein  ganz  besonderes  Gefühl  hätte,  das  der  Fremde 
bei  allem  Eifer  sich  niemals  aneignen  könnte.  Nun,  Karl  Weinhold  war 
doch  auch  ein  Schlesier  und  über  volkskundliche  Dinge  mindestens  so  ur- 
teilsfähig wie  Regell  und  Cogho,  hat  aber  im  Gegensatz  zu  diesen  und  in 
Übereinstimmung  mit  Ulrich  Jahn  an  der  Bodenständigkeit  der  Rübezahl- 
sage im  Riesen-  und  Isergebirge  keinerlei  Zweifel  gehegt  (oben  (5,  332), 
wobei  es  srar  nichts  ausmacht,  dass  er  wie  letzterer  dem  Prätorius  eine 
selbständige  Übertragung  einer  grossen  Menge  von  Sagen  auf  Rübezahl 
zuschreibt;  verweist  er  doch  auch  ausdrücklich  auf  den  von  Jahn  im  Iser- 
gebirsre  gefundenen  Namen  Geigenfriedel  oder  Fiedelfritz  für  Rübezahl, 
und  hat  er  auch  selbst  die  von  diesem  Forscher  dort  gesammelten  Rübe- 
zahlmärchen später  (oben  11,  336 f.)  veröffentlicht.  Gegenüber  der  Meinung 
Regells  aber,  der  doch  wohl  nicht  speziell  aus  dem  Riesengebirge  ge- 
bürtig ist,  möchte  ich  mich  hier  noch  weiter  auf  das  Urteil  einiger  Lehrer 
berufen,  die  in  diesem  Gebirge  selbst  geboren  sind  und  dort  stetig  oder 
grösstenteils  gelebt  haben.  So  sagte  mir  der  1858  in  Trautenau  geborene 
und  seit  1889  in  Gross-Aupa  amtierende  Oberlehrer  Joseph  Kohl  folgendes: 

„Ich  habe  den  Eindruck,  dass  es  sich  bei  Rübezahl  um  eine  ganz  volkstüm- 
liche Sage  handelt,  die  nicht  erst  durch  die  Literatur  in  das  Volk  gekommen  ist. 
Rübezahl  ist  den  Bewohnern  von  Gross-Aupa  sogar  vertrauter  als  der  Nachtjäger, 
der  Feuermann  und  andere  Geister.  Bücher  über  Rübezahl  waren  im  böhmischen 
Riesengebirge  nur  sehr  selten  zu  finden;  im  letzten  Jahrzehnt  hat  allerdings  der 
Riesengebirgsverein  solche  verbreitet.     Seit  Anfang  der  18*0 er  Jahre  gibt  es  Rübe- 

3* 


3c  Loewe: 

zahlbücher  in  den  Schulbibliotheken;  einiges  über  Rübezahl  steht  auch  in  den 
Schullesebüchern.  Doch  besteht  erst  seit  1869  der  Schulzwang  in  Österreich;  vor- 
her gingen  viele  Kinder  im  Riesengebirge  gar  nicht  zur  Schule,  die  anderen  meist 
nur  im  Winter.     Es  gab  daher  sehr  viele  Analphabeten." 

Ferner  sagte  mir  der  1866  gleichfalls  in  Trautenau  geborene  und  jetzt  gleich- 
falls in  Gross-Aupa  amtierende  Lehrer  Alfred  Burger,  dass  er  durchaus  den  Ein- 
druck habe,  dass  es  sich  bei  Rübezahl  um  eine  durch  und  durch  volkstümliche 
Sage  ohne  Einwirkung  irgendwelcher  Literatur  handele,  wozu  er  noch  bemerkte, 
dass  die  Sage  auch  in  Trautenau  selbst  noch  lebendig  sei.  Das  gleiche  Urteil 
hörte  ich  auch  von  dem  1881  in  Ober-Altstadt  geborenen  Rudolf  Hofmann,  der 
seit  1905  in  Petzer  Lehrer  ist.    Derselbe  teilte  mir  im  einzelnen  noch  folgendes  mit: 

„In  Ober-Altstadt  sprechen  alte  Leute  jetzt  noch  von  Rübezahl,  und  zwar  mehr 
als  vom  Feuermann  und  vom  Nachtjäger.  Was  man  vom  Nachtjäger  erzählt,  ver- 
legt man  immer  südlich  von  Trautenau,  wo  früher  die  Ober-Altstädter  Hauern  nach 
Prag  fuhren.  Die  Geschichten  von  Rübezabl  lässt  man  dagegen  entweder  im 
Hochgebirge  oder  um  Ober-Altstadt  selbst  spielen." 

Auf  der  schlesischen  Seite  des  Riesengebirges  berichtete  mir  der  1860  in 
Lomnitz  geborene  Kantor  Prescher  in  Arnsdorf,  der  auch,  durch  mich  angeregt,  in 
seiner  Klasse  die  Kinder  fragte,  ob  sie  etwas  über  Rübezahl  wüssten,  folgendes: 

„Die  geeignete  Zeit,  viel  über  Rübezahl  zu  erfahren,  ist  leider  vorüber;  vor 
ungefähr  zehn  Jahren  lebten  noch  die  alten  Gebirgler,  die  an  den  sogenannten 
Lichtenabenden  die  Geschichten  von  ihm  erzählten.  Heute  ist  die  Sache  ver- 
schwunden; die  Menschen  haben  die  alten  Sitten  und  Gebräuche  abgelegt.  Die 
Rübezahlerzählungen  sind  auf  jeden  Fall  eine  echt  volkstümliche  Angelegenheit; 
literarischen  Einflüssen  ist  das  hiesige  Volk  wenig  zugänglich;  auch  würde  dann 
die  Sache  keine  solche  Allgemeinheit  erlangt  haben.  Die  ältesten  Rübezahlbücher 
habe  ich  bei  meinen  Schulkindern  vor  etwa  fünfzehn  Jahren  gefunden;  ich  selbst 
habe  als  Kind  solche  Bücher  nicht  gelesen ;  Erwachsene  lasen  sie  erst  recht  nicht. 
Bei  einer  Nachfrage  in  meiner  Klasse  meldeten  sich  fünf  oder  sechs  Kinder,  die 
als  ihre  Quellen  Bücher  über  Rübezahl  angaben.  Dagegen  erzählte  die  1897  in 
Fellhammer  geborene  Martha  Meier  eine  Rübezahlgeschichte,  die  sie  von  ihrer  in 
Silberberg  geborenen  Grossmutter  Emma  Menzel  hatte1).  Ferner  sagte  die  1898 
geborene  Margarethe  Seifert,  eine  Enkelin  des  vor  einigen  Jahren  gestorbenen 
Teichbaudenwirts  Häring,  dass  Rübezahl  den  Kräutersuchern  am  kleinen  Teich  er- 
schienen sei." 

Dass  an  den  Lichtenabenden  viel  von  Rübezahl  erzählt  wurde,  ist  mir  auch 
sonst  mehrfach  gesagt  worden.  Ferner  berichteten  mir  auch  auf  der  schlesischen 
Seite  des  Riesengebirges  verschiedene  alte  Leute,  dass  es  früher  auch  dort  trotz 
des  preussischen  Schulzwanges  viele  Analphabeten  gab,  weil  die  Kinder  im  Sommer 
meist  die  Kühe  hüten  mussten,  im  Winter  aber  wegen  der  schlechten  Wege  nicht 
zur  Schule  gehen  konnten. 

Ausser  den  genannten  Lehrern  bezeichneten  von  Gebildeten,  die  im  Riesen- 
gebirge aufgewachsen  waren  und  sich  für  das  Volksleben  ihrer  Heimat  sehr  inter- 
essierten, die  Rübezahlsage  als  echt  volkstümlich  der  in  Krummhübel  geborene 
Bergverwalter  Teichmann  (vgl.  oben  18,  13.  159)  sowie  der  1864  als  Sohn  eines 
Arztes  in  Wurzelsdorf  geborene  Kunstmaler  Franz  Rösler  in  Wien,  der  jetzt  noch 
die  Sommer  in  seinem  Heimatsdorfe  zubringt.  Letzterer  sagte  mir  auch,  dass 
Bücher  über  Rübezahl  erst  seit  25  Jahren  im  Riesengebirge  verbreitet  wären,  und 
führte  mich  dann  in  Wurzelsdorf  zu  Leuten,   die  mir  vortreffliche  Auskunft  gaben. 


1)  Diese  Geschichte  steht  gegen  Schluss  dieses  Aufsatzes. 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  37 

Aus  eigener  Erinnerung  teilte  er  mir    noch   mit,    dass  Rübezahl    mit  Kräutern  zu 
Heilzwecken  hausiert  und  dass  er  Gewitter  gemacht  haben  soll. 

Auch  die  Leute  aus  dem  Volke,  welche  mir  über  Rübezahl  Auskunft  erteilten, 
nannten  fast  durchweg  die  Erzählungen  älterer  Personen  als  die  Quellen  ihrer 
Kenntnis.  Eine  Ausnahme  machten  fast  nur  der  Schneidermeister  Bönsch  in  Mar- 
schendorf und  der  Uhrmacher  Tschiedel  in  Weisbach,  die  beide  über  Rübezahl 
zugleich  gehört  und  gelesen  haben  wollten.  Doch  schienen  mir  die  Angaben  des 
ersteren  zum  Teil  selbständig  von  ihm  vorgenommene  Übertragungen  auf  Rübe- 
zahl zu  sein,  so,  dass  sich  dieser  auch  in  einen  Hirsch  oder  Rehbock  mit  einem 
Kreuz  auf  der  Stirn  verwandeln  könnte,  der,  wenn  der  Jäger  auf  ihn  schiessen 
wollte,  verschwinde;  die  Geschichte  von  Rübezahl  als  Gläubiger  berichtete  er  so, 
dass  sein  Schuldner  die  Unterschrift  mit  Blut  machen  musste,  das  er  sich  aus  dem 
Finger  geritzt  hatte.  Bei  Tschiedel  fiel  es  auf,  dass  er  auch  über  den  Nachtjäger 
und  die  Buschweiber  nicht  nur  gehört,  sondern  auch  gelesen  haben  wollte.  Der 
1833  geborene  Feldgärtner  Mitlöhner  in  Gross-Aupa  behauptete,  schon  im  Alter  von 
20 — 25  Jahren  ein  Buch  über  Rübezahl,  das  ein  anderer  Gross-Aupaer  besass,  ge- 
lesen zu  haben,  bekannte  aber,  dass  er  nicht  viel  davon  behalten  hätte.  Der  1827 
in  Niederhof  geborene  Johann  Erben  sagte  mir,  dass  er  etwa  erst  vor  zehn  Jahren 
ein  Buch  über  Rübezahl,  das  sein  Enkel  aus  der  Schulbibliothek  mitgebracht,  ge- 
lesen habe,  aus  dem  er  mir  aber  nichts  erzählte.  Im  übrigen  berichtete  mir  von 
meinen  Gewährsleuten  nur  noch  der  Klein-Aupaer  Florian  Klein,  dass  er  ein  Buch 
über  Rübezahl  gelesen  hätte,  das  er  seit  etwa  30  Jahren  im  Hause  hat  (Rübezahl- 
Märlein  für  Klein  und  Gross  von  Ludwig  Bowitsch,  Wien  1877);  doch  setzte  er 
hinzu,  dass  er  die  Geschichten  des  Buches  nicht  im  Kopfe  behalten  hätte  und  mir 
nur  nach  den  Erzählungen  seines  Vaters  berichte:  auch  fände  man  sonst  solche 
Bücher  kaum  in  Klein-Aupa. 

Wenn  also  die  sonst  so  wundergläubigen  Gewährsleute  Regells  sich 
der  Rübezahlsage  gegenüber  'durchaus  ungläubig  und  ablehnend'  ver- 
halten haben,  so  kann  der  Grund  dafür  unmöglich  der  gewesen  sein,  dass 
sie  die  Rübezahlsage  nur  aus  der  Literatur  kannten  oder  doch  der 
Meinung  waren,  dass  dies  mit  denjenigen  Riesengebirglern,  die  von  Rübe- 
zahl erzählten,  der  Fall  war.  Wären  sie  wirklich  dieser  Ansicht  gewesen, 
so  hätten  sie  auch  schwerlich  „eine  Gleichstellung  ihrer  Mitteilungen  mit 
den  Rübezahlsagen  geradezu  als  eine  persönliche  Kränkung,  als  einen 
Zweifel  an  ihrer  eigenen  Glaubwürdigkeit''  aufgefasst,  wo  das  gedruckte 
W  ort  doch  auch  bei  dem  Manne  aus  dem  Volke  eher  mehr  als  weniger 
Glauben  als  das  gesprochene  findet,  zumal  es  doch  auch  Zaub erblicher, 
S.liatzsucherbücher  und  dergleichen  gibt  (dass  solche  auch  im  Riesen- 
gebirge nicht  unbekannt  sind,  zeigte  mir  eine  Mitteiluni;-  von  Coghos  Ge- 
währsmann  Leder,  wonach  er  selbst  ein  Schatzsucherbuch,  in  dem  auch 
von  der  Abendburg  die  Rede  war,  besessen  hatte).  Mindestens  aber  hätte 
zu  der  Entrüstung  von  Regells  Gewährsleuten  über  die  Zumutung,  an 
Rübezahl  zu  glauben,  in  diesem  Falle  gar  keine  Veranlassung  vorgelegen. 

Wohl  aber  wird  diese  Entrüstung  verständlich,  wenn  die  betreffen- 
den Leute  irgendwelche  Fremde  über  Rübezahl  hatten  spötteln  hören  oder 
doch  in  der  Schule  gelernt  hatten,  dass  Rübezahl  dem  Aberglauben  an- 
gehörte.    An  andere  Geister,    über  welche   weder    die   Fremden   sprachen, 


38 


Loewe : 


noch  auf  welche  die  Schule  aufmerksam  machte,  konuteu  sie  sehr  wohl 
weiter  glauben.  Dass  Wundergläubige  einzelnes,  was  sonst  Volksglaube 
ist,  doch  für  Aberglauben  halten  können,  dafür  habe  ich  ja  oben  18.  18 
und  21  Beispiele  angeführt. 

Noch  viel  weniger  würde  sich  die  Stellungnahme  von  Regells 
Gewährsleuten  daraus  erklären  lassen,  dass  die  Rübezahlsage  einmal  in 
früheren  Zeiten  aus  der  Literatur  in  den  Volksmuud  übergegangen  wäre. 
Denn  die  Leute  aus  dem  Volke  können  höchstens  unterscheiden  zwischen 
dem,  was  sie  selbst  gelesen,  und  dem,  was  sie  selbst  gehört,  aber  inner- 
halb des  letzteren  doch  sicher  niemals  zwischen  dem,  was  schon  ihre  Vor- 
fahren gehört,  und  dem,  was  diese  gelesen  haben. 

Aus  den  oben  gegebenen  Darlegungen  geht  auch  soviel  deutlich  her- 
vor, dass  Rübezahl  mindestens  schon  seit  einigen  Menschenaltern  eine 
vollständig  volkstümliche  Sagenfigur  des  Riesengebirges  bildet.  Dass  er 
dies  nicht  erst  durch  Musäus  und  seine  Nachfolger  geworden  ist,  darauf 
weist  auch  deutlich  der  Umstand,  dass  er  in  Abweichung  von  dieser  jungen 
Literatur  in  der  heutigen  Volkssage  bisweilen  auch  als  böser  Geist  auf- 
tritt und  mit  dem  Teufel  identifiziert  wird,  so  in  der  weit  verbreiteten 
Sage  von  seiner  Absicht,  Schlesien  zu  üb  erschwemm  pn;  merkwürdig  ist 
ganz  besonders  noch,  dass  die  Auffassung  von  Rübezahl  als  einem  über- 
haupt bösen  Geiste  gerade  an  seiner  Hauptlokalisierungsstätte,  im  Riesen- 
srunde,  herrscht.  Dafür,  dass  Rübezahl  mindestens  schon  vor  Musäus  dem 
Volke  im  Riesengebirge  durchaus  bekannt  war,  spricht  auch  vor  allem 
noch  seine  dort  jetzt  noch  weit  verbreitete,  zu  Prätorius  stimmende 
Namensform  Ribenzäl,  deren  „n"  der  von  Musäus  und  seinen  Nachfolgern 
gewählten  Form  fehlt. 

Wollte  man  nun  aber  aus  irgendwelchen  Gründen  annehmen,  dass 
Rübezahl  in  noch  früherer  Zeit  aus  der  Literatur  in  die  Volkssage  des 
Kiesengebirges  übergegangen  wäre,  so  ergibt  sich  dabei  zunächst  die 
Schwierigkeit,  dass  damals  die  Zahl  der  Analphabeten  noch  bedeutend 
grösser  als  im  19.  Jahrhundert  gewesen  sein  muss,  und  dass  auch  bei  den 
wenigen  Leuten,  die  etwa  lesen  konnten,  die  noch  heute  im  Riesengebirge 
bestehende  Scheu,  Geld  für  Bücher  auszugeben  (von  der  mir  dort  wieder- 
holt erzählt  worden  ist),  gleichfalls  schon  bestanden  haben  wird.  Ein 
wichtigeres  Kriterium  aber  als  diese  Erwägung  bieten  wieder  die  volks- 
tümlichen Namensformen  für  Rübezahl,  und  zwar  in  diesem  Falle  die 
Vokalverhältnisse  des  zweiten  Bestandteils. 

Die  Form  mit  einem  nach  ö  hinklingenden  ä  (Ribenzäl,  Ribazäl)  ist 
die  im  Südosten  des  Riesengebirges,  d.h.  im  Riesengrunde,  in  Gross-Aupa, 
Johaunisbad  usw.  volksübliche  entsprechend  der  dort  geltenden  Vertretung 
von  mhd.  age  durch  ein  solches  ä  z.  B.  in  trän  'tragen*,  wän  'Wagen',  näl 
Nagel*.  Weiter  westlich  jedoch,  in  St.  Peter  und  Spindelmühle  sowie  in 
Niederhof  und  Hackelsdorf,    sagen  die    alten  Leute  Ribezäl  entsprechend 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  39 

der  Vertretung  von  mhd.  age  durch  ä,  z.  B.  in  trän  'tragen',  wän 
'Wao'en'  näl  'Nao-eF.  Geht  man  weiter  nach  Westen,  d.  h.  nach  Witko- 
witz,  Wurzelsdorf  usw.,  so  stösst  man  wieder  auf  Rlbezäl  in  Überein- 
stimmung mit  den  Dialektformen  trän,  wän,  näl  usw.  (nur  mit  dunklem 
ä).  So  lautet  es  auch  noch  nordwestlich  hiervon  in  Klein-Iser  im  Iser- 
o'ebir°-e;  geht  man  jedoch  noch  weiter  nordwestlich  nach  Weisbach,  so 
findet  man  dort  die  Form  Ribzöil  neben  tröin,  wöin,  nöil.  Weiter  nörd- 
lich, wie  in  Schönwald  und  Bullendorf,  sagt  man  Ribzoil,  entsprechend 
troiu,  woin,  noil  und  so  auch  wieder  weiter  östlich  noch  in  Grünau  im 
Bober-Katzbachgebirge  Ribezoil  neben  troin,  woin,  noil. 

Wären  die  Dialektformen  für  Rübezahls  Namen  nur  aus  der  Lite- 
ratursprache umgeformt  worden,  so  hätte  das  einzig  durch  volksetymo- 
logische Anlehnung  an  zäl,  zäl,  zöil,  zoil,  das  allerdings  in  der  Bedeutung 
'penis'  noch  vorkommt,  geschehen  können.  Nun  findet  sich  aber  in  der 
heutigen  Gestalt  der  Yolkssage,  wenigstens  im  Riesengebirge  selbst,  kein 
einziger  Zug,  der  den  Berggeist  Rübezahl  irgendwie  zum  männlichen 
Gliede  in  Beziehung  setzte.  Aus  dem  Westen  des  Isergebirges,  aus  Ras- 
penau  und  Mildenau,  gibt  allerdings  Ulrich  Jahn,  oben  11,  336",  die  Mit- 
teilung wieder:  „Ruft  man  ihn  Rübenzal,  was  Rübenschwanz  bedeutet,  so 
hört  er  allerdings  sofort,  doch  fühlt  er  sich  schwer  beleidigt  "  Hier  dürfte 
es  sich  aber  um  eine  Form  Ribenzoil  oder  Ribenzöil,  die  nur  dem  Fremden 
gegenüber  an  die  Literatur-  und  Schulform  angeglichen  wurde,  handeln, 
da  im  nahen  W^eisbach  dialektgemäss  Ribzöil  herrscht.  Die  Form  war 
hier  den  Worten  'Zahl,  zählen'  zu  unähnlich,  als  dass  sich  hier  die  volks- 
etymologische Sage  von  der  Herkunft  des  Namens  Rübezahl  vom  Rüben- 
zählen  hätte  verbreiten  können,  so  dass  die  alte  Etymologie,  die  ja  in 
dem  Vorhandensein  von  zoil,  zöil  'penis'  (vielleicht  auch  noch  allgemein 
'Schwanz')  eine  Stütze  behalten  hatte,  in  der  Volksvorstellung  bestehen 
blieb.  Dagegen  bin  ich  nirgends  mehr  im  Riesengebirge  selbst  auf  ein 
Bewusstsein  von  der  wirklichen  Herkunft  des  Namens  Rübezahl  gestossen. 
Vielmehr  gehört  dort  die  Sage,  dass  Rübezahl  nach  dem  Rübenzählen  be- 
nannt worden  sei,  zu  den  am  weitesten  verbreiteten  (auch  im  Raben- 
gebirge habe  ich  sie  noch  gefunden)  und  wird  sowohl  in  dessen  östlichem 
wie  in  dessen  westlichem  Teile,  der  mhd.  age  durch  ä  vertreten  hat,  aber 
auch  in  dessen  mittlerem,  in  dem  dafür  ä  steht,  erzählt.  Diese  volks- 
ftymologische  Sage  zeigt  ja  deutlich,  dass  wenigstens  im  eigentlichem 
Rieseno-ebiroe  die  Identität  des  zweiten  Bestandteils  des  Namens  Rübe- 
zahl  mit  zäl  'penis'  entweder  vergessen  worden  war  oder  doch  unan- 
genehm empfunden  wurde.  Eine  lautliche  Umformung  ist  freilich  auf  der 
böhmischen  Seite  des  Riesengebirges  (auf  der  schlesischen  Seite  desselben, 
wo  ich  zuerst  gewesen  bin,  habe  ich  leider  auf  die  Dialektformen  noch 
nicht  geachtet)  nirgends  durch  die  Sage  hervorgerufen  worden;  denn  auch 
im  Gebiete  von  Spindelmühle  und  Niederhof,  wo  'Zahl'  zäl  (ä  nach  0  hin 


40  Loewe: 

gesprochen)  und  'zählen"  zelen  (mit  geschlossenem  e)  heisst,  ist  die  laut- 
aesetzliche  Form  Ribezäl  die  bei  alten  Leuten  aus  dem  Volke  allein 
übliche.  Hat  aber  die  so  weit  verbreitete  volksetymologische  Sage  keine 
Änderung  der  Wortform  veranlasst,  so  würde  das  doch  sicher  erst  recht 
nicht  die  Anlehnung  au  ein  Wort  vermocht  haben,  zu  dem  das  Volk  Rübe- 
zahl von  neuem  hätte  iu  Beziehung  setzen  müssen,  wovon  sich  aber  nirgends 
eine  Spur  in  den  heutigen  A'olksanschauungen  des  Riesengebirges  selbst  findet. 

Aus  den  voranstehenden  Erörterungen  geht  also  hervor,  dass  Rübe- 
zahl dem  Volke  des  Riesengebirges  schon  zu  einer  Zeit  bekannt  war,  als 
der  zweite  Bestandteil  des  Namens  noch  -zagel  lautete.  Da  bereits  Prä- 
torius  im  Titel  seines  Hauptwerkes  den  Rübezahl  Ribenzalius  nennt,  so 
kann  auch  nicht  er  es  gewesen  sein,  der  den  Berggeist  im  Riesengebirge 
bekannt  gemacht  hat;  zeigen  doch  die  Erwähnungen  Rübezahls  im 
16.  Jahrh.  bereits  die  Form  auf  -zäl.  Rübezahl  wird  also  spätestens  schon 
im  15.  Jahrh.   im  Volksglauben  des  Riesengebirges  existiert  haben1). 

Leider  habe  ich  nicht  mehr  ermitteln  können,  wie  weit  sich  Dialekt- 
formen für  Rübezahls  Namen  noch  über  das  Riesengebirge  hinaus  er- 
strecken. Verschweigen  darf  ich  hier  allerdings  nicht,  dass  mir  aus  Rogau- 
Rosenau  im  Zobtengebirge  eine  nicht  zur  Lautvertretung  des  Dialekts 
stimmende  Form  dafür  mitgeteilt  wurde.  Danach  spricht  man  dort 
wöin,  tröin,  nöil  (mit  offenem  ö),  aber  Ribezäl  (mit  einem  ä,  das  diesem 
ö  fast  gleicht)  wie  zäl  'Zahl1.  Da  mir  indes  diese  Mitteilung  nur  von 
einem  sehr  jungen  Manne  gemacht  wurde,  so  ist  es  nicht  ganz  sicher,  ob 
nicht  eine  Form  Ribezöil  hier  doch  noch  bei  den  alten  Leuten  existiert. 
Sollte  jedoch  Ribezäl  hier  von  alters  her  gebräuchlich  sein,  so  braucht  die 
Form  doch  deswegen  keineswegs  erst  aus  der  Literatur  zu  stammen,  viel- 
mehr wäre  es  in  diesem  Falle  auch  sehr  wohl  möglich,  dass  die  Volkssage 
bei  ihrem  Vordringen  das  Zobtengebirge  erst  zu  einer  Zeit  erreicht  hätte, 
in  der  bereits  in  den  einzelnen  schlesischen  Mundarten  mhd.  age  in  ver- 
schiedener Weise  kontrahiert  worden  war.  Auch  die  Sage  vom  Rüben- 
zählen,  die  meinem  Gewährsmann  bekannt  war,  könnte  sich  mit  der 
Namensform  zugleich  vom  Riesengebirge  hierhin  ausgebreitet  haben;  un- 
bekannt war  ihm  ein  Wort  wie  zöil  oder  zäl  für    'penis'    oder  'Schwanz'. 

Jedenfalls  hat  sich  aber  die  Rübezahlsage  schon  sehr  früh  von  ihrem 
Zentrum,  dem  Riesengrunde,  aus  nach  allen  Seiten  hin  verbreitet,  wie 
besonders  die  übrigen  von  mir  ermittelten  mundartlichen  Formen    lehren. 


1)  Diese  Feststellung  schliesst  freilich  keineswegs  die  Richtigkeit  von  Regells  Be- 
hauptung aus,  dass  es  oberdeutsche  und  romanische  Goldsucher  gewesen  sind,  die  zuerst 
im  Jtiesengebirge  von  einem  Rübezahl  gesprochen  haben.  Aber  es  ist  doch  gewiss  auch 
schon  an  und  für  sich  eine  unwahrscheinliche  Annahme,  dass  Rübezahl  aus  den  Vor- 
stellungen der  fremden  Goldsucher  des  Riesengebirges  in  die  allgemeiue  deutsche  Literatur 
und  erst  aus  dieser  wieder  in  den  Glauben  der  Riesengebirgler  selbst  übergegangen  wäre. 
Viel  einfacher  ist  es  doch  anzunehmen,  dass  die  Bewohner  des  Riesengebirges  ihren 
Glauben  direkt  von  den  in  ihre  Heimat  gekommenen  fremden  Goldsuchern  erhalten  haben. 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  41 

Bei  der  schon  vor  Jahrhunderten  entstandenen  kontinuierlichen  Ausbreitung 
der  Rübezahlsage  im  Volke  wird  man  auch  nicht  mit  Regell  ohne  weiteres 
behaupten  dürfen,  dass,  wo  sich  eine  Spur  dieser  Sage  noch  in  der 
schlesischen  Ebene  findet,  „ja  wohl  kein  Zweifel  sein  kann,  dass  es  sich 
um  literarischen  Flugsamen  handelt".  Aber  selbst  wenn  letzteres  der 
Fall  sein  sollte,  so  bewiese  das  doch  absolut  nichts  gegen  die  Boden- 
ständigkeit der  Sage  im  Riesengebirge  selbst  und  könnte  höchstens  für 
die  Richtigkeit  der  Annahme  wenigstens  eines  literarischen  Einflusses  auf 
die  schon  bestehende  Volkssage  in  das  Gewicht  fallen.  Da  aber  Bücher 
über  Rübezahl  im  Riesengebirge  selbst  früher  kaum  vorhanden  waren,  so 
glaube  ich  jetzt  auch  kaum  noch  irgend  einen  Einfluss  der  Rübezahl- 
literatur auf  die  Rübezahlsage,  wie  sie  sich  im  Volkmunde  erhalten  hat, 
annehmen  zu  dürfen. 

Für  verfehlt  ist  auch  Siebs'  Argument  zu  halten,  dass  die  Rübezahl- 
sagen  der  Literatur  deshalb,  weil  sie  eine  so  gewaltige  Verbreitung  wie 
wenige  andere  Sagen  gefunden  haben,  doch  nicht  allein  im  Riesengebirge, 
wo  sie  doch  spielen,  unbekannt  geblieben  sein  können.  Denn  durch  die 
Literatur  wurde  Rübezahl  im  wesentlichen  doch  nur  den  Gebildeten  und 
erst  in  neuerer  Zeit  auch  den  Schulkindern  aus  den  unteren  Volksschichten 
bekannt;  diese  wissen  zwar  von  dem  Berggeiste,  aber  erzählen  doch  kaum 
von  ihm  und  glauben  noch  weniger  an  seine  Existenz.  Im  Riesengebirge 
hat  man  aber  noch  vor  wenigen  Jahrzehnten  im  Volke  nicht  nur  von 
Rübezahl  viel  erzählt,  sondern  auch  vielfach  an  ihn  als  den  Geist  des 
Gebirges  geglaubt.  Bei  dem  schlechten  Schulbesuche,  der  daselbst  herrschte, 
wird  man  von  ihm  in  früheren  Zeiten  dort  im  wesentlichen  überhaupt 
nur  in  den  Städten,  d.  h.  in  Hirschberg,  Schmiedeberg,  Trautenau  und 
Hohenelbe  gelesen  haben;  vielleicht  aber  bestand  auch  hier  keine  grosse 
Xeio-ungr,  über  Rübezahl  noch  etwas  aus  der  Literatur  zu  erfahren,  da 
man  ja  schon  genug  von  ihm  reden  hörte. 

Nach  Siebs  S.  128  würde  freilich  in  Schlesien  auch  die  Sage  vom 
Kynast  ein  bekanntes  Beispiel  dafür  bilden,  dass  eine  literarisch  über- 
lieferte Sage  in  das  Volk  übergegangen  wäre.  Ob  das  Volk  aber  wirklich 
viel  von  dieser  Sage  erzählt,  erscheint  mir  sehr  zweifelhaft;  wenigstens 
sagte  mir  der  frühere  Gebirgsführer  Hermann  Liebig  aus  Hermsdorf 
unterm  Kynast,  dass  die  Geschichte  von  der  Prinzessin  Kunigunde,  die 
ihre  Freier  auf  der  Mauer  der  Burg  auf  dem  Kynast  herumreiten  Hess, 
nur  für  die  Fremden  erzählt  wurde,  während  über  Rübezahl  auch  von 
den  Leuten  in  Hermsdorf  selbst,  und  zwar  mehr  als  über  den  Nachtjäger, 
die  weisse  Frau  und  den  grossen  Leuchter  gesprochen  worden  sei. 

Auch  darin  kann  ich  Siebs  nicht  zustimmen,  wenn  er  S.  129  den 
„Rübezahlfiguren,  mit  denen  die  Industrie  im  Gebirge  sich  breitmacht1-, 
einen  stärkeren  Einfluss  auf  die  Anschauungen  der  Gebirgsbewohner  über 
Rübezahl    zuschreibt.      Wer    meine    früheren    und    jetzigen    Mitteilungen 


42  Loewe: 

genau  durchliest,  wird  darin  auch  Vorstellungen  über  das  Aussehen 
des  Berggeistes  finden,  die  nirgends  bei  den  Rübezahlfiguren  zum 
Ausdruck  gekommen  sind.  "Wenn  aber  diese  Figuren  doch  denjenigen 
Vorstellungen  über  Rübezahls  Aussehen  gleichen,  welche  die  weiteste 
Verbreitung  im  Riesengebirge  haben,  so  sind  sie  eben  diesen  Vor- 
stellungen nachgebildet  worden,  nicht  aber  die  Vorstellungen  den 
Figuren,  gerade  so  wie  die  griechischen  Bildhauer  die  Attribute  der  von 
ihnen  dargestellten  Götter  «lern  griechischen  Volksglauben  entnommen 
haben  und  nicht  umgekehrt. 

Siebs  bemerkt  freilich  spöttisch  im  Hinblick  darauf,  dass  in  einem 
von  mir  mitgeteilten  Volksmärchen  sich  Rübezahl  Moos  in  die  Pfeife 
stopft  und  so  auch  figürlich  dargestellt  wird,  dass  er  doch  „das  Tabak- 
rauchen nicht  als  ein  notwendiges  Kriterium  echter  Gestalten  der  deutschen 
Mythologie"  ansehen  möchte.  Als  ob  sich  nicht  jüngere  Züge  an  eine 
alte  Sagenfigur  in  der  Volksvorstellung  ganz  von  selbst  ansetzen  könnten! 
Merkwürdig  ist  auch,  was  Siebs  vom  „alten  Bradler  auf  dem  Tannenstein" 
berichtet:  „und  einmal  habe  er  [Bradler]  ihn  [Rübezahl]  auch  wirklich 
gesehen:  er  hatte  einen  langen  grauen  Bart  wie  Baumflechten  und  sah 
schrecklich  aus,  und  er  hatte  eine  Tabakspfeife  im  Munde,  und  man  habe 
(so  ging,  glaube  ich,  die  Geschichte  weiter)  ein  Geldstück  hineingesteckt  — 
also  es  war  wohl  eine  Art  Automat,  wie  ihn  auch  Loewe  (S.  24)  erwähnt". 
Es  ist  sehr  bedauerlich,  dass  Siebs  sich  hier  nicht  mehr  bestimmt  an  die 
Art  der  Aussage  seines  Gewährsmanns  erinnert.  Sollte  derselbe  wirklich 
gesagt  haben,  dass  er  „einmal  wirklich"  Rübezahl,  der  „schrecklich 
aussah",  gesehen  und  dass  man  „ein  Geldstück  hineingesteckt"  habe,  so 
hat  er  allerdings  nicht  im  Ernst  über  Rübezahl  gesprochen,  wie  denn 
ja  auch  Siebs  selbst  sagt,  dass  er  über  Rübezahl  „im  Ernst  niemals" 
habe  reden  hören.  Aber  mit  aller  Bestimmtheit  muss  ich  darauf  hin- 
weisen, dass  mein  Gewährsmann,  der  mich  zuerst  auf  den  Automaten 
aufmerksam  gemacht  hat,  Ernst  Friedrich  aus  Petersdorf,  diese  von  ihm 
gesehene  Figur  auf  das  allerschärfste  von  dem  in  den  Bergen  lebenden 
Rübezahl  unterschied,  von  dem  ihm  alte  Leute  seines  Heimatsdorfes 
erzählt  hatten.  Und  ebenso  verwunderlich  muss  ich  es  finden,  wenn  Siebs 
an  solchen  Automaten  lebhaft  erinnert  wird  bei  Erzählung  der  Carolina 
Buchberger,  wie  Rübezahl  mit  seinem  Graubart  so,  wie  er  an  den  Fichten 
hängt,  am  Lichtenabend  zu  ihres  Vaters  Grossvater  kam,  dort  seinen  Hut 
von  Rinde  niederlegte,  kein  Wort  sprach  und  nur  Bewegungen  machte, 
als  ob  er  auch  spänne,  dabei  aber  wieder  nur  Graubart  spann,  während 
ringsum  die  Leute  in  stummer  Furcht  dasassen.  Diese  Erzählung  muss 
doch  wohl  auf  jeden  Unbefangenen  einen  echt  volkstümlichen  Eindruck 
machen;  um  so  mehr  musste  sie  das  aber  auf  mich,  der  ich  die  Buch- 
berger, die  nicht  lesen  und  schreiben  kann,  nicht  nur  in  ihrem  reinen 
Dialekt  habe  zu  mir  sprechen  hören,  sondern  sie  dabei  auch  dem  Rübezahl 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  43 

die  Bewegungen  des  Spinnens,  die  dieser  aber  nicht  am  Rocken,  sondern 
in  der  Luft  gemacht  hätte,  habe  nachahmen  sehen. 

Es  ist  ferner  wohl  kaum  ein  Zufall,  dass  fast  alle  meine  Gewährs- 
leute, die  entweder  selbst  den  Rübezahl  gesehen  haben  wollen  oder  einen 
bestimmten  Fall  dafür  anzuführen  wussten,  dass  ihn  einer  ihrer  Vorfahren 
gesehen  hätte,  aus  der  nächsten  Umgebung  von  dessen  Hauptlokalisierungs- 
stätte, d.  h.  aus  dem  Riesengrunde,  dem  Stumpengrunde,  dem  Blaugrunde 
oder  Gross- Aupa  gebürtig  waren.  Besonders  möchte  ich  hierbei  noch 
einmal  auf  Barbara  Gleisner  hinweisen,  die,  als  sie  mich  im  Logierhause 
der  Frau  Marie  Gleisner  (jetzt  in  zweiter  Ehe  Richter)  den  Handarbeiter 
Wilhelm  Gleisner  nach  Rübezahl  fragen  hörte,  ganz  von  selbst  die 
Äusserung  tat,  dass  sie  Rübezahl  oft  auf  den  Bergen  gesehen  hätte,  wie 
er  eine  Hucke  trug,  aber  verschwunden  sei,  wenn  er  sich  von  ihr  bemerkt 
sah,  die  aber,  als  sie  wahrnahm,  dass  ich  mir  Notizen  machte,  nicht  zu 
bewegen  war,  mir  weitere  Auskunft  zu  geben  (vgl.  oben  18,  7).  Die  aus 
dem  so  abgeschlossen  liegenden  und  von  Fremden  früher  kaum  besuchten 
Blaugrunde  gebürtige  Maria  Wimmer  fing  gleichfalls  ganz  von  selbst  an 
zu  erzählen,  wie  sie  Rübezahl  gesehen  hätte,  als  ich  den  im  Hause  ihres 
Mannes  wohnhaften  Aiigustiii  Braun  nach  diesem  fragte;  freilich  legte  sie 
sich  keinerlei  Zurückhaltung  auf,  als  sie  mich  Notizen  machen  sah,  sondern 
sprach  in  lebhafter  Weise  weiter  (oben  18,  9). 

Unter  solchen  Umständen  habe  ich  es  denn  doch  der  Mühe  für  wert 
gehalten,  dem  'RübezahlschwindeF  noch  einmal  nachzugehen,  um  über 
die  bekannteste  Gestalt  der  deutschen  Volkssage  so  viel  zu  erfahren,  wie 
es  nur  irgend  noch  möglich  war.  Die  mir  gemachten  Mitteilungen,  die 
sich  ja  beinahe  alle  in  denselben  Anschauungen  und  Gedankenkreisen 
bewegen,  haben  auch  fast  durchweg  den  Eindruck  voller  Wahrhaftigkeit 
auf  mich  gemacht.  Nur  bei  einem  einzigen  Manne  wichen  dieselben  so 
sehr  von  den  übrigen  ab,  dass  ich  hier  bewusste  Täuschung  annehmen 
musste,  weshalb  ich  auch  seine  Aussagen  hier  nicht  mitanführen  werde. 
Yon  meinen  übrigen  Gewährsleuten  hat  auch  wohl  nur  ein  einziger 
selbständige  Übertragungen  von  anderen  Sagenfiguren  auf  Rübezahl  vor- 
genommen (vgl.  S.  37).  Sonst  könnten  mir  einige  falsche  Angaben  kaum 
noch  aus  einer  anderen  Ursache  als  infolge  meiner  Fragestellungen  gemacht 
worden  sein;  wo  mir  dies  nachträglich  möglich  schien,  habe  ich  die  be- 
treffenden Antworten  hier  fortgelassen  oder  doch  nur  anmerkungsweise 
mit  der  nötigen  Reserve  wiedergegeben;  etwas  zahlreicher  waren  aber 
solche  Möglichkeiten  nur  bei  Stefan  Trömer  aus  Krummhübel,  der  mir  im 
übrigen  sehr  reiche  Auskunft  gab. 

Meine  Gewährsleute  waren  auf  der  schlesischen  Seite  des  Gebirges 
diesmal  zum  Teil  ehemalige  Fremdenführer  (darunter  auch  der  eine  erwähnte 
Gewährsmann  Coghos,  Robert  Fleiss),  wie  denn  in  einigen  Dörfern  andere 
Leute,  die  über  Rübezahl  Auskunft  geben  konnten  oder  wollten,  überhaupt 


44  Rhamm: 

nicht  melir  zu  finden  waren.  Dass  unter  den  Mitteilungen  der  früheren 
Gebirgsführer  oder  ihrer  Kinder  die  ikonischen  Sagen  sowie  kurze  An- 
gaben über  bestimmte  nach  Rübezahl  benannte  Ortlichkeiten  oder  Steine 
eine  besondere  Rolle  spielen,  ist  gewiss  nicht  zu  verwundern.  Es  wäre 
auch  nicht  unmöglich,  dass  einiges  hiervon  auf  Erfindung  der  Führer  selbst 
beruhte:  doch  zeigen  Übereinstimmungen  zwischen  mehreren  solchen  Mit- 
teilungen,  dass  sich  hier  mindestens  unter  diesen  selbst  schon  eine  ge- 
wisse Tradition  gebildet  hatte.  Dagegen  kann  nicht  das  geringste  Bedenken 
obwalten,  den  Fremdenführern  bei  Erzählungen  und  Mitteilungen  anderer 
Art  über  Rübezahl,  die  sich  ja  auch  in  den  Rahmen  seines  sonstigen 
Bildes  beim  Volke  fügen,  zu  misstrauen.  Die  Fremdenführer  waren  eben 
durch  ihren  Beruf  dazu  gekommen,  Hüter  der  Rübezahl-Tradition  zu 
werden,  die  auf  der  schlesischen  Seite  des  Gebirges  sonst  im  allgemeinen 
noch  viel  mehr  als  auf  der  böhmischen  verblasst  ist. 

In  meiner  nun  folgenden  Einzeldarstellung  habe  ich  wieder  die 
geographische  Anordnung  gewählt  sowie  Alter,  Name  und  Herkunft 
meiner  Gewährsleute  angegeben,  womit  ja  für  jedermann  nicht  nur  eine 
Kontrolle  ermöglicht,  sondern  auch  der  philologischen  Forderung  nach 
genauer  Quellenangabe  auch  bei  einer  Sammlung  aus  dem  Volksmunde 
entsprochen  wird. 

(Schluss  folgt.) 


Die  altoermanische  Wirkgrube  auf  slawischem  Boden, 


Von  Karl  Rhamm. 


Unter  den  dürftigen  Nachrichten,  welche  die  Römer  uns  über  die 
Bauten  unserer  Vorfahren  hiuterliessen,  sind  die  eingehendsten  und  ver- 
ständlichsten noch  diejenigen,  welche  die  Wirkgrube  (Dung)  betreffen, 
die  in  besonderem  Grade  ihre  Aufmerksamkeit  rege  gemacht  hatte. 
Schon  aus  diesem  Grunde  geht  es  nicht  an,  den  'Dung'  mit  Erdgruben 
zusammenzuwerfen,  wie  sie  auch  im  Altertum  bei  anderen  Völkern  nicht 
selten  vorkamen.  Ebensowenig  aber  ist  es  zulässig,  mit  Stephani  in  dem 
Dung  eine  veraltete  Form  des  Wohnhauses  selbst  zu  sehen,  die  erst  infolge 
der  Entwicklung  und  Aufstockung  des  letzteren  zu  einem  Nebenzweck 
abseits  gestellt  ward.  Vielmehr  war  der  Dung  von  dem  Augenblicke 
seine-  Bestehens  an  ein  Nebengebäude  des  altgermanischen  Hofes,  über 
dessen  ursprüngliche  Einrichtung    und    Bestimmung    die   Nachrichten    der 


Die  altgermanische  Wirkgrube  auf  slawischem  Boden.  45 

Alten,  ergänzt  durch  spätere  Hinweise,  keinen  Zweifel  lassen.  Da  meine  Aus- 
führungen über  die  germanische  Wirkgrube  nur  als  Einleitung  zu  ähnlichen 
Einrichtungen  auf  slawischer  Seite  gelten  sollen,  verweise  ich  auf  die  sprach- 
liche Untersuchung  von  Rautenberg  (Sprachliche  Nachweise  zur  Kunde 
des  germ.  Altertums  S.  15 ff.),  und  die  sachliche  von  Stephani  (Der  älteste 
deutsche  Wohnbau  1,  92  f.). 

In  bezug  auf  die  Verbreitung  schreiben  die  römischen  Quellen  die 
Wirkgrube  allgemein  den  Germanen  zu,  wobei  man  freilich  zunächst  an 
die  ihnen  benachbarten  zu  denken  hat,  in  bezug  auf  die  Benennung 
scheiden  sich  die  Stämme;  tunc  althochdeutsch,  tunc,  dune  mittelhoch- 
deutsch gilt  zunächst  für  Oberdeutschland,  wie  denn  heute  noch  in  Nürn- 
berg und  Augsburg  tung  und  düng  eine  kellerartige  Weberwerkstatt  be- 
deuten; dazu  kommen  die  unten  folgenden  Zeugnisse  für  Thüringen;  für 
Skandinavien  ist  dyngja  in  derselben  Bedeutung  aus  Island  bezeugt;  bei 
den  Franken  und  Friesen  tritt  ein  anderes  Wort  ein:  screona,  noch  später 
französisch  e(s)craigne1). 

Von  dem  Ausdruck  düng  ist  soviel  sicher,  dass  er  mit  unserem  düng 
(stercus)  und  düngen  zusammenhängt;  darüber  lässt  die  Angabe  des 
Tacitus,  nach  der  das  Wesen  der  Wirkgrube,  das  sie  von  andern  Gruben 
unterscheidet,  in  ihrer  Bedeckung  oder  Umhüllung  mit  Mist,  fimus,  besteht, 
keinen  Zweifel.  Alles  weitere,  was  man  für  die  Herleitung  beigebracht 
hat,  bleibt  unsicher,  und  wenn  z.  B.  Rautenberg  für  eine  allgemeinere 
Bedeutung  wie  'Anhäufung  einer  weichen,  schmierbaren  Masse'  (nach  einer 
im  Sanskrit,  Griechischen  und  Lateinischen  wiederkehrenden  Wurzel 
dih  usw.),  sich  auch  auf  die  im  Altnordischen  gelegentlich  bezeugte  Be- 
deutung 'Haufen'  beruft  (vgl.  Gudmundsson,  Privatboligen  pä  Island  i 
Sagatiden  S.  245),  so  könnte  man  auf  der  anderen  Seite  aus  der  englischen 
Wurzel  dig  (graben)  mit  Bezug  auf  die  im  Althochdeutschen  für  tunc  ge- 
gebenen Bedeutungen  'Höhle  eines  Hermelins,  Höllenhund'  die  Bedeutung 
einer  'Grube'  ableiten.  Der  Dung  hat  eben  ein  doppeltes  Gesicht  und  kann 
demgemäss  Ableitungen  nach  beiden  Seiten  entwickeln.  Als  älteste 
erreichbare  Bedeutung  wäre  vielleicht  anzusetzen  Mist  (d.  h.  Unrat  in 
Vermischung  mit  Stroh  oder  Laub)  in  technischer  Verwendung. 

Aus  jener  Zwiespältigkeit  scheint  hervorzugehen,  dass  man  zwei  Be- 
standteile der  Einrichtung  scharf  auseinanderhalten  muss:  die  Grube  und 
den  Misthaufen.  Die  Annahme  von  Heyne  (Deutsches  Wohnungswesen  S.  47), 
dass  der  Dung  'ein  halb  unterirdischer  Rundbau  gewesen',  und  das 
Holzwerk,  mit  dem  die  Grube  verkleidet  war,  sich,  wenn  auch  nicht  eben 
beträchtlich,    noch  über  die  Oberfläche  erhoben  habe,   möchte  ich  für  die 


1)  Daraus,  dass  dies  Wort  auch  aus  Burgund  bezeugt  ist,  möchte  ich  doch  nicht 
ohne  weiteres  schliessen,  dass  es  den  Burgundern  angehört  hätte;  gerade  in  Burgund  sind 
schon  von  den  Römern  zahlreiche  ■westgermanische  laeti  angesetzt,  abgesehen  von  den 
Warasci  in  der  Franche  Comte. 


46  Rhanim: 

ursprüngliche  Anlage  nicht  teilen.  Wenn  die  isländische  dyngja  der  Saga- 
zeit nach  Gudmundsson  ein  wirkliches  Gebäude  war,  das  sich  von  den 
anderen  nur  durch  ein  gewisses  Eingraben  in  die  Erde  unterschied,  so 
beweist  das  nichts  für  die  älteste  Zeit:  eine  Vertiefung  im  Erdboden 
kommt  auch  noch  weit  später  für  das  Hauptgebäude,  die  stofa.  vor,  und 
es  liegt  nur  in  der  Richtung  der  natürlichen  Entwicklung,  dass  derartige 
Erdbauten  sich  im  Verlauf  der  Zeit  herausarbeiten,  zumal  wenn  gewisse 
von  Tacitus  angedeutete  Nebenzwecke,  wie  zum  Versteck  in  Notfällen, 
wegfallen. 

Die  Angaben  von  Tacitus1)  und  von  Plinius  (Hist.  natur.  19,  1:  in 
Germania  autem  defossi  atque  sub  terra  id  opus  [texendi]  agunt)  stehen, 
ohne  sich  gerade  zu  widersprechen,  nicht  in  vollem  Einklang,  ja  man 
könnte  im  Hinblick  auf  die  unten  zu  erörternden  Fälle  aus  Bulgarien 
zweifelhaft  sein,  ob  nicht  bei  jenen  Angaben  verschiedene  Gruben  gemeint 
wären,  wenn  nicht  der  mistbedeckte  Dung  durch  die  spätere  Überlieferung 
als  Wirkraum  gesichert  wäre.  Tacitus  wiederum  gibt  mit  dem  doppelten 
Amt,  das  er  der  Dunggrube  zuschreibt,  Anlass  zu  anderen  Bedenken, 
denen  man,  wie  noch  Heyne,  dadurch  zu  begegnen  sucht,  dass  man  eine 
Querteilung  der  Grube  annimmt,  wobei  die  untere  Abteilung  zur  Ver- 
wahrung dient.  Indes,  einmal  ist  die  Berufung  auf  die  sogenannten  Mar- 
delle,  trichterförmige  Gruben,  die  Andeutungen  einer  ähnlichen  Abscheidung 
erkennen  lassen,  neuerdings  als  unzulässig  erkannt,  und  man  kann  Stephani 
nicht  Unrecht  geben,  wenn  er  meint,  dass  Tacitus  hier  Verschiedenartiges 
vermengt  hat,  da  eine  derartige  Unterkellerung  des  eigentlichen  Dung 
höchst  umständlich  herzustellen  und  weit  zweckmässiger  durch  eine  zweite 
Grube  zu  ersetzen  sei.  Dafür  begegnen  sich  beide,  Heyne  und  Stephani, 
in  der  Annahme,  dass  der  Dung  im  Winter  dem  gesamten  Hausvolk  als 
Zuflucht  und  Wohnung  gedient  hätte.  Das  halte  ich  für  vollständig 
ausgeschlossen,  dazu  war  der  Dung  seinem  ganzen  Wesen  nach  schon 
viel  zu  enge;  der  Zweck  der  Anlage  war  nicht  Erwärmung  schlechthin  — 
das  besorgte  auch  das  Herdfeuer  im  Wohnhause  — ,  sondern  die  Be- 
schaffung eines  warmen  und  dabei  rauchfreien  Raumes  für  die  Wirk- 
arbeit der  Weiber.  Die  allgemeinere  Äusseruug  des  Tacitus  muss  durch 
die  genauere  des  Plinius  und  das,  was  wir  von  der  altnordischen  dyngja 
wissen,  eingebessert  werden;  auch  letztere  war  zunächst  ein  Frauen- 
gemach, und  auch  aus  den  slawischen  Zeugnissen  geht  hervor,  dass  der 
Zutritt  dem  männlichen  Geschlecht,  wo  nicht  ganz  verboten,  doch  nur 
bedingt  gestattet  war.  Ehe  ich  aber  auf  letztere  eingehe,  will  ich  die 
Ermittelungen  wiedergeben,    die  sich  auf    die  Rückstände  des   'Dung'  bei 


1)  Germania,  c.  16:  solent  et  subterraneos  specus  aperire  eosque  multo  insuper  fimo 
onerant  suffugium  biemis  et  receptaculum  frugibus,  quia  rigorem  frigoris  ejusmodi  locis 
molliunt  et  si  quando  hostis  advenit,  aperta  populatur,  abdita  autem  et  det'ossa  .  .  igno- 
rantur. 


Die  altgermanische  Wirkgrube  auf  slawischem  Boden.  47 

uns  auf  dem  flachen  Lande  beziehen,  wo  er  meines  Wissens  bisher  nicht 
nachgewiesen  ist.  Ich  habe  den  Dung  an  zwei  Stellen  gefunden,  in  Tirol 
und  in  Thüringen. 

Im  Stanzertal  dicht  vor  Landeck  besah  ich  ein  Bauernhaus,  bei  dem 
die  Wohnung  im  oberen  Stock  lag.  Das  Erdgeschoss  war  durch  einen 
querlaufenden  Gang  in  zwei  Teile  geteilt,  den  Stall  und  den  Keller;  neben 
letzterem,  an  der  Längswand  des  Hauses,  befand  sich  noch  ein  schmaler 
Vorraum,  der  den  Zugang  zu  dem  Keller  vermittelte,  dnngeme,  wie  ich  zu 
hören  glaubte.  Um  sicher  zu  gehen,  habe  ich  mich  nachträglich  nach 
zwei  Ortschaften  der  gleichen  Gegend  gewandt,  Strengen  und  Pettnen. 
Danach  wird  das  Wort  in  beiden  Orten  tuama  gesprochen;  in  Strengen 
bedeutet  es  ein  Vorraum  bzw.  Zugang  zu  einem  Keller  (in  der  Gegend 
von  Landeck  auch  einen  kleinen  hölzernen  Zubau  zu  einem  Heustadel 
auf  der  Wiese  zur  Aufbewahrung  der  Feldgeräte),  in  Pettnen  einen  Durch- 
gang oder  Vorraum  im  Erdgeschoss.  „Dieser  Begriff  hat  sich  erweitert 
auf  Räume  im  Erdgeschoss,  die  dunkel  (wenig  licht)  sind  und  keinem 
bestimmten  Zwecke  dienen,  wo  abgebrauchte  Hausgeräte  beiseite  gestellt 
werden."  Trotzdem  diese  Gegenden  stark  romanisch  getärbt  sind,  möchte 
ich  auch  mit  Rücksicht  auf  die  hervorgehobene  Dunkelheit  dieser  Räume, 
die  Möglichkeit  einer  Ableitung  von  düng  nicht  fallen  lassen:  zwischen 
dem  u  und  a  im  tuama  kann  ein  schwacher  Nasal  verschollen  sein;  die 
Verhärtung  der  anlautenden  media  ist  nichts  Besonderes. 

In  Thüringen  habe  ich  vor  20  Jahren  auf  einer  WTanderun«;  von  Erfurt 
nach  Gotha  mehrfach  Spuren  des  düng  gefunden.  Hier  meine  Notizen. 
Egstedt:  düng  ist  eine  Art  Kellerraum,  ein  dunkler  Behälter  im  Hause, 
ein  Butze  für  Gerumpel  (im  Verschwinden).  Rockhausen:  düng  ge- 
wöhnlich ein  lochartiges  Gelass,  oft  unter  der  Treppe,  für  allerlei  Fässer 
und  Gerumpel.  Asbach:  ein  älterer  Mann  kennt  das  Wort  nicht,  wohl  die 
Frau:  eine  Art  Kellergelass,  aber  ohne  Fenster,  dunkel  (dies  wird  stets 
betont)  mit  einer  Tür  für  alte  Butten,  Wannen.  Nach  einem  jungen 
Manne  ist  der  düng  in  der  Gegend  von  Orla  unter  dem  Pferdestall,  nicht 
tief,  zwei  Stufen  hinab.  Im  Wirtshause  höre  ich  noch,  dass  der  düng 
hier  herum  meist  in  einer  Kammer  angebracht  ist,  ein  Loch  mit  Fallbrett 
für  Kartoffeln.  Man  sieht,  dass  der  düng  im  Thüringischen  bis  auf  unsere 
Zeit  noch  ziemlich  lebendig  ist:  ein  dunkles  Loch  ohne  Licht  im  oder 
unter  dem  Hause  —  auch  der  Pferdestall  befindet  sich  ja  im  Wohnhause  — 
zu  untergeordneten  Verwahrungszwecken;  merkwürdig  ist  seine  Ver- 
bindung mit  dem  Pferdestall,  wo  er  unter  dem  Mist  zu  liegen  kommt. 
Niemals  aber  erscheint  der  Dung  als  eigentlicher  Keller. 

Um  zu  meinem  eigentlichen  Vorwurf  zu  kommen,  finden  sicli  Spuren 
der  Wirkgrube  unter  den  Slawen  nur  auf  der  Balkanhalbinsel,  hier  aber 
bei  beiden  daselbst  angesessenen  Stämmen,  bei  den  Südslawen  und  bei 
den    Bulgaren.       Wrir    beginnen   mit   den   ersteren.      Im  Rahmen   des  von 


48  Rhanim: 

<ler  serbischen  Akademie  herausgegebenen  Sammelwerkes  Srpski  Etno- 
grafski  Zbornik  ist  in  den  letzten  Jahren  eine  besondere  Abteilung  unter 
dem  Titel  Naselja  srpskih  zemalja  (Siedelungen  der  serbischen  Lande) 
erschienen,  worin  unter  der  wissenschaftlichen  Leitung  und  Bearbeitung 
von  Cvijic  eine  Reihe  von  sehr  eingehenden  Einzeluntersuchungen  zu- 
sammengestellt und  durch  Pläne  und  Figurentafeln  erläutert  ist.  Unter 
diesen  befindet  sich  eine  tief  aus  dem  Innern  der  Halbinsel,  die  die 
Gebäude  am  Südabhang  des  Kara  Dagh  gegen  Üsküp  (Skoplje)  und 
Kumanovo  zu,  dicht  an  den  Grenzen  des  serbischen  Volkstums  nach 
Süden,  behandelt,  also  schon  auf  der  macedonischen  Seite  (Skopska 
Crnagora  von  Svetozar  Tomic  in  Naselja  III,  S.  407 ff.). 

Unter  der  Mehrzahl  von  kleinen  Nebengebäuden  wird  eine  kucarica, 
auch  djevojacka  kucarica,  Mägde-kuearica,  aufgeführt  (S.  444,  445,  dazu 
die  Figur  auf  dem  dazu  gehörigen  Atlas,  Tafel  XXIX).  „Dies  ist,"  heisst 
es,  „eine  Art  Grube.  Sie  wird  von  den  Jungfrauen  ohne  männliche  Hilfe 
im  Mist  auf  dem  Düngerhaufen  nach  dem  Mitrov  dan  (26.  Oktober,  wo  die 
Feldarbeit  beendigt  ist)  hergerichtet  und  einige  Tage  nach  dem  Djurjev 
dan  (23.  April)  niedergelegt.  Im  Mist  wird  eine  kreisförmige  Grube  aus- 
gehoben, aber  nicht  bis  auf  das  Erdreich  hinab,  so  dass  unten  eine  dicke 
Lage  Mist  bleibt.  Die  Grube  ist  etwa  1  bis  1,5  m  tief  und  so  weit,  dass 
höchstens  vier  Mägde  darin  Platz  haben,  gewöhnlich  nur  zwei  bis  drei. 
Durch  den  Mist  wird  eine  kleine  Tür  gelassen,  dann  am  Ende  der  Grube 
einige  Pfähle  von  etwa  1j2  wi  Höhe  eingeschlagen  und  um  diese  Mist 
gehäuft:  das  sind  die  Wände.  Über  den  Wänden  kreuzen  sich  einige 
Schleissen,  darauf  kommt  Roggenstroh,  dann  wieder  Mist,  das  ist  das 
Dach.  Wegen  schöneren  Aussehens  und  damit  der  Mist  nicht  zutage  tritt, 
werden  einige  Garben  oben  in  ein  Büschel  gebunden,  nach  unten  gespreizt 
auf  das  Dach  gesetzt  und  oben  darauf  eine  Hühnerfeder.  So  hat  das  Dach 
ein  becherförmiges  Aussehen.  Das  Licht  fällt  durch  die  Tür  ein.  Feuer 
wird  nicht  angemacht.  In  dieser  kucarica  bringen  die  jungen  Mädchen 
vom  achten  Lebensjahre  bis  zur  Heirat  den  ganzen  Winter  zu;  denn  im 
Winter  arbeiten  sie  nichts  im  Hause.  Des  Morgens  frühstücken  sie  und 
gehen  dann  in  die  kucarica  bis  zum  Abend.  Die  Alteren  unterweisen  die 
Jüngeren  in  der  Arbeit.  Sie  sticken  und  nähen  alles,  was  im  Hause  nötig 
ist;  am  zeitraubendsten  ist  das  Sticken  der  Hemden,  was  bei  dem  Staats- 
hemde mindestens  sechs  Monat  dauert;  wenn  eine  das  fertig  bringt,  gilt 
sie  für  sehr  tüchtig  und  heiratet  noch  dasselbe  Jahr.  Verheiratete  Frauen 
dürfen  nicht  in  die  kucarica  hineinspähen  (sie  sticken  nicht  mehr,  das 
wird   vor  der  Verheiratung  abgemacht)". 

Hier  haben  wir  also  die  Wirkgrube  in  einer  Gestalt,  wie  sie  noch 
über  die  Andeutungen  des  Tacitus  hinausgeht,  insofern  sie  nicht  nur  mit 
Dung  bedeckt,  sondern  ganz  in  den  Dung  hineingebaut  ist,  wTas  natürlich 
voraussetzt,  dass  der  Mist  in  einer  tiefen  Grube  aufbewahrt  wird. 


Die  altgermauische  Wirkgrube  auf  slawischem  Boden.  49 

Ganz  anders  liegen  die  Verhältnisse  in  dem  nordwestlichen  Bulgarien, 
etwa  zwischen  der  Osma  und  der  serbischen  Grenze,  wohin  uns  die  Be- 
richte  von  Marinoff  führen  (Ziva  Starina  I  S.  24,  25  und  Zbornik  za  na- 
rodni  umotvorenija,  Bd.  18,  II  Materiali  S.  Off.)1).  Hier  in  diesen  flachen, 
baumlosen,  im  Winter  ohne  Schutz  den  scharfen  Ostwinden  preisgegebenen 
Geländen  sind  sämmtliche  Gebäude  in  den  Erdboden  versenkt,  vier  an 
der  Zahl.  Wir  beginnen  mit  dem  Hauptgebäude,  einmal  des  Vergleichs 
wegen,  und  weil  Marinoff  bei  Beschreibung  der  später  folgenden  zwei 
Gebäude,  die  uns  näher  angehen,  auf  jenes  Bezug  nimmt.  Die  kasta 
(genauer  kasta  üzem,  Haus  in  der  Erde,  gegenüber  der  kasta  näzem,  dem 
Hause  auf  der  Erde  im  Gebirge),  oder  iza,  besteht  aus  einer  2— 21/„  m 
tiefen  Grube,  über  der  ein  Dach  errichtet  ist,  dessen  Firstbaum  in  den 
Giebeln  auf  je  einem  Giebelpfosten  (socha)  ruht-,  in  den  vier  Ecken  stehen 
vier  einfache  Pfosten  für  die  Rahmschwellen,  auf  welche  die  Sparren 
hinablaufen,  die  Bekleidung  des  Daches  besteht  aus  Stroh,  worauf  noch 
eine  Erdschicht  kommt.  Das  Dach  ruht  also  nicht  unmittelbar  auf  der 
Erde.  Leider  lässt  sich  der  Verfasser  nicht  darüber  aus,  ob  die  Wände 
aus  der  Erde  noch  heraufsteigen,  was  bei  der  Tiefe  der  Eingrabung  und 
dem  Fehlen  einer  Decke  ja  nicht  erforderlich  ist,  doch  scheint  dies  aus 
der  Einrichtung  des  Vorderhauses  (grivica)  hervorzugehen.  Der  an  einer 
Ecke  der  Langwand  befindliche  Zugang  wird  nämlich  durch  einen  etwa 
mannshohen,  umbauten  und  gedeckten  Gang,  eben  die  grivica,  geschützt, 
von  dem  bemerkt  wird,  dass  sein  Firstholz  auf  der  Rahmschwelle  der  kasta 
aufliegt.  Der  innere  Raum  der  kasta  würde  dabei  eine  Wandhöhe  von 
wenigstens  4  m  erhalten,  was  indessen  für  bäuerliche  Verhältnisse  unglaublich 
ist,  auch  wenn  man  den  ganzen  Zweck  der  Anlage  weniger  in  der  Erwärmung, 
als  in  dem  Holzmangel  sucht.  Eine  zweite  Grube,  ähnlich  gebaut  wie  die 
Wohngrube,  ist  die  pivnica,  der  Keller  für  Getränk,  Wein  und  Raki.  Die 
dritte  Grube  ist  der  zimnik,  zyvnik  (S.  26),  das  'Winterhaus'  (zima 
'Winter'),  es  dient  als  Stall,  im  Winter  schlafen  hier  die  Burschen  der 
Hausgenossenschaft,  im  Herbst,  wenn  die  Feldarbeiten  beendet  sind,  ver- 
sammeln sich  hier  die  Mädchen,  um  zu  arbeiten,  zu  spinnen,  flechten 
oder  nähen,  in  diesem  oder  jenem  Hause,  abends  bis  gegen  Mitter- 
nacht. Doch  haben  nur  Verwandte  oder  Nachbarn  Zutritt,  da  der  Raum 
ohnehin  nicht  mehr  als  fünf  bis  sechs  Personen  fasst.  Hier  findet  auch 
die  sedenka  statt,  eine  Art  Spinnstube,  zu  der  aber  nur  die  Geladenen 
kommen.  Auch  ist  der  Zutritt  der  Burschen  wegen  des  engen  Zusammen- 
seins  nicht  so  frei,  besonders  heutzutage,  wo  nicht,  wie  ehedem,  auch 
ältere  Weiber  sich  beteiligten;    die  Burschen  müssen  in  der  Nähe  warten, 


1)  In  der  früher  als  selbständiges  Werk  erschienenen  Ziva  Stanna  verweist  Verfasser 
für  die  Schilderung  der  Baulichkeiten  auf  den  noch  nicht  vorliegenden  5.  Teil  des  Bandes, 
dafür  tritt  der  Aufsatz  in  dem  Zbornik  ein. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1911.    Heft  1.  1 


50  Rhamm : 

bis  die  Mädchen,  „wenn  die  Luft  rein  ist",  d.  i.  wenn  die  Alten  zur  Ruhe 
gegangen  sind,  ein  Zeichen  geben.  Ausserdem  dient  der  zimnik  aber  noch 
zu  anderen  Zwecken.  Hier  weicht  die  Darstellung,  die  Marinoff'  in  der 
Ziva  Starina  gibt,  von  der  in  dem  Zbornik  etwas  ab.  Nach  der  ersteren 
verwahrt  man  hier  die  zimnina,  die  Wintervorräte  der  zadruga,  Zwiebeln, 
Pfeffer,  Topfen,  Grünzeug  usw.  In  den  kleineren  Haushaltungen  werden  auch 
Büffel  hier  untergebracht,  die  keine  grosse  Wärme  verlangen,  aber  auch 
keinen  Frost  vertragen.  Nach  der  Darstellung  des  Sbornik  dient  der  zimnik 
auch  als  Stall,  besonders  für  das  Zugvieh,  doch  auch  Kühe,  dagegen  wird  von 
Verwahrung  der  zimnina  nichts  gesagt.  Sodann  schlafen  hier  alle  Burschen 
der  zadruga,  doch  nur  zur  Winterzeit,  im  Sommer  schläft  man  im  Freien. 
Der  zimnik  ist  ebenso  gebaut,  wie  die  kasta,  nur  fehlt  bei  dem  Eingang 
der  grivica  die  socha,  damit  das  Vieh  hinein  kann  und  wird  durch  zwei  säbel- 
förmige oben  zusammengebogene  Hölzer  ersetzt. 

Endlich  die  vierte  Grube,  die  izba  (Zb.  S.  26);  sie  ist  2  m  und  mehr 
tief,  1,5  m  breit,  3  m  lang,  ähnlich  gebaut,  oben  wird  sie  mit  Erde  be- 
deckt, wie  die  iza,  sie  hat  nur  eine  Öffnung,  die  zugleich  als  Tür  und  Fenster 
dient  und  durch  die  man  mittels  eines  versetzbaren  (wohl  eingekerbten) 
Pfostens  hinabsteigt.  Hier  weben  die  Weiber  und  verrichten  andere  Woll- 
arbeit. Die  izba  ist  im  Verschwinden,  neue  werden  nicht  mehr  gebaut, 
und  die  alten  sind  so  verfallen,  dass  in  zehn  Jahren  vielleicht  keine  mehr 
übrig  sein  wird1). 

Die  Beurteilung  dieser  Verhältnisse  und  der  zwei  Baulichkeiten,  die 
für  uns  in  Frage  kommen,  des  zimnik  und  der  izba,  ist  dadurch  wesent- 
lich erschwert,  dass  auch  das  eigentliche  Wohnhaus,  kasta,  ebenso  tief  ein- 
gegraben ist,  wozu  noch  kommt,  dass  Marinoff  bei  der  Behandlung  der 
bergigen  Gelände  nur  das  Haus,  kasta  näzem,  beschreibt,  ohne  sich  dar- 
über auszulassen,  ob  beide  Gruben  hier  in  derselben  Weise  vorkommen 
oder  ganz  fehlen,  denn  dass  sie  durch  entsprechende  besondere  Gebäude 
vertreten  würden,  hätte  er  wohl  angeführt.  Dass  sie  eine  weitere  Ver- 
breitung nicht  haben,  darf  man  indessen  daraus  schliessen,  dass  das  bul-  > 
garische  Wörterbuch  von  Duvernois  sie  nicht  kennt;  zimnik  fehlt  über- 
haupt, und  izba  hat  er  nur  aus  einigen  mazedonischen  Grenzstrichen  in 
der  Bedeutuug  eines  Kellers. 

Wollen  wir  uns  für  die  Frage  des  Dung  mit  diesen  zwei  Gruben- 
bauten  auseinandersetzen,  wobei  wir  auch  die  kucarica  als  vorbildlich 
heranziehen  dürfen,  so  isf  kein  Zweifel,  dass  nur  die  izba  mit  ihm  ver- 
glichen werden  kann.  Die  izba  dient  als  Weberaum,  gleich  dem  Dung, 
und  zwar  bei  Tageslicht,  wie  auch  die  kucarica,  wogegen  in  dem  zimnik 
umgekehrt  nur  des  Abends  bis  in  die  Nacht  hinein,  also  bei  künstlicher  Be- 
leuchtung andere  Handarbeiten  verrichtet  werden.    Auch  scheinen  ursprüng- 

1)  Weder  der  zimnik,  noch  die  izba  werden  erwärmt,  auch  nicht  wie  andere  Neben- 
ränme  durch  Hineinsetzen  eines  Kohlenbeckens,  mangal  (S.  36). 


Die  altgermanische  Wirkgrube  auf  slawischem  Boden.  .~>1 

lieh  die  Mädchen  in  der  izba  geschlafen  zu  haben;  wenn  auf  S.  21  bemerkt 
wird,  dass  die  Mädchen  im  zimnik  oder  der  izba  schlafen,  so  ist  der  zimnik 
wohl  an  Stelle  der  im  Verschwinden  begriffenen  izba  getreten.  Die  izba  kennt 
keine  andere  Benutzung  und  verschwindet  vielleicht  aus  diesem  Grunde  mit 
der  Abnahme  der  Hausweberei1),  wogegen  der  zimnik  noch  zu  einer  ganzen 
Anzahl  anderer  Ämter  sich  hergeben  muss,  als  Schlafstätte,  Speicher,  Stall. 
Bei  der  offen  liegenden  Übereinstimmung  der  izba  mit  dem  düng  möchte 
ich  mich  auch  daran  nicht  stossen,  dass  die  eine  Hauptsache,  die  Be- 
kleidung mit  Mist,  fehlt,  zumal  es  möglich  bleibt,  dass  diese  schon  früher 
abhanden  gekommen  ist,  als  die  izba  selbst,  die  ja  nach  dem  Verfasser  in 
verfallenem  Zustande  sind  und  wohl  gar  nicht  mehr  gebraucht  werden. 
Anders  steht  es  mit  dem  Namen  izba  selbst,  der  unmöglich  von  Anfang 
an  der  technische  Ausdruck  für  die  Wirkgrube  gewesen  sein  kann,  da  izba 
(altslowenisch  istiiba,  entlehnt  aus  dem  germanischen  stofa,  unsere  Stube) 
-der  Name  für  die  altslawische  Wohnung  selbst  war  und  nur  durch  Zufällig- 
keiten sich  auf  diese  Einrichtung  niedergeschlagen  haben  kann.  Einerlei, 
wo  wir  die  Heimat  dieser  Grube  zu  suchen  haben,  izba  kann  ihr  ursprüng- 
licher Name  nicht  gewesen  sein.  Dies  führt  uns  auf  die  Frage,  ob  die 
Wirkgrube,  wo  sie  sich  heute  bei  den  Balkanslawen  findet,  kucarica,  wie 
izba,  auch  slawischer  Herkunft  ist.  Ich  möchte  dies  stark  in  Zweifel 
ziehen.  In  der  alten  Heimat  der  Slawen,  in  Osteuropa,  ist,  soweit  meine 
Kenntnis  der  Literatur  reicht,  nicht  die  geringste  Spur  einer  ähnlichen  An- 
lage zu  entdecken,  weder  bei  den  Russen,  noch  auch  bei  den  benachbarten 
finnisch-ugrischen  Stämmen,  die  doch  schon  in  älterer  Zeit  russische 
Einrichtungen  entlehnt  und  mehrfach  in  einer  noch  unentwickelteren  Gestalt 
bewahrt  haben,  trotzdem  sogar  bei  verschiedenen  dieser  Stämme,  wie  den 
Wogulen,  Permiern,  Überlieferungen  von  Wohngruben  vorliegen.  Ebenso- 
wenig findet  sich  auf  slawischer  Seite  aus  älterer  oder  jüngerer  Zeit  irgendein 
Wort,  das  man  für  eine  derartige  Einrichtung  in  Anspruch  nehmen  könnte, 
und  das  sich,  wenn  auch  in  verschobener  Bedeutung,  hier  und  da  erhalten 
hätte;  auch  die  Benennung  kucarica  kann  dafür  nicht  herangezogen 
werden;  denn  das  südslawische  Grundwort  kucara,  kucar  (kucarica 
ist  ein  Deminutiv)  bezeichnet  keine  Grube,  sondern  eine  Hütte  zu 
verschiedenen  Zwecken2).  Man  darf  unter  diesen  Umständen  der  Ver- 
mutung Raum  geben,  dass  die  Slawen  die  Wirkgrube  erst  bei  ihrer  Nieder- 
lassung auf  der  Balkanhalbinsel  kennen  gelernt  und  hier  so,  dort  anders 
benannt  haben8). 


1)  Während  .ALarinoff  auf  S.  2<J  die  izba  behandelt,  redet  er  auf  S.  21  von  dem  zimnik 
oder  izba,  was  sich  wohl  dadurch  erklärt,  dass  mit  dem  Auflassen  der  eigentlichen  izba 
dieser  Name  auch  auf  den  zimnik  angewandt  wurde. 

2)  Vgl.  dazu  M.  Murko,  Zur  Geschichte  des  volkstümlichen  Hauses  bei  den  Süd- 
slawen, Mitt.  d.  Anthr.  Ges.  Wien  3G,  31  f. 

3)  Da  die  Slawen  nach  meiner  Annahme  ihre  alte,  mit  einem  Rauchofen  ausgestatt-t^ 
Wohnung  unter  den  veränderten  Verhältnissen,  wie  sie  sie  auf  dem  Balkan  vorfanden,  auf 

4* 


50  Rhamm:    Die  altgermanische  Wirkgrube  auf  slawischem  Boden. 

Main  wird  dabei  zunächst  an  die  vorgefundenen  Provinzialen  denken, 
deren  Nachkommen  unter  der  slawischen  Benennung  'Wlachen'  bis  zum 
Ende  des  Mittelalters  noch  häufig  erwähnt  werden  und  bis  auf  den  heutigen 
Tag  in  den  Namen  von  örtlichkeiten  und  einzelnen  heute  slawisch  redenden 
Volksteilen  ihre  Spuren  hinterlassen  haben.  Und  gerade  in  der  Heimat 
der  kucarica  machen  sich  diese  Spuren  bemerklich.  Der  Verfasser  der 
Nachricht  über  die  kucarica  spricht  die  Vermutung  aus  (S.  434),  dass  sich 
die  Wlachen,  wie  anderwärts,  bei  dem  Eindringen  der  Serben  in  die  Ge- 
birge o-ezoo-en  hätten,  worauf  noch  Namen  deuten,  wie  das  mehrfach  vor- 
kommende  vlachov  katun  (wlachische  Sennerei),  ein  vlachov  grob,  dazu 
gewisse  Überlieferungen1).  Da  es  indessen  nicht  sehr  wahrscheinlich  ge- 
nannt werden  kann,  dass  eine  Einrichtung,  die  von  den  Römern  als 
eigens  o-ermanisch  bezeichnet  wurde,  auch  auf  einem  so  alten  Kulturboden, 
wie  die  Balkanhalbinsel  es  im  Verhältnis  war,  heimisch  gewesen  sein 
sollte,  und  da  sie  offenbar  weder  in  Mazedonien,  noch  bei  den  Albanesen 
vorkommt,  auch  gerade  im  Nordwesten  Bulgariens  von  wlachischen 
Spuren  sonst  nichts  verlautet,  so  liegt  der  Gedanke  an  eine  germanische 
Entlehnung  nicht  zu  ferne,  am  wenigsten  für  die  bulgarische  izba,  sofern 
dies  ziemlich  dieselben  Striche  des  alten  Mösiens  sind,  in  denen  ein  Zweig 
der  Westgoten,  die  sogenannten  Mösogoten,  zurückblieb,  und  da  man  eine 
Nachricht  hat,  dass  noch  im  9.  Jahrhundert  in  der  Gegend  von  Nikopolis 
gotisch  gepredigt  wurde,  müssen  diese  Reste,  nachdem  sie  die  schweren 
Völkerstürme,  auch  den  letzten  der  Bulgaren,  überdauert,  erst  allmählich 
slawisiert  sein.  Für  die  kucarica  ist  freilich  mit  dieser  Annahme  nichts 
gewonnen,  denn  der  Gedanke,  dass  ein  Rest  der  Ostgoten,  die  eine  Zeit- 
lang das  benachbarte  Illyrien  in  Besitz  hatten,  sich  hierher  gezogen,  hat 
wenig  Wahrscheinlichkeit*). 

Graz. 


gaben  zugunsten  eines  Herdhauses,  eben  der  bulgarischen  kasta,  so  wurde  der  Ausdruck 
izba  zu  anderer  Verwenduug  frei,  und  für  die  Übertragung  auf  einen  Grubenbau  liisst  sich 
eine  gewisse  Anknüpfung  in  der  Einrichtung  der  nordrussischen  izba  finden.  Vgl.  darüber 
den  3.  Band  meiner  „Ethnogr.  Beiträge"  usw.  unter  dem  Titel  'Germ.  Altertümer  aus  der 
slawisch-finnischen  Urheimat'  S.  191  —  195.  Ich  bemerke  bei  dieser  Gelegenheit,  dass  die 
von  0.  Schrader  oben  20,  332ff.  und  450  erhobenen  Einwände  trotz  ihres  zuversichtlichen 
Tones  mich  keineswegs  überzeugt  haben,  dass  ich  vielmehr  seinerzeit  in  einem  besonderen 
Aufsatze  die  Fragen  auch  nach  der  lautgesetzlichen  Seite  behandeln  werde. 

1)  Das  Wort  katun  selbst  stammt  aus  den  alten  Sprachen  der  Halbinsel  und  gehört 
auch  dem  Albanesischen  an;  in  dem  benachbarten  Montenegro  gibt  es  eine  danach  be- 
nannte katunska  nahia  (n.  =  Kreis). 

*)  Zu  diesen  Ausführungen  vgl.  die  Abbildung  am  Schlüsse  dieses  Heftes. 


Storck:    Kleine  Mitteilungen.  53 


Kleine  Mitteilungen. 


Der  Spruch  der  Toten  an  die  Lebenden. 

Der  Spruch  der  Toten  an  die  Lebenden  'Was  wir  sind,  das  werdet  ihr,  was 

ihr  seid,    das  waren  wir'    entspringt    dem    allgemeinen  Gedanken,    dass    uns  alle 

einmal  der  Tod    hinwegrafft.     Er  verdankt  seine  Entstehung    in    erster  Linie  der 

Sepulkralpoesie,    und  wurde   früh    auf  Grabsteinen    angebracht    als    Mahnung  des 
einzelnen  Toten  an  den  vorübergehenden  Wanderer: 

Quisquis  ades,  qui  morte  cades,  sta  perlege,  plora! 
Sum  quod  eris,  quod  es  ante  fui,  pro  me  precor  ora. 

In  ersten  Keimen  ist  er  schon  in  verschiedenen  antiken  Sprüchen  vorhanden, 
und  die  frühmittelalterliche  Zeit  knüpft  zum  mindestens  formal  an  antike  Typen  an1). 

Er  erscheint  mit  mannigfachen  Variationen  in  allen  Kulturländern  Europas, 
Frankreich,  Deutschland,  England,  Italien,  Schweden,  Spanien,  Russland.  Auch 
in  der  arabischen  Poesie  begegnen  wir  dem  Spruch  in  ähnlicher  Form  wie  bei 
den  mittelalterlichen  Legenden.  R.  Köhler  trug  zuerst  einiges  Material  zusammen 
(1860),  das  in  seinen  Gesammelten  Schriften  2  (1900)  von  Joh.  Bolte  beträchtlich 
vermehrt  wurde.  Ich  stelle  im  folgenden  das  mir  bekannt  gewordene  Material 
zusammen,  das  ich  nicht  wie  Köhler  nach  lokalen  Gesichtspunkten,  sondern  mehr 
nach  sachlichen  anordne.  Denn  der  Spruch  behielt  seine  Bedeutung  bis  in  unsere 
Zeit  nicht  nur  als  Sepulkralspruch,  sondern  kehrt  an  den  verschiedensten  Orten 
der  Volks-  und  Kunstpoesie  wieder,  findet  eine  Stätte  an  den  Eingängen  von  Kirch- 
höfen und  Beinhäusern,  zeigt  sich  auf  Kunstwerken  mit  Darstellungen  von  Alle- 
gorien der  Vergänglichkeit  und  ähnlichem.  Im  19.  Jahrhundert  trifft  man  ihn 
besonders  in  Süddeutschland  auf  Leichenbrettern.  Schliesslich  bildet  er  den  Kern 
und  wohl  auch  Ausgangspunkt  der  Legende  von  den  drei  Lebenden  und  den  drei 
Toten2),  die  neuerdings  verdiente,  nicht  aber  erschöpfende  Beachtung  gefunden 
hat  und  mit  Unrecht  als  Ausgangspunkt  der  Totentänze  betrachtet  worden  ist. 
Das  Material,  das  den  Spruch  in  der  Dichtung,  Kunst,  auf  Grabsteinen,  Kirch- 
höfen usw.  verfolgt,  mag  für  seine  Verbreitung,  Differenzierung  und  Fortleben  aus 
sich  selbst  sprechen. 


1)  Lier  hat  neuerdings  das  antike  Material  zusammengestellt  und  die  Umwandlung 
zu  unserem  Spruch  angedeutet  (Philologus  62,  591).  Auch  Sauer  hat  (Freiburger  Diöcesan- 
archiv  1909)  nachdrücklich  auf  Zusammenhänge  mit  spätantiker  Dichtung  hingewiesen. 
Besonders  bedeutsam  ist  der  unten  mitgeteilte  Spruch  aus  Mainz  (Nr.  63). 

2)  Die  Behauptung,  der  Totentanz  habe  sich  aus  der  Legende  entwickelt,  wie  sie 
neuerdings  von  Künstle  wieder  zu  begründen  versucht  wurde,  hält  einer  kritischen  Prüfung 
in  keiner  Weise  stand,  obwohl  sie  in  einer  übereilten  Kritik  verfrüht  akzeptiert  wurde. 
Mein  demnächst  erscheinendes  Buch  über  'die  Legende  von  den  drei  Lebenden  und  den 
drei  Toten  und  das  Problem  des  Totentanzes'  wird,  wie  ich  hoffe,  die  ausführliche  Wider- 
legung bringen,  die  ich  in  der  Literarischen  Rundschau  1910,  344—348  nur  kurz  an- 
gedeutet habe. 


54 


Storck: 


Allgemeine  Literatur. 

Athenaeum,  1872,  1,  777;  1878,  2,  110.  —  Draheim,  Deutsche  Reime  (Berlin  1883). 
—  Dreselly,  Grabschriften,  Sprüche  auf  Marterln  usw.  (Salzburg  1898).  —  W.  Grimm, 
Abhandlungen  der  Berliner  Akademie  1849,  384  (=  Kl.  Schriften  4,  63).  —  Hallbauer, 
Sammlung  Teutscher  Inscriptionen  (Jena  172.")).  -  Halm,  Totenbretter  im  bayrischen 
Walde  (Beitr.  zur  Anthropologie  und  Urgeschichte  Bayerns  12,  86.  1897).  —  Hein, 
Mitt.  der  anthropologischen  Gesellschaft  in  Wien  21,  94.  24,  59.  —  L.  v.  Hör  mann, 
Grabschriften  und  Marterln  1-3  (Leipzig  1896-1908).  —  R.  Köhler,  Germania  5,  226 
(=  Kl.  Schriften,  hs.  von  J.  Bolte  2,  27 ff.).  —  F.  X.  Kraus,  Die  frühchristlichen  In- 
schriften der  Rheinlande  1—2  (Freiburg  1894—98).  —  Künstle,  Die  Legende  der  drei 
Lebenden  und  der  drei  Toten  und  der  Totentanz  (Freiburg  i.  B.  1908).  —  Li  er,  Topica 
carminum  sepulcralium  latinorum  (Philologus  62,  591.  1903).  —  Lovatelli,  Thanatos  (Rom 
188S).  —  Massmann,  Serapeum  8,  137 f.  (1847).  —  Otte,  Kirchliche  Kunstarchäologie 
5.  Aufl.  (1883).  —  Petak,  Grabschriften  aus  Österreich  (Zs.  f.  österr.  Volksk.  10,  2.  Suppl. 
1904).  —  Pettigrew,  Chronicles  of  tombs  (London  1864).  —  Pistorius,  Thesaurus 
paroemiarum  germanico  juridicarum  (Leipzig  1724).  —  Richea,  Theatrum  funebre 
(Argentor.  1673)  1—3.  —  Stephens,  Academy,  1884,  23.  aug.  p.  122;  22.  nov.  p.  341.  — 
Fr.  Swertius,  Epitaphia  joco-seria  latina,  gallica  (Colon.  1613  u.  1645);  Monumenta 
sepulchralia  et  inscriptiones  .  .  .  Ducatus  Brabantis  (Antwerpen  1613);  Selectae  Christi- 
ani  orbis  Deliciae  ex  urbibus,  templis,  bibliothecis  (Colonia  1(149).  —  Vigo,  Le  danze 
macabre  (2.  Aufl.  Livorno  1902).  —  Wackernagel,  Zs.  f.  d.  Alt.  9,  333  (=  Kl.  Schriften 
1,  338).  —  Zincgref,  Teutscher  Nation  klug  ausgesprochene  Weisheit  (1—2,  1683/5 
Frankfurt/Leipzig):  3—4,  1683  von  Weidner  besorgt.    Teutscher  Nation  Apophthegmata. 

Quid  sis,  quid   fueras  quidque  manere 

queas. 

(Mon.  Germ.  Scr.  rer.  Merov.  4,  461.) 

5.   Chastoiment  d'un  pere  ä  son  fils 
(12.  Jh.). 

Itel  com  tu  es,  itel  fui 
Et  tel  seras  come  je  sui. 

(Lovatelli,  Thanatos  p.  63.)    Vgl.  Nr.  14. 

6.   Freidank  22,  12  (13.  Jh.). 

Swer  driu  dinc  bedaehte 
der  vermite  gotes  aehte: 
Waz  er  was  und  waz  er  ist 
Und  waz  er  wirt  in  kurzer  vrist. 
Sus  sprechent  die  da  sint  begraben 
Beide  zen  alten  und  zen  knaben: 
Daz  ir  da  sit  daz  wären  wir; 
Daz  wir  nü  sin,  daz  werdet  ir. 

(W.  Grimm,  Anz.  1834,  22.) 

7.  Hugo  von  Trimberg,  Renner  v.  .'!7<i7. 

Nieman  so  sere  sich  trösten  sol 
Libes  guotes  friunde  oder  kunst 
Oder  siner  genaedegen  herren  gunst, 
Er  gedenke  mit  flize  doch  dabi, 
Was  er  muoz  werden  oder  waz  er  si. 


I.  Der  Spruch  in  der  Literatur. 

1.    Modhadh  Ben  Amru  (3.  Jh.). 
0  Menschen  ziehet  ein,  denn  eines  Morgens 
Da  ziehet  ihr  in  den  Palast  nicht  ein! 
Treibt  eure  Pferde  an,  lasst  frei  den  Zügel 
Eh'  daß  euch  noch  erreichen  wird 

Freund  Hain! 
Wir  waren  einstens  Männer,  wie  ihr  seid, 
Ihr  werdet,  was  wir  waren,  auch  einst  sein. 

(Hammer-Purgstall,  Literaturgeschichte 
der  Araber  1,  1,  94.  Wien  1850.) 

2.  Adi  ibn.   Zaid  (6.  Jh.). 

Wir  waren,  was  ihr  seid; 
Doch  kommen  wird  die  Zeit 
Und  kommen  wird  sie  euch  geschwind, 
Wo  ihr  seyn  werdet,  was  wir  sind. 
(Hammer-Purgstall  1. 1, 183;  Monatsber. 
d.  Berl.  Akad.  d.  Wiss.  1858,  012.) 

3.  Alcuin  (9.  Jh.). 

Quod  nunc  es  fueram,  famosus  in  orbe 

viator, 
et  quod  nunc  ego  sum  tuque  futurus  eris. 
(Mon.  Germ.  Scr.  1,350  Alcuini  c.  123,5.) 

1.  Vita  Haimhrammi  (11.  Jh.). 

Quisque  legas  hominum,  mentem 

traetanda  revolvo 


8.  Als  Mittelpunkt    uud  eigentlicher  Kern 
erscheint  der  Spruch,  wie  angedeutet,  in  ver- 


Kleine  Mitteilungen. 


55 


schiedenen  Fassungen  der  Legende,  die  in 
meinem  Buche  eingehend  behandelt  werden. 
So  in  dem  frühesten  französischen  Dit  des 
Baudouin  de  Conde   (13.  Jh.): 

Segnours  regardes  nous  a  vis 
et  puis  as  cors  nous  qui  a  sommes. 
Aviens  l'avoir,  voiies  quel  sommes; 
Tel  serez  vous  et  tel  comme  ore 
Estes,  fumes 

9.  Bei  Nichole  de  Marginal  (13.  Jh.). 

Tel  serons  nous  c'est  chose  fine; 
II  n'est  riens  vivans  ki  ne  fine  .  . 

10.  Anonymer  Dit  (13.  Jh.). 

Tels  come  vous,  ung  temps  nous  fumes 
Tels  vous  serez  comme  nous  sommes. 

(Montaiglon,  L'alphabet  de  la  mort  de 
Hans  Holbein  1856.) 

11.  Italienisches  Gedicht  (14.  Jh.). 

uno  fuimo  come  vuy  syte 

ora  simo  vile,  cussi  vui  tornarite. 

(Giornale  di  filol.  romanza  1,  245.) 

12.  Van  den  doden  Koningen  und  van 
den  leuenden  Koningen  (14.  Jh.). 
Dat  wir  syn,  dat  moist  ir  werden, 
want  ir  moist  zo  der  erden. 

(Gräter,  Bragur  1,  375.  1791.) 

13.  Van  dren  Koningen  (14.  Jh.). 

Wat  gy  sint,  dat  were  wy, 
Wat  wy  sint,  dat  werde  gy. 

(Staphorst,  Hamburg. 
Kirchengeschichte  I,  4,  S.  2G4.  1731.) 

14.   Petrus  Alfonsi,  Disciplina  clericalis 
47,  3.    (12  Jh.) 
Sum  quod  eris;  quod  es  fui  ipse 
Mortis,  dum  licuit  pace  invante  frui. 
(Chauvin,  Bibliographie  arabe  9,  37.) 

15.    Von    des   Lebens   Nichtigkeit 

(14.  bis  15.  Jh.). 
Als  uns  nu  ist,  als  was  och  jn. 
derisor  amarae,  als  jn  nun  ist,  als  werden  wir. 

(Lassberg,  Liedersaal  3,  573.)  * 

16.  Mariengrüsse  v.  512. 
Vrewe  dich  unde  vrewe  mir  armen 
die  sele  und  lä  dich  erbarme 


Wir  sin  stoup  und  erde  üz  erden 
Daz  si  sint,  daz  sol  wir  werden. 

(Zs.  f.  d.  Altertum  8,  290.) 

17.    Dis  ist  der  werlte  Ion 
(15.  Jh.). 

Wir  sint  dot,  so  lebent  ir, 
Der  ir  sint,  der  worent  wir. 

(Künstle,  Die  Legende  usw.,  S.  38.) 

18.  Dritter  Prediger  (München  Cod.  germ. 
2927.  1446). 

0  mensch  sich  an  mich 

Waz  du  pist  das  waz  ich 

Ouch  sich,  wy  recht  jämmerlich 

Dy  wuerm  peissent  umb  mein  fleisch. 

(Zs.  f.  Bücherfreunde  2,  452.  1899.) 

19.  Französisches   Gedicht    (15.  Jh.  in 
Valenciennes). 

Ne  vous  espantes  point  de  nous, ' 
Tel  que  nous  sommes  seres  vous 
Tel  que  vous  estes  fumes  nous 
Tu  qui  es  d'humaine  nature, 
En  tems  que  ta  nature  dure. 
Advise  toy,  le  temps  se  va 
II  n'est  arbre,  tant  ayt  verdure 
Que  enfin  ne  viengne  ä  pouriture 
Et  jamais  ne  raverdirat. 

(Catal.  general  des  mss.  des  bibl.  publ. 
de  France  25,  205.) 

20.  Zitglögglin  (Basel  1512,  Bl.  193h). 

Als  ich  icz  bin,  also  waren  sie; 
Als  sie  icz  sind,  also  wird  ich  auch. 

(Zs.  f.  vgl.  Sprachforschung  15,  284.) 

21.  Danse  macabre  (Troyes,  Paris  1528). 
Comme  nous  sommes, 

telz  serez  vous. 

22.   Heures    de   Thielman    K erver 
(Paris  1525). 

Nous  auons  bien  este  en  chance 
Autrefoys  comme  estes  a  present 
Mais  vous  viendrez  a  nostre  dance 
Comme  nous  sommes  maintenant. 

Nous  sommes  en  gloire  et  honneur 
Remplis  de  tous  biens  et  cheuance 
Au  monde  mettant  notre  cueur 
En  y  prenaut  nostre  plaisance. 


56 


Storck: 


23.    Antonio    Alamanni    (II  earro   della 
morte  155V)). 

Morti  siam,  corae  vedete, 
Cosi  morti  vedrem  voi! 
Fummo  gia  come  voi  siete. 
Voi  sarete  come  noi; 
E  di  la  non  giova  poi, 
Dopo  il  mal,  far  peuitenza. 

(Tutti  i  trionfi,  carri  o  canti  carnas- 
cialeschi  etc.  Parte  I,  146.) 

24.  N.  Mercator,  Spü  van  dem  Dode 
unde  van  dem  Leuende  (um  1500). 

Minsche,  sü  an  mick, 
Dat  du  bist,  dat  was  ick. 

(Seelmann,  Mnd.  Fastnachtsspiele 
1S85  S.  31.) 

25.  Jakob  Bälde,  Choreae  mortuales 

(1643). 

Nos  quicunque  vides  plaudere  Manibus, 
Cantabis  similis  tu  quoque  naenias. 
Quod  nunc  es,  fuimus,  Quod  sumus,  hoc 

eris: 
Praemissos  sequere  et  vale! 
(Bälde,  Lyrica  2,  33  [ed.  Müller  1844.] 
Serapeum  S,  138.) 

26.  F.  Petri,  Der  Teutschen  Weisheit 

(1605). 

All  die  ihr  hier  vorübergeht, 
Denkt  wie  die  Sach  jetzt  um  uns  steht! 
Was  wir  sind  werdet  ihr  noch  werden, 
Was  ihr  seid  waren  wir  auf  Erden. 

(Hoffmann  v.  Fallersieben,  Spenden  zur 
Literaturgeschichte  1,  10). 

27.   Georg  Greflinger,  Poetische  Rosen 

und  Dörner,  Hülsen  und  Körner  (Hamburg 

L655)    Epigrainmata   Bl.  A4a:    Todes  Ge- 

dancken. 

Was  du  bist,  war  auch  ich,  und  was  ich 

jetzo  bin, 
Das  würst  auch  du  nach  mir. 

28.  Conrad  Goltzius. 

Ein  Jüngling,  vor  dem  inmitten  eines  Kirch- 
hofes ein  Toter  sitzt,  auf  dessen  Grabstein 
die  Worte: 

Quod  es  fui, 

Quod  sunt  eris. 


29*   München  er  Cod.  germ.  1001,  Bl.  267  a 

(17.  Jh.). 
Gedenkh  was  wir  sein  und  weiden 
So  wir  da  faulen  in  der  erden. 

(Serapeum  8,  138.) 

30.  G.  W.  Sacer,  Anredung  eines  ab- 
gelebten Menschen. 
Komm  Sterblicher,  betrachte  mich: 
Du  lebst,  ich  lebt'  auf  Erden. 
Was  du  jetzt  bist,  das  war  auch  ich, 
Was  ich  bin,  wirst  du  werden, 
Du  musst  hernach,  ich  bin  vorhin: 
Gedenke  nicht  in  deinem  Sinn, 
Daß  du  nicht  dürftest  sterben! 

(Sacer,  Geistl.  liebl.  Lieder  Gotha  1714 

S.  89  =  Fischer- Tümpel,    Kirchenlied 

des  17.  Jh.  4,  506.) 

31.  Weikard,  Biogr.  W.  F.  v.  Gleichen 

genannt  Russworm  (1783). 
Was  ich  heut  bin,  das  bist  du  morgen. 

(Köhler  2,  34.) 

32.  Herder,  Terpsichore  1,  376:    Der 
Schattentauz  (nach  Bälde). 

Der  du,  Sterblicher,  nachts  unsere  Stimmen 

hörst, 
Bald  wirst  du  sie  mit  uns  flüstern.     Wir 

waren  auch, 
AVas  du  bist,  und  du  wirst  werden,  was 

wir  jetzt  sind. 

(Herder,  Werke  ed.  Hempel  3,  88) 
vgl.  oben  Nr.  25. 

2.  Der  Spruch  bei  Kunstwerken. 

33.  In  Italien   (14.  bis  15.  Jh. \ 

Dove  vai  per  via 

Dell'  anima  mia. 

Siccome  tu  se,  ego  fui, 

Sicut  ego  sum,  tu  devi  essere. 

(Vigo,  Le  danze  inacabre  S.  88.) 

34.  Badenweiler,  Fresko    (Anfang  15.  Jh.). 

Was  erschrik  du  ab  mir? 
Der  wir  sint,  das  werdent  ir. 

Hier  tritt  der  Spruch  zu  der  illustrativen 
Darstellung  der  Legende  der  drei  Lebenden 
und  der  drei  Toten.  Ähnliche  Sprüche  be- 
gleiten dieselbe  z.  B.  in  Überlingen  und 
Zeitz :  die  meisten  Inschriften  sind  heute  zum 
Teil  ausgelöscht  und  schwer  lesbar,  so  in 
Frankreich   Ferneres -Haut    Clocher,    Jersey, 


(Zs.  f.  Bücherfrde.  2,  2,  452.  1899.)     St.  Riquier  usw.,  in  England  Ampney  Crucis, 


Kloine  Mitteilungen. 


57 


Beiton  usw.,  in  Holland  Zant-Bommel,  in 
Dänemark  Skibby  und  Tudse.  Der  Cata- 
logue  raisonne  meines  Buches  wird  alle 
Inschriften,  soweit  deutbar,  enthalten. 

35.    Speculum    humanae    salvationis 
(München  Cgm.  3974,  Bl.  59b)  und 

36.  Mittelrhein.  Holzschnitt 
(15.  Jh.  Berlin). 

Sie  weren  wer  sie  weren: 

Wir  magen  uns  ir  wol  weren. 

Sint  sie  menschen  gewesen  glich 

Sich  das  wondirt  auch: 

Goit  durch  din  wonder  manigfalt 

Wie  sint  die  dric  also  gestalt. 

Ez  sal  uch  nit  wonder  han 
Das  wir  drie  sint  also  gethan 
Das  ir  siet  das  waren  wir 
Das  wir  sint  das  werdent  ir 
Sin  wir  iß  hude  ir  siet  is  morn 
Ich  me}'nen  uch  alle  drie  da  vorn. 

(Serapeum  S,  137:    Wessely,  Gestalten 

des    Todes    und    Teufels    187G    S.  20; 

Schreiber,   Manuel  de  l'amateur  de  la 

gravure  sur  bois  6,  270  Nr.  1899.) 

37.  Holzschnitt  aus  der  Abtei  s.  Truyden 
in  Lüttich. 

Drei  Gerippe  tanzen  vor  dem  vierten, 
pfeifenden. 

Siste  graduni,  quod  es  ipse  fui,  fortassis 

eris  cras. 
Quod  sum,  cadaver  putridum. 

(Serapeum  8,  133.) 

38.    Kreuzigung    und  Allegorie    der 

Vergänglichkeit    (Meister  von  Frankfurt. 

16.  Jh.,  Städelsches  Institut). 

Vos  qui  transitis 
mei  memores  estis. 
Quod  sumus,  hoc  eritis 
Fuimus  quandoque  quod  estis. 

(Zs.  f.  christl.  Kunst  10,  1.  1897.)  Vgl.  Nr.  GS. 

39.    Fensterscheibe.     Früher   im   Besitz 

der  Frau  Gräfin  Benzel-Sternau  auf 

Emmerichshofen.    (15G8.) 

Die  Toten  sprechen: 

Geschow  min  kleid  und  angesicht. 
Das  wirt  dir  und  anders  nicht 
Die  ir  said  die  waren  wir 
Die  wir  yetz  sind  die  werdend  ir. 

(Serapeum  8,  136.) 


10.  Holzschnitt  (16.  Jh.  Nürnberg, 
Germ.  Mus.). 
Tod  mit  einem  Sarg  in  der  Hand: 
Siehe  an  mich  und  nit  dich, 
Dann  das  du  bist  das  war  ich. 
Jung,  Edel,  starck,  reich  wolgestalt 
Mit  ehren  in  lusten  mannigfalt 
Jetzund  bin  ich,  wie  du  siehst  mich 
Thue  auff,  ich  komm  und  hole  dich. 

41.  Kupferstich  von  J.  v.  d.  Heiden 
(1616). 

Der  Tod  mit  den  zehn  Lebensaltern.  Auf 
dem  Mauergesims  rechts:  Sum  quod  eris  / 
es  quod  fui. 

(Zs.  f.  Volkskunde  17,  27  2.) 

42.  Kupferstich  eines  Schädels  (1617). 
Sum  quod  eris. 

Was  du  bist,  war  vordeß  auch  ich, 
Was  ich  bin  wirstu  seyn  endlich. 

(A.  Bretschneider,  Pratum  emblematicum 
1617.    Nr.  47.) 

3.  Der  Spruch  an  Kirchhöfen,  Beinhäusern, 
Kirchen  usw. 

43.  Rom,  Chiesa  dei  Santi  Quattro  Coronati. 

Cod  estis  fui  et  quod  sum  essere  abetis. 

(Du  Cange,  sub  'essere'.   Gruter,  Inscr. 
Rom.  1616  p.  1062.) 

44.  Clermont-Ferrand  (1270). 

Tu  que  la  vas  tu  boca  clauza 
Guarda  est  cors  qu'aisi  repauza 
Tal  co  tu  iest  e  ieu  si  fui 
E  tu  seras  tal  co  iea  Lui. 

(Mcm.  de  l'Acad.  de  Clermont  16,  123;  Revue 
des  1.  rom.  11,  146.  35,  394;  Romania  6,  303.) 

45.  Pisa,  Camposanto  (14.  Jh.). 

Adspice  qui  transis,  miserabilis  inspice 

qui  sis; 

Talis  namque  domo,  clauditur  omnis  homo. 

Quisquis  ades,  qui  morte   cades,    sta,    per- 
lege, plora. 

Sum  quod  eris,  quod  es  ipse  fui,  per  me 

precor  ora. 

(Vigo,  S.  88.) 

46.   Betzimmer   einer   andalusischen 
E de  lfr au. 

Lo  que  eres  fui. 

Lo  que  soy,  seras. 
(Caballero,  Clemencia  1,  190.    Köhler  2,  3  I  | 


58 


Storck: 


5< 


IT.  Avignon,  Kirchhoftür. 
Nous  etions  ce  que  vous  etes 
Et  vous  serez  ce  que  nous  sommes. 

(Serapeum  8,  138.   Germ.  5,  222.) 

IS.  Udine,  Chiesa  dei  Capuccini. 

0  tu  che  guardi  in  su 

Sic  fu  come  sei  tu 

Tu  sarai  come  son'io 

Pensa  a  questa  e  va  con  Dio. 

(Vigo,  S.  88.) 

49.  Eilenhurg,   Kirchhof. 

Was  ir  seid,  das  waren  wir 
Was  wir  sind  das  werdet  ihr. 
(Blätter  für  literar.  Unterhaltung  1834, 1381. 
Bezzenberger  zu  Freidank  22,  16.) 

50.  Te plitz,  Kirchhof. 

Was  wir  waren  das  seid  ir 
Was  wir  sind  das  werden  wir. 

(Serapeum  8,  138.) 


51.  Naumburg. 

Id  quod  sum,  tu  eris 
Quod  tu  es,  ego  fui. 
(Mitzschke, Naumburger  Inschriften  1877  S.73.) 

52.  Kiewitten  (Ermeland). 

Was  ihr  seid,  das  waren  wir 
Was  wir  sind,  das  werdet  ihr. 

(Illustr.  Zeitg.  1882,  252  c.) 

53.  Muflatal,  Kapelle. 
Links:  Nische  mit  grinsenden  Schädeln: 

Was  du  heute  bist,  war  ich  gestern. 
Rechts: 

Was  ich  heute  bin,  wirst  du  morgen  sein. 

54.  Andernach. 

0  vos  omnes  qui  transitis  | 

per  viam,  attendite  et  vide-  | 

te,  si  est  dolor  similis  | 

sicnt  dolor  meus.     [Lament.  Jerem.  1,12.] 

55.  Deterville   (Calvados). 
Wie  Nr.  51. 

(Male,  L'art  religieux  de  la  iin  du 
moyen  äge  1908,  S.  380.) 


56.  Moulins  (16.  Jh.). 
Olim  formoso  fueram  qui  corpore,  putri 
Nunc  sum;  tu  similis  corpore,  lector,  eris. 

(Male  S.  380.) 


Kloster   von   Neu-Athos   (Kaukasus). 

Wie    Nr.  51    in    russischer    Sprache.      Der 

Spruch  kommt  auch  sonst  in  Russland  häufig 

vor,  wie  mir  mein  Freund  Dr.  A.  von  Trubnikov 

(Petersburg)  versichert. 


58.  Bern,  Manuels  Totentanz. 

Hie  liegend  also  unsere  bein, 
Zu  uns  her  tanzen  d  gross  und  klein, 
Die  jhr  jetz  sind,  die  waren  wir, 
Die  wir  jetz  sind,  die  werden  ir. 

(Massmann,  Die  Basler  Totentänze.) 

59.  Lauchstädt,  Gottesacker  (1601). 

Alle  die  ihr  fürüber  geht, 
Denkt  wie  die  Sach  mit  uns  itz  steht: 
Was  wir  itz  sind,  werd  ihr  werden 
Was  ihr  itz  seid,  warn  wir  auf  Erden. 

(Draheim  S.  81.) 

60.  Mittelborn,  Beinhaus  (18.  Jh.). 
Liebe  Brüder  und  Schwestern, 
Wir  waren  noch  gestern, 
Stark  und  gesund  wie  ihr 
0  seht,  morgen  seyd  ihr  wie  wir. 

(Kraus,  Kunstdenkmäler  von  Elsass- 
Lothringen  3,  786.) 

61.  Villingen,  Gottesacker  (18.  Jh.)1). 
Hier  liegt  der  Herr   und  auch  der  Knecht. 
Ihr  weltlichen  Menschen,  betracht  uns 

recht! 
Was  wir  jez  sein  gewest  auf  Erden, 
Das  werdet  mit  der  Zeit  ihr  auch  gewiss 

werden. 

(Alemannia  27,  151.) 

4.    Der  Spruch  auf  Grabsteinen. 

62.  Rom,  Lateran. 

Quisquis  ades,  qui  morte  cades,  sta, 

perlege,  plora! 

Sum  quod  eris,  quod  es  ante  fui;  pro  me 

precor  ora. 

(Lovatelli  S.  10  nach  de  Rossi  2,  223.) 


1)  Die  Mitteilung  dieses  Spruches  (sowie  der  Nrn.  99,  103,   107,   112)   verdanke  ich 
nebst  weiteren  wertvollen  Hinweisen  der  Güte  des  Herrn  Prof.  Dr.  J.  Bolte. 


Kleine  Mitteilungen. 


59 


63.  Mainz,  St.  Alban  (9.  Jh.). 
Siste  viator  iter,  per  me  tu  gnoti  seauton! 
Nam  quod  es  hoc  fueram,  quod  sum 
nunc  et  eris. 
Non  mihi  Liudolfo  totus  suffecerat  orbis, 
Nunc  specus  hoc  cineri  sui'ficit  hicque 
sat  est. 
Hinc  ut  is  eternam  requiem  mihi  det, 

rogo  dicas, 
Omnia  qui  fecit  meque  vehi  voluit. 
Inschrift  Liudolfs,  des  Sohnes  Ottos  I. 

(Kraus  1,  99.) 

64.    Verona. 
Tu  qui  adstitisti  mei  monumenti 

ambula  et  te  esse  horainem  fac, 
quod  nunc  ego  sum  tuque  futurus  eris. 
(Lovatelli  S.  10  nach  Maffei, 
Verona  illustrata.) 

65.  Petrus  Damiani  (t  1072), 
Grabschrift. 

Quod  nunc  es  fuimus;  es  quod  sumus 

ipse  futurus. 
His  sit  nulla  fides,  quae  peritura  vides. 
(Germ.  5,  224.  Eichea  1,  73.) 

66.   Obizo,  Magister  u.  Arzt, 
Grabschrift  (12.  Jh.). 
Respice  qui  transis  et  quid  sis  disce  vel 

unde 
Quod  fuimus  nunc  es,  quod  sumus 

illud  eris. 

(Neues  Archiv  11,  606.) 

67.   Petrus    Comestor    (f  1179),    Grab- 
schrift. 

Quod  sumus,  iste  fuit;  erimus  quandoque 

quod  hie  est. 

(Hist.  litter.  de  France  15,  14.) 

68.  Neuweiler,  Stiftskirche  (13.  Jh.). 

Vos  qui  transitis,  nostri  memores  rogo 

sitis 
quod  sum,  hoc  eritis,  fuimus  quandoque 

quod  estis. 

(Kraus  2,  53.) 

69.   Grabschrift  (13.  Jh.). 

Comes  tes  teil  fumes  nos 
Comes  soumes  teil  ceres  vos. 


Por  amor  deu  pries  por  nos 
Si  aies  merci  de  vos. 

(Lovatelli  S.  63.) 

70.  Volkenroda  (Sachsen),  Grabstein. 

Hie  jaceo  funus 
Victurorum  tarnen,  unus; 
Quod  mihi  nunc,  tibi  cras: 
Non  te  salvabit  Ino  cras. 
(Anz.  f.  Kunde  der  d.  Vorzeit  10,  43<>.) 

71.  Laurviks  Amt  (Norwegen). 

Plora;  sum  quod  eris: 
Fueram  quod  es; 
Pro  me  precor  ora. 

(Academy  1884  S.  341.)    Auch  Saem, 
Jarlsbergs  (13.  Jh.) 

72.  Abt  Silvester  (f  1267). 
Ego  sum,  quod  hie  fuit:   quod  hie  est,  ego 
ero.    (Brev.  Rom.  26.  XI.) 

(Künstle  S.  29.) 

73.  Grabmal  einer  Frau  (13.  Jh.). 

Ce  qu'or  est  je  la  fui 

Est  vous  serez  ce  qu'or  je  sui 

Priey  pour  nous 

Celle  qui  dit  ces  vers 

est  mangiee  des  vers 

et  serez  vous. 

(Lovatelli  S.  63.) 

74.  John  Warren,  Earl  of  Surrey 

(t  1304),  Grabmal. 
En  vie  come  vous  estis  jadis  fu, 
Et  vous  tiel  serietz  come  je  su. 

(Pettigrew  S.  24.) 

75.  Gregorius  Arminensis  (f  1358) 

(Wien,  Augustinerkirche.) 

Wie  Nr.  62;  vgl.  135. 

(Swertius,  Deliciae  S.  480.) 

76.  Epitaph  des  Black  Prince  (1376). 
Tiel  come  tu  es  ie  au  tiel  fu: 
Tu  seras  tiel  come  ie  su. 

(Pettigrew  S.  41.) 

77.  Titus  Lupatus  (f  1399)  Epitaph 
in  Padua. 

Id  quod  es  ante  fui;   quid  sim  post  fata 

requiris? 


60 


Storck: 


Quod  sum.  quicquid  id  est,  tu  quoque 

lector  eris 
Ignea  pars  coelo,  caesae  pars  ossea  rupi, 
Lectori  cessit  nomen  inane  Lupi. 


86.  Boisrogue  (bei  Loudun). 

Varianten  von  Nr.  62  (Male  S.  381). 

Hier    steht   die  Inschrift   auf  Grabsteinen 
mit   interessanten    Darstellungen    der    Leich- 


(Swertius,  Deliciae  S.  420.    Ricliea  3,  362.)    name  und  Skelette. 


78.  Hainhem  (Gotland)  (14.  Jh.) 
Grabschrift. 

Gerin  uel  af.  bipin  firi  paim 

Paun  uaru  pet  sum  ir  iarin  nu, 

Ok  ir  uarpin  pet  sum  paun  iaru  nu. 

(Notes  and  Qucries  186S,  S.  389.) 

79.  Brass  of  Wil  Chichele, 
Grabschrift  (1425). 

Such  as  ye  be,  such  wer  we; 
such  as  we  be,  such  shal  ye  be. 

(Athenäum  1878,  2,  110.) 

80.  Hycklinge  (Gotland)   Grabschrift. 
Wie  Nr.  62. 

(Antiquarisk  Tidskrift  for  Sverige  1,  101). 

81.  John  Burton    und  Frau  (f  1460) 

Grabschrift. 

Frends  fere,  what  so  yee  bee. 
Prey  for  us,  we  your  prey, 
As  you  see  us  in  this  degree; 
So  shall  you  be  another  dey. 

(Athenäum  1878,  2,  210.) 

82.  Maria  Boisot  (1472)  Brüssel. 

Fuere  lector,  hi  quod  es 
Et  mox  quod  hi  sunt,  ipse  eris. 
0  dura  sors  mortalium! 
Haec  Parca  parcit  nemini. 
0  coecitas  mortalium! 
Haec  cura  tangit  paueulos. 
Te  tangat,  o  te,  si  sapis: 
Mori  ante  mortem  cogita. 

(Swertius,  Monuinenta  sepulchralia  S.  277.) 

83.    Dijon,  Karthause. 
Hodie  mihi,  cras  tibi. 

Auch  an  vielen  anderen  Orten. 

(Male  S.  382.) 

84.  Gisors  (Grabstein  (1526). 

85.  Glermont  d'Oise  (1437). 


87.  Venedig,  S.  Luca.     Grabstein  (1594). 

Siste  viator  nee  Manes  laedito. 

Quod  fuisti,  fui,  non  es  quod  sum. 

Ut  me  vides,  te  alii  forte  videbunt  brevi, 

Incerta  certi  fati  hora; 

Numen  ergo  semper  time. 

(Swertius,  Deliciae  S.  226.) 

88.  Brüssel,  St.  Gudula.    Epitaph  (16.  Jh.). 

Fuere,  lector,  hi  quod  es 

Et  mox  quod  hi  sunt  ipse  eris: 

O  dura  sors  mortalium 

vielleicht  identisch  mit  Nr.  82. 

(Richea  3,  138.     Germania  5,  224.) 

89.  Bremen,  Grabschrift. 

Wat  ik  was,  dat  bistu, 

Wat  ik  bin,  dat  wastu. 

Hodie  mihi,  cras  tibi. 
(Lappenberg,  Ulenspiegel  1854,  S.  337  nach 
Kohlmann,  Mitteil,  über  die  Bremischen  Col- 
legiatstifter  S.  134;    vgl.  Anz.    d.  germ.  Mus. 
1863,  439.) 

90.  Rom,  Grabschrift1). 

Hospes  tu  quod  es  ipse  fui,  fies  quoque 

quod  sum 
Nunc  ego;  cum  lethes  flumine  mersus  eris. 

(Swertius,  Deliciae  S.  4S.) 

91.  Anonyme  Grabschrift. 

Tu  quod  es,  hospes,   eram,   quod  ego  sum, 

tu  quoque  fies. 
Quae  tibi  vis  fieri  iusta,  precare  mihi! 
(Swertius,    Epitaphia  joco-seria  1645  S.  130.) 

92.  Anonym. 

Vermibus  hie  donor,  et  sie  descendere  conor 
Qualiter  hie  ponor,  ponitur  omnis  honor. 
Quisquis  ades,  tu  morte  cades:  sta, 

respice,  plora: 
Sum  quod  eris,  quod  es  ipse  fui,  pro  me 

precor  ora. 

(Swertius,  Epitaphia  S.  114.) 


1)  Die  Nummern  90—96,    die    ich  den  Werken  von  Swertius  entnehme,    haben  kein 
Datum,  müssen  aber  vor  1613  entstanden  sein. 


Kleine  Mitteilungen. 


61 


93.  Julian  Vaudraeus   Montensis, 
Grabschrift. 

Jam  quod  es,  ante  fui,  iam  sum  cinis, 

umbra  minusque 

Tu  quod  es,  et  quod  ego,  simul  omnia 

subjice  puncto, 

Omnia  praetereunt,  nos  ivimus,  itis  et  ibis. 
(Swertius,  Epitaphia  S.  103.) 

94.  Fano,  S.  Francesco. 

Cerne  quid  es,  quid  eris,  humilis  sie 

efficieris 

Vile  cadauer  eris,  hoc  ergo  frequens 

mediteris. 

(Swertius,  Deliciae  S.  183.) 

95.  Anonym. 

Vide,  quid  sim!     Fui,  quod  estis,  eritis, 

quod  sum. 

Bullam  se  esse  qui  existimat,  is  demum 

sapit, 

Et  qui  servandam  locat  ossibus  domum. 
(Swertius,  Epitaphia  S.  190.) 

96.  Jodocus  Sasboutius.     Arnheim 
(Geldern). 

Siste  gradum:  quod  es  ipse  fui:  fortasse 

eris  cras 
Quod  sum,  cadaver  putridum. 
(Richea  3,  159.     Swertius,  Deliciae  S.  732.) 

7.  Hagenau,   Grabschrift  (17.  Jh.): 
Quod  es,  fui:    quod  sum,  eris:  para  te. 

(Draheim  S.  81.) 

98.  Nordhausen,  Blasiuskirche  (1626): 

0  ihr  Menschen !    betracht't  eben, 
Uns  Todten  in  eurem  Leben; 
Denn  wie  ihr  seyd,  so  waren  wir, 
Und  wie  wir  seyn,  so  werdet  ihr. 

(Kindervater,  Nordhausa  1715  S.  121; 
Draheim  S.  105.) 

99.  Perlberg,  Grabstein  (17.  Jh.). 

Was  du  anjetzo  bist,  war  ich  vorhin  aulf 

Erden, 
Was  ich  anjetzo  bin,  das  wirstu  auch 

bald  werden. 
Den  Weg,  den  du  ietzt  gehst,  den  bracht 

ich  offtmahls  hin, 
Bald  wirstu  diesen  gehn,  den  ich  jetzt 

gangen  bin. 

(J.  P.  von  Memel,  Lustige  Gesellschaft  1660 
Nr.  987.) 


'.» 


100.   Caspar  Amort.     München,  Salvator- 
kirche  (1675). 
Ich  liege  hier,  sieh  über  dich 
Geh  Niemand  vorbey,  er  bet'  für  mich. 
Gedenk',  o  Mensch  auff  Erden 
Was  ich  jetzt  bin,  musst  du  noch  werden. 
(Zs.  f.  Volksk.  17,  27  2.) 

101.  Dorf  a.  d.  Pram  (1689). 

Ich  lig  allhier  und  bin  verwesen, 
Was  ihr  jetzt  seyd,  bin  ich  gewesen, 
Wie  ich  jetzt  bin,  so  müst  ihr  werden. 
Seyd  allzeit  gerüst,  der  Tod  ist  gewiss. 

(Krackowitzer,  Inschriften  im  Lande  ob 
der  Enns  1901  S.  23.) 

102.  Job.  Adam  Spier.     Aschaffenburg, 
Stiftskirche  (1677). 

Siste  gradum  quisquis  transis  monumenta 

piorum. 
Ac  minime  pigeat  te  meminisse  mei 
Hesterna  vivens  hodie  tibi  mortuus  adsto 
Sic  vivens  hodie  cras  moriere:  vale. 

(Eigene  Reisenotiz.) 

103.  Ottensheim,  Grabschrift  (1708). 
Wer  du  bist,  das  war  auch  ich, 
Khnie  nieder  und  bet  für  mich  ...  . 

(Krackowitzer,  Inschriften  S.  23.) 

104.  Schönthal,  Grabschrift  (18.  Jh.). 

Du  bist,  was  ich  gewesen  bin, 
Ich  bin,  was  du  wirst  werden : 
So  geht  ein  jeder  Mensch  dahin 
Und  wird  zu  Staub  und  Erden. 

(Allg.  Zeitg.  1877.    Nr.  253,  S.  3804.) 

105.  Jügesheim  (Hessen),  Grabmal  des 

Centgrafen  Neel  (1747.) 

0  Mensch  steh  still  und  thu  hier  lesen 
Was  du  bist,  bin  ich  gewesen. 
Und  was  ich  bin,  das  wirst  du  werden, 
Nichts  änderst  als  Staub  und  Erden. 

(Eigene  Aufzeichnung.) 

106.  München,  Frauenkirche.     Grabstein 

(1797). 
Hier  ligen  Wier/und  seyn  Verwesen 
Wie  seyt  jetzt  Ihr  /  Sein  wir  auch  gewesen. 
Wie  wür  sein  da/muest  ihr  auch  werden. 
Verfaulen  im  Grab  /  zu  Staub  und  Erden. 

iDraheim  S.  106.) 


62 


Storck: 


107.  Sakrowbei  Potsdam  (Graf  v.  Hordt 
t  1798). 
Komm  Sterblicher,  betrachte  mich! 
Du  lebst,  ich  lebte  auch  auf  Erden. 
Was  du  noch  bist,  das  war  auch  ich, 
Und  was  ich  bin,  das  wirst  du  werden. 

(Zeitung.) 

108.  England,  Grabsteine. 

Remember  man,  that  passeth  by 
As  thou  is  now,  so  once  was  I 
And  as  I  am,  so  must  thou  be: 
Prepare  thyself  to  follow  me. 

(Notes  and  Queries  G.  ser.  1,  121.) 

109.  England. 
Such  as  ye  be,  such  wer  we. 

(Athenaeum  1872,  1.  777.) 

110.  England. 

As  I  was,  soe  are  yu 
As  I  am,  you  shall  bu. 
That  I  had,  that  I  gave, 
That  I  gave,  that  I  have. 

(Athenaeum  1878,  2,  110.) 

111.  Grabschrift.    Wo? 

Gare  viator!  — 

Ne  abhorreas  ossa  mea 

Etiam  tu  fui  in  Vita 

Etiam  ego  eris  post  mortem. 
(Zs.   f.    Volksk.  17,  27 2  nach    Sprüche    zu 
Grabschriften  usw.  von  einem  emer.  Priester 
184:',,  S.  225.) 

112.  Palkenburg  (19.  Jh.). 

Schau  mir  an  und  thu  mir  lesen! 
Was  du  bist,  bin  ich  gewesen, 
Was  ich  bin,  das  wirst  du  werden, 
Wir  sind  alle  von  der  Erden. 

(Blätter  f.  pommersche  Volkskunde 
7,  127.  1899.) 

113.  Graz  (19.  Jh.). 

Ich  lieg'  alhier  und  muß  verwesen, 
Ich  bin,  o  Mensch  gleich  Dir  gewesen. 
Und  so  wie  ich  wirst  du  auch  werden, 
Staub  und  Asche  und  auch  Erden. 

(Herrigs  Archiv  81,  446;  Hörmann  1,  35.) 


114.  Lambach.    Leichenbrett1). 

Wanderer  steh  still  und  schau, 
Der  du  bist  war  ich  auch; 
Der  ich  bin,  das  wirst  du  werden, 
Eine  Speis'  der  Würmer  und  Staub  auf 

Erden. 

Desgl.  im  Bair.  Wald. 

(Hein,  Mitt.  d.  anthrop.  Ges.  in  Wien 
21,  94.  24,  59;  Dreselly  Nr.  823.) 

115.  Ampas. 
Wie  114.    (Hörmann  3,  45.) 

HG.  Bairischer  Wald.    Leichenbrett. 
Ich  lieg  im  Grab  und  muss  verwesen. 
Was  du  jetzt  bist,  bin  ich  gewesen! 
Was  ich  jetzt  bin,  das  wirst  auch  du. 
Drum  steh  und  bet  für  meine  Ruh. 

(Hörmann  3,  35.) 

117.  Frischwinkl   bei  Eisenstein. 
Was  du  bist,  das  war  ich  auch, 
Und  was  ich  jetzt  bin,  das  wirst  du  auch 

werden. 

(Hein  21,  94.)    An  mehreren  anderen 
OrteD. 

118.  Reit  im  Winkel. 

Hier  liege  ich  und  muß  verwesen, 
Was  ich  jetzt  bin,  das  werdet  ihr, 
Geht  nicht  vorüber,  betet  mir. 

(Dreselly  S.  19.) 

119.  Natters  bei  Innsbruck,  Marterl. 
Auch  ich  trug  einstens  Bart  und  Zopf; 
Wie  du  jetzt  trägst  auf  Erden: 
Was  ich  jetzt  bin,  ein  Totenkopf, 
Auch  du  wirst  einstens  werden. 

An  mehreren  Orten. 

(Hörmann  1,  35.  2,  73.    Dreselly  Nr.  301.) 

120.  Süddeutschland.    An  verschiedenen 
Orten. 

Im  Grab  muss  ich  verwesen, 
Was  du  bist,  bin  ich  gewesen, 
Was  ich  bin,  wirst  du  bald  werden. 
Lebe  fromm  auf  dieser  Erden 
So  wirst  du  einst  selig  werden. 

(Stolz  S.  114.) 


1)  Von  Literatur  über  Totenbretter  erwähne  ich  diese  Zeitschrift  4,  463.  8,  205. 
346.  11,  220;  Globus  1892,  S.  157;  Halm  und  Hein  (s.  oben  S.  54);  Illustr.  Zeitung  1875.  96. 
Hörmann,  wie  oben. 


Kleine  Mitteilungen. 


63 


121.  Schönau,  Bildstöckl. 

Ich  bin  einmal  gewesen 
Das,  was  du  heute  bist 
Was  ich  bin  wirst  du  werden, 
Darum  bet  mein  lieber  Christ. 

(Dreselly  Nr.  2308.) 

122.  Hörgersdorf. 

0  Christ  steh  still  und  tu  da  lesen, 
Was  du  bist,  sind  auch  wir  gewesen, 
Eine  jede  Viertelstunde,  gieb  acht, 
Das  Menschenleben  kürzer  macht. 

(Dreselly  Nr.  105.) 

123.  Felddorf. 

Schau  Mensch,  was  bist  du  hier  auf 

Erden, 
Du  mußt  nur  Staub  und  Asche  werden. 
Hier  ruhen  wir  sanft  in  unserer  Gruft 
Bis  einst  die  Stimme  Jesu  ruft. 

(Dreselly  S.  2G.) 

124  Ötzthal  (1S57). 

Ich  bin  gewesen  wie  du, 
Du  wirst  werden  wie  ich, 
Drum  bitt  ich  dich, 
Denk  im  Gebet  an  mich. 

(Hörmann  3,  115.) 

125.  Holzkreuz  eines  Alfred  Rose 
(1868). 

Look,  comrades  all,  as  you  pass  by: 
As  you  are  now,  so  once  was  I; 


As  I  am  now,  so  you  will  be: 
Remember  God,  and  think  of  me. 

(Athenaeum  1872,  1,  777.) 

126.   St.  Katharina  (1874). 

0  Mensch!  geh  nicht  vorüber 

Ohne  dies  zu  lesen; 

Denn  was  du  jetzt  bist, 

Bin  ich  auch  gewesen, 

Und  was  ich  jetzt  bin, 

Wirst  du  einst  werden, 

Zu  Asche  und  Staub  auf  dieser  Erden. 

(Hein  21,  94.) 

127.   Grabschrift  des   Lütticher 
Prof.  P.   Burggraff  (f  1881). 
Quod  tu  es,  eram 
tu  eris  quod  sum:  fai. 

(Köhler  2,  34.) 

128.  Grab  eines  Dänen  in  Hongkong 

(1872;. 

Stay,  stranger  stay,  as  you  are  passing. 
As  you  are  now,  so  once  was  I 
As  I  am  now  you  soon  may  be. 
Prepare  so,  that  you  may  follow  me. 

(Athenaeum  1872,  1,  778.) 

129.  P.  Rosegger   ('Als  ich  jung  noch  war' 

1895  S.  102)    erzählt   von   Totenbrettern   mit 

der  Inschrift: 

Auf  diesem  Brett  bin  ich  gelegen, 
Was  ihr  seid,  bin  ich  auch  gewesen, 
Und  was  ich  bin,  das  werdet  auch  ihr: 
Geht  nicht  ohne  Fürbitte  von  hier! 


(Ein  Nachtrag  folgt  unten  S.  89—91. 


Heidelberg. 


Willy  F.  Storck. 


Sylter  Lieder. 

Wie  in  den  übrigen  friesischen  Sprachgebieten,  so  gibt  es  auch  auf  der  nord- 
friesischen Insel  Sylt  nur  einige  wenige  Lieder,  die  allenfalls  als  Volkslieder  be- 
zeichnet werden  können.  Die  Lieder,  die  in  Erich  Johannsens  Stücken  vorkommen, 
und  von  denen  eine  kleine  Zahl  in  den  'Sylter  Lustspielen'1)  gedruckt  ist,  stammen 
aus  allerneuester  Zeit,  und  die  in  weiteren  Kreisen  der  Insel  bekannt  gewordenen 
Verse  von  Jürren  Rincken,  auf  die  wir  bei  anderer  Gelegenheit  einmal  eingehen 
wollen,  können  nicht  eigentlich  als  Lieder  gelten.  So  kommen  hier  nur  einige 
Lieder  in  Betracht,    die    schon  vor    etwa  hundert  Jahren    gärig'    und  gäbe  auf  der 


1)  Sylter  Lustspiele.    Mit  Übersetzung,   Erläuterungen    und  Wörterbuch   heraus- 
gegeben von  Prof.  Dr.  Theodor  Siebs,  Greifswald  1897. 


04  Siebs: 

Insel  waren  und  zumeist  von  J.  P.  Hansen  in  seiner  'Nahrung  für  Leselust  in  nord- 
friesischer Sprache'  (III.  Lieder),  Sonderburg  1833,  teilweise  auch  schon  in  der 
ersten  Ausgabe  des  'Gidtshals  of  di  SöTring  Pid'ersdei'  180!»  gedruckt  sind.  Ob 
diese  Stücke  wirklich  altes  Sylter  Gut  sind,  oder  ob  Worte  oder  Melodien  durch 
Seeleute  von  auswärts  heimgebracht  sind,  vermag  ich  nicht  nachzuweisen.  Tat- 
sache ist,  dass  sie  heute  noch  den  älteren  Syltern  bekannt  und  zumeist  als  Tanz- 
lieder in  Gebrauch  sind,  und  dass  ihr  Text  schon  vor  hundert  Jahren  ver- 
öffentlicht ist.  Wenn  ich  sie  nun  trotzdem  hier  zum  Abdruck  bringe,  so  ge- 
schieht es  aus  folgenden  Gründen:  erstens,  weil  die  alten  Ausgaben  recht  selten 
geworden  sind;  zweitens,  weil  in  ihnen  die  Schreibung  nicht  so  ist,  dass  ein 
Fremder  darnach  die  Laute  annähernd  richtig  bilden  könnte;  drittens  weicht  die 
Fassung,  die  man  heute  hört,  erheblich  von  derjenigen  der  Ausgaben  ab;  viertens 
sind  die  Verse  ohne  Übersetzung  und  Erklärungen,  wie  ich  sie  gebe,  wohl 
kaum  verständlich;  und  endlich  fünftens  sind  die  Melodien  bisher  noch  nicht 
bekannt  geworden. 

Die  Lieder  werden  in  der  Schreibung  gegeben,  die  ich  in  dem  Buche  'Sylter 
Lustspiele'  angewandt  und  dort  S.  130  ff.  erläutert  habe.  Unbezeichnete  Vokale 
sind  offen  und  kurz,  z.  B.  a  e  i  o  u  (wie  im  Bühnendeutsch  nass,  hell,  will, 
doch,  Hund);  mit  A  bezeichnete  Vokale  sind  geschlossen  und  lang,  z.  B.  ä  e  i 
ö  ü  (wie  in  Bahn,  See,  ihn,  hoch,  Hut);  e  ist  offnes  langes  ä  (wie  im  engl, 
men),  ö  ist  offnes  langes  o  (wie  in  engl,  water),  a  ist  schwaches  e  wie  in  Gabe; 
ö  und  oe  wie  in  könnte  und  böse,  ü  und  y  wie  in  wüsste  und  Wüste.  Von 
den  Konsonanten  gilt,  dass  s  stimmlos  (hart)  ist  wie  in  essen,  f  stimmhaft  (weich) 
wie  in  lesen,  s  =  hochd.  seh  in  Asche;  r  ist  reduziertes  r  und  steht  auch,  wo 
im  Englischen  inlautendes  bzw.  auslautendes  th  bzw.  d  vorliegt  (brörar  engl, 
brother,  tir  Zeit);  g  ist  stimmhafter  Reibelaut  (wie  in  sächs.  Tage);  ng  ist 
velarer  Nasal  wie  in  bühnendeutsch  Engel;  n'  und  1'  wird  (im  Gegensatz  zu 
alveolarem  n  und  1)  interdental  gesprochen  (die  Zungenspitze  liegt  zwischen  den 
Zähnen),  z.  B.  jen'  Ende,  jil'  Geld;  ch  ist  ach  =  Laut,  ch  ist  ich  =  Laut;  der 
Diphthong  ee  (geschlossnes  e -}- offnes  e)  wird  auch  vielfach  wie  ea,  ia,  jea  ge- 
sprochen, öa  auch  wie  ua  (kurzes  offnes  u  +  a);  neben  er  hört  man  auch  eir 
(Hansen  schreibt  eid,  aid)  in  ger  geht,  ster  Stätte,  fer  kriegt  (fängt)  usw. 

Die  Texte  sind  in  den  Jahren  1897  und  1898  nach  dem  Volksmunde  nebst 
den  Weisen  aufgezeichnet  worden;  für  seine  musikalische  Mitarbeit  bin  ich  einem 
Herrn  Anders  dankbar,  der  damals  an  der  Sylter  Kurkapelle  wirkte.  Vielfach 
weichen  die  Melodien  von  Hansens  Angaben  ab. 


I.  Seemannslied. 

-0*—r K" 


Wat     es  dach    on       se  -  man  fanjen'    en      tö       Jen'?        Deer  swere-fa       en 
Was    ist  doch  ein    See-mann?  das  sa-  get    mir     au!         Muss   rei  -   sen     und 


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Kleine  Mitteilungen. 


65 


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for  mut  sa  hing   ys     hi    ken! 
fah-  ren    so  lang    als    er  kann ! 


Hi     her    ek    fül       frü-gar,  hi       her      ek      fül 
Er   hat  nicht  viel     Freu-de  und  ruht    sich  nicht 


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ster, 
aus: 


baF    hir-  en    haF    deer-hen  sin      ü  -  ning  hörn  drer.     Hi  sjocht  hörn  ek 
bald     hierhin,  bald  dort-hin  verschlägt  ihn  sein  Haus.    Nie  fühlt  er      sich 

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se-kar,  ek  so  -  nar  ga 
si-  eher,  nie  au  -  sser  Ge 


for        fül     we  -  kan,  fül 
fahr,     und    so    geht  es 


ß-0-, 


dö-gan,  fül   stün'-an  önt  jör. 
täg-lich  und  stündlich  im  Jahr. 


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1.  Wat  es  dach  an  seman  fan  jen'  en  tö  Jen1, 
deer  swerafa  en  für  mut  sa  hing  ys  hi  ken? 
hi  her  ek  fül  frügar,  hi  her  ek  fül  ster, 
bal'  hir-  en  baP  deerhen  sin  üning  hörn  drer; 
hi  sjocht  hörn  ek  sekar,  ek  sönar  gaför 
fül  wekan,  fül  dögan,  fül  stün'an  önt  jör. 


1)  Was  ist  doch  ein  Seemann  im  ganzen  genommen?  (eig.  von  Ende  und  zu  Ende 
d.  h.  von  einem  Ende  zum  anderen),  der  herumschwärmen  und  fahren  inuss,  solange  als 
er  kann?  Er  hat  nicht  viel  Freude  (jüngere  Sylter  sprechen  früchor),  er  hat  nicht  viel 
[bleibende]  Stätte  (auch  steir),  bald  hier-  und  bald  dorthin  trägt  ihn  seine  Wohnung 
(^üblicher  ist  jir  =  hier).  Er  sieht  sich  nicht  sicher,  nicht  sonder  Gefahr  viele  Wochen, 
viele  Tage,  viele  Stunden  im  Jahr. —  Unter  den  Noten  ist  die  Übersetzung  dieser  Strophe 
in  Versen  gegeben. 

Zeitsctar.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1911.    Heft  1.  5 


(56  Siebs : 


2.  Wan  't  nacht  ur,  da  wilat  gur  lön'man  en  skyr, 
wau  't  wait  en  uk  storomt,  da  lokt  hi  sin  dyr; 

man  da  ger  't  tö  sc:  oewaral,  tewaral! 
tö  ruwin  nö  böwan,  dit  werar  es  mal! 
al  her  'ttm  uk  jit  noch  tau  sok  lüng  hin, 
da  möt  'öm  wel  likart  an  pör  jit  tö  lin. 

3.  Wat  es  dach  an  sOman!     ik  wel  nü  man  si, 
hi  fer  hörn  en  wüf  en  hi  let  hörn  bafri; 

hat  wörat  man  kürt,  hi  mut  werar  ütfän, 
jü  tieft  da  it  hys,  en  hi  jit  da  hoer  man. 
Man  wat  da  gab<er  ken,  "öm  sjocht  at  dach  in: 
di  wüfhaur  sen  uk  ek  fan  stöl  of  fan  stin. 

4.  Wat  es  dach  an  seman?  forstün  mi  nü  wel! 
en  winj  es  di  föman,  deer  fegari  skel. 

AI  tengkt  da  di  köngkar,  ik  ho  noch  nin  nöa, 
min  üning  es  höl'au,  ik  sen  ek  fan  loa. 
Man  dach  ken  't  hörn  mesa,  hi  wet  ek.  hur  bal' 
di  fegar  hörn  nem  keu  me  üning  en  al. 


2)  Wenn  es  Nacht  wird,  da  erholt  sich  der  gute  Landmann  (der  Mann  vom  Laude, 
im  Gegensatze  zum  Seemann)  eine  Weile;  wenn  es  weht  und  auch  stürmt,  da  schliesst  er 
seine  Tür.  Aber  zur  See,  da  geht  es  „überall,  überall!"  (plattd.,  auf  Sylt  aural),  die  Segel 
zu  reffen,  nach  oben!  das  Wetter  ist  schlecht!  und  hätte  mau  auch  noch  zwei  so  lange 
Beine,  da  möchte  man  wohl  trotzdem  noch  ein  paar  dazu  leihen. 

3)  Was  ist  doch  ein  Seemann!  ich  will  jetzt  nur  sagen,  er  kriegt  (eig.  fängt)  eine 
Frau,  und  er  verheiratet  sich;  dann  währt  das  nur  kurz,  er  muss  wieder  weg  von  Hause 
(eig.  üt  fan  hyf  „aus  von  Haus",  der  übliche  Ausdruck  für  „auf  See").  Sie  bleibt  dann 
zu  Hause,  und  er  heisst  dann  ihr  Mann.  Doch  was  da  passieren  kann,  das  sieht  man  doch 
ein:  die  Frauensleute  sind  auch  nicht  von  Stahl  oder  von  Stein. 

4)  Diese  Strophe  ist  schwer  zu  erklären,  der  Sinn  ergibt  sich  durch  das  Wortspiel 
mit  fegar  „Feger",  das  sowohl  einen  flotten  jungen  Mann  (vgl.  dän.  fejer,  hochd.  Feger 
Deutsches  Wörterbuch  III,  1415)  als  auch  den  Wind  bedeuten  kann,  der  alles  wegfegt. 
Was  ist  doch  ein  Seemann?  Verstehe  mich  nun  wohl!  Ein  Nichts  (eig.  ein  Wind,  ein 
Windbeutel)  ist  das  Mädchen,  die  da  fegen  (kann  auch  meinen:  sich  mit  einem  Feger  ab- 
geben) soll.  Da  denkt  dann  der  Kanker  (die  Spinne):  ich  habe  noch  keine  Not,  meine 
Wohnung  ist  haltbar  (eig.  gehalten),  ich  bin  ja  nicht  von  Blei  (bin  nicht  so  schwer).  Und 
doch  kann  es  ihm  (Kanker  =  Spinne  ist  männlich,  daher  der  Vergleich  mit  dem  Feger)  miss- 
glücken: er  weiss  nicht,  wie  bald  der  Feger  ihn  nehmen  kann  mit  Wohnung  und  allem. 
Die  Strophe  beginnt  bei  Hausen  mit  einer  persönlichen  Anspielung  „wan  Rasmus  es  fegar" 
twenn  Rasmus  den  Feger  spielt  —  verstehe  mich  nun  wohl!)  —  ich  glaube  aber,  dass  die 
von  mir  aufgezeichnete  Fassung  die  ältere  ist. 

Bei  Hansen  (a.  a.  0.  Nr.  5)  ist  als  zweite  Strophe  die  folgende  eingeschaltet: 
Wat  es  dag  en  Seeman!  AI  meend  er  fuar  wes: 
„wank  sa  dö,  skeldt  lekki!"  est  aaft  dag  jit  mes. 
sa  fuulerlei  Töögenfal  kjen  er  hörn  fin', 
dejr  al  sin  gud  Anslag  forjaaged  ön  Win'; 
sa  aaft  da  foran'nerdt  sin  Mud  en  sin  Lek 
ön  Armud,  ön  Kemmer,  ön  Eelend  en  Skrek. 

Was  ist  doch  ein  Seemann?  Glaubt  er  schon  als  sicher  „wenn  ich  es  so  mache,  wird  es 
glücken!",  dann  ist  es  oft  doch  noch  verkehrt.  So  viele  Widerwärtigkeiten  kann  erfinden, 
die  all  sein  gutes  Wollen  in  den  Wind  jagen,  und  so  oft  verkehrt  sich  sein  Mut  und  sein  Glück 
in  Armut,  Kummer,  Elend  und  Schrecken."  Ich  habe  diese  Strophe  nicht  mehr  vorgefunden: 
sie  macht  —  wie  übrigens  auch  die  vierte  —  einen  gesuchten  und  gekünstelten  Eindruck. 
Hansen  gibt  als  Weise  das  dänische  Lied  an  ..jeg  er  af  Naturen  saa  ferm  som  en  Mand": 
ich  habe  dies  nicht  gefunden;  jedenfalls    scheint  mir  die  hübsche  Melodie  mitteilenswert. 


Kleine  Mitteilungen. 


67 


2.  Herbstlied. 


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Di       wun-tar-tir    es        ek  lung  hen,    Di  so- mar    es    for  -  gin-gan;Gur 

Der    Win-terist    nun    nicht  mehr  weit, Der      Som-mer  ist    ver  -  gan- gen;  Die 

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ha-rafst,di    her  sin    ha  -  gen      al     deer  di      ba- rieht  fin-gon.  Di 

gu-te  Herbst-  und  Ern-te-  zeit  hat  längst  schon  an-ge  -  fan-gen.  Das  Korn  im  Feld  ist 


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köl,    Di      bo  -  mar     let  jör      ble  -  ren   föl,    di  kru-ban      kumal 

ab-  ge-mäht,  Manch  Blattschon  vou  den  Bäumen  webt;  Schon       sind  die  Kräh'n  zu 

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llö  -  911,  di        föm-ner  mut  nö        lö  -  an,  di  lö  -  an! 

schau-en,  ans     Dreschen  nun  ihr      Frau-en!  Schon     Frau-en! 


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68 


Siebs: 


1.  Di  wuntartir  es  ek  lung  hen, 
di  somar  es  forgingan. 
gur  harofst,  di  her  sin  bogen 
al  doer  di  baricht  fingen; 
di  ekarlön'an  hö  wü  köl, 
di  bömar  let  jür  hieran  föl, 
di  krekan  kum  al  flöan, 
di  fömnar  mut  nö  löan. 


4.  Di  kofi  es  nü  dälkonst  klör, 
ik  hö  uk  jet  wat  fletan, 
en  sokorbötarskif  sa  rör, 
dit  fö  i  uk  noch  betan. 
Sa,  klapsi  nü  man  tö  wat  flingk, 
en  wan  ik  röp,  da  kum  en  dringk 
wü  wel,  wan  wü  üs  weera, 
uk  ek  om  binar  teera. 


2.  Da  ger  dit  „klipklap"  nacht  en  dai, 
en  morar  set  tö  sjungan: 
„sa  fömnan,  weera  jü  nü  frai, 
di  jüden  kum  al  gungan; 
dö  nü  jü  best  en  wis  ek  trach, 
da  kopa  ik  jü  fan  arkan  slach, 
tö  skor(s)tar  en  tö  dokar, 
pusüntja,  krög  en  smokar." 


5.  Sen  wü  js  harafst-ölbar  fan, 
da  gung  wü  jest  önt  sian, 
en  erart  bi,  me  alaman 
tö  püntin  en  tö  flian; 
man  ik  skel  bi  min  wel  somör, 
en  dit  önt  spenan,  snör  rör  rör, 
tö  werk  en  tö  wat  jöran 
me  prekaltjüch  tö  föran. 


3.  Deer  i  jit  wams  en  hülkan  fcert 
en  töcht  ek  om  wat  wenan 
da  fei  dit  ölbar  mi  tö  beert 
bi  wögau  en  bi  spenan; 
man  nü  ken  i  önt  nlbar  gung 
en  erart  uk  Jens  häijft  sjung, 
deer  fö  i  tö  fornemau, 
hurtö  i  jir  sen  keman. 


6.  Weer  förar  uk  nü  man  it  hys, 
da  wüst  ik  noch  sin  gögan, 
hi  törst  fan  nöntdön  gor  ek  frys 
aur  büfom  en  aur  högan; 
da  möst  hi  ys  en  gurt  signoer 
sin  örpar  salaf  dö  en  foer 
en  tweskan  in  tö  nüta 
wat  koarta  en  wat  klüta. 


1)  Die  Winterzeit  ist  nicht  lange  [mehr]  hin,  der  Sommer  ist  vergangen;  der  liebe 
(gute)  Herbst,  der  hat  seinen  Anfang  schon  mit  der  Ernte  bekommen;  die  Ackerländer 
haben  wir  kahl,  die  Bäume  lassen  ihre  Blätter  lallen,  die  Krähen  kommen  schon  geflogen 
(im  Oktober  kommen  sie  und  bleiben  den  Winter  auf  Sylt),  die  (nach  Hansen:  wü  =  wir) 
Mädchen  müssen  [zum  Dreschen]  auf  die  Diele. 

2)  Dann  geht  das  Klippklapp  Nacht  und  Tag,  und  Mutter  sitzt  zu  singen;  „so,  ihr  Mäd- 
chen, strenget  euch  jetzt  hübsch  an,  die  Juden  kommen  schon  gegangen  (als  Hausierer); 
tut  jetzt  euer  bestes  und  seid  nicht  träge,  dann  kaufe  ich  euch  von  jeder  Sorte, 
zu  Schürzen  (meist  skortor)  und  zu  Tüchern,  zu  Wams  (auch  pusrüntja),  Kragen  und 
Hemden. 

3)  Da  ihr  noch  Wams  und  Kindermützen  (Hansen  gibt  ülkan;  dies  Wort  habe  ich 
nur  im  Sinne  von  „kleine  Kinder"  gehört)  anhattet  und  nicht  daran  dachtet,  etwas  zu 
verdienen,  da  fiel  die  Arbeit  (meist  örpar)  mir  zur  Last,  bei  Wiegen  und  Spinnen:  aber 
jetzt  könnt  ihr  an  die  Arbeit  gehen  und  demnächst  auch  noch  „heia"  singen;  dann  kriegt 
ihr  zu  lernen,  wozu  ihr  da  seid  (eig.  hierhergekommen  seid). 

4)  Der  Kaffee  ist  jetzt  gut  fertig,  ich  habe  auch  noch  etwas  Rahm,  und  so  schönes 
Butterbrot  mit  Streuzucker,  das  bekommt  ihr  auch  noch  zu  beissen  (eig.  gebissen);  so, 
klappt  jetzt  nur  etwas  schnell  zu,  und  wenn  ich  rufe,  dann  kommt  und  trinkt  —  wir 
wollen,  wenn  wir  uns  anstrengen,  auch  nicht  an  Knochen  nagen. 

5)  Sind  wir  unsere  Herbstarbeit  los,  dann  gehen  wir  zuerst  ans  Nähen,  und  dann 
gehen  wir  mit  alle  Mann  [bei],  zu  putzen  und  in  Ordnung  zu  bringen;  ich  aber  will  für- 
wahr an  mein  Spinnrad  und  spinnen,  zu  Werg  und  etwas  Garn,  um  dann  mit  Strickzeug 
[auf  Besuch]  ausgehen  zu  können. 

6)  Wäre  Vater  auch  jetzt  nur  zu  Hause,  dann  wüsste  ich  wohl,  was  ihm  gut  wäre 
(gögan  =  Nutzen);  er  brauchte  vor  Nichtstun  gar  nicht  zu  frieren  im  Stall  und  beim  Mist- 
haufen, dann  inüvste  er  wie  ein  grosser  Herr  seine  Arbeit  selbst  tun  und  führen  und  in- 
zwischen zu  Nutzen  etwas  Wolle  kratzen  und  flicken. 


Kleine  Mitteilungen. 


69 


7.  Se  tö,  jens  erar  terskantir, 
wan  lir  tö  wuntar  slachta, 

da  kum  s"  noch  tüs,  fan  wir  en  sir, 

al  jer  'öm  s'  jens  forwachta; 

en  seman,  deer  hol'  märich  mai, 

sjocht,  dat  or  lön'  tö  harafst  fer, 

en  da  bögen  fan  man 

di  drengar  om  tö  Man. 

8.  Da  kumt  di  jen,  die  taust,   di  ger, 
di  trer  set  tö  fortelan, 

die  fjörst  jart,  wat  en  ürar  ser, 

di  füfst  forköpat  brelan: 

gur  sokst,  di  fcert  wat  ön  die  skelt, 

deer  hi  jen  ek  ön  k<ew  fortelt, 

di  öchst,  di  es  en  skraiar, 

di  niganst  set  üp  aiar. 

9.  'öm  her  jiist  ek  fül  foadel  fan 

des  niar  wärals  kyran: 

liok  pipam  knek  "ar  dan  en  wan, 

hil  stün'an  stüu  s1  bi  dyran ; 


öu  klöarar  foer  s'  jam  wel  sa  gek 
en  hö  jens  knap  en  dct's  ön  fek; 
di  tlot,  di  ür  forbronan, 
bi  't  örpar  ür  nönt  wonan. 

10.  Desjöring  bilt  s'  jam  uk  wat  in, 
en  da  ging  s'  üt  tö  Man 

ön  lenan  boksan  wir  bi  bin 

e'u  wewan  knapasian. 

Man  di  tir  wör  "öm  wel  batöcht; 

wau  s'  tüs  kam,  fing  'öm  han'jeft  bröcht. 

Jö,  dit  weer  jens  hok  drengar! 

sa  fent  'öm  s'  nü  ek  lüngar. 

11.  Jö,  mörar,  dit  es  uk  noch  wör, 
sok  songan  sen  tö  liwan; 

en  es  di  köfi  nü  bal'  klör 

me  di  gur  bötarskiwan? 

da  wel  wü  jest  ön  't  dringkan  gung 

en  erarst  om  desjöring  sjung, 

hur  't  uk  wel  jens  föa  desan 

aur  Söl'ring  lön'  her  wesan. 


3.   Söl'ring  donsledja. 


r-2— 


L-J=izEzt 


-9 


^pfe^ 


-ß- 

-i — 


c=^— 


^i^^^ 


Sa  weer'ar   Jensen     fe-gar,  fan  hörn  skel    ik    jü        si: 
Da  war  mal    so  ein    Fei-ner,  sagt  an,  was  fiel  dem    ein? 


hi  fingt  ön    sen,  hi 
er  nahm  sich  vor,  er 


7)  Sieh  mal  (eig.  sieh  zu),  nach  der  Dreschzeit,  wenn  die  Leute  für  den  Winter 
schlachten,  da  kommen  sie  nach  Haus  von  weit  und  breit,  bevor  man  sie  einmal  er- 
wartet; ein  Seemann,  der  gern  Wurst  mag,  sieht,  dass  er  zu  Herbst  an  Land  kommt  (eig. 
Land  bekommt),  und  dann  fangen  die  Jungen  aufs  neue  zu  freien  an.  (Dies  Freien  in 
der  Dämmerung  wird  nun  geschildert,  vgl.  Söl'ring  halfjungkandrC'ngor,  Sylter  Lustspiele 
S.  81  ff.). 

8)  Da  kommt  der  eine,  der  zweite  (J.  Hansen  sagt  twidi)  geht,  der  dritte  sitzt  zu 
erzählen,  der  vierte  hört,  was  ein  andrer  sagt,  der  fünfte  verkauft  Brillen  (d.  h.  lügen, 
betrügen):  der  gute  sechste,  der  führt  was  im  Schilde,  was  er  einem  nicht  in  der  Stube 
erzählt;  der  achte  ist  eine  Klatschbase,  der  neunte  sitzt  da  zu  brüten  (er  drückt  sich  lang- 
weilig herum). 

9)  Man  hat  gerade  nicht  viel  Vorteil  von  der  neuen  Welt  Manieren:  manche 
Pfeifen  brechen  da  dann  und  wann,  ganze  Stunden  stehn  sie  vor  der  Tür:  in  ihrem 
Anzug  tragen  sie  sich  so  närrisch  und  haben  noch  kaum  eine  Tabaksdose  in  der  Tasche; 
der  Tran  der  wird  (unnütz)  verbrannt,  bei  der  Arbeit  kommt  nichts  heraus. 

10)  Ehemals  bildeten  sie  sich  auch  etwas  ein,  und  dann  gingen  sie  aus  zu  freien  in 
leinenen  Hosen,  weit  um  die  Beine,  und  gewebten  wollenen  Jacken.  Aber  zu  der  Zeit  war 
man  wohl  bedacht:  wenn  sie  nach  Haus  kamen,  bekam  man  ein  Geschenk  mitgebracht. 
Ja,  das  waren  noch  Jungen!  solche  findet  man  jetzt  nicht  mehr. 

11)  Ja,  Mutter  (auch  motar  hört  man),  das  ist  auch  wahr:  solche  Geschichten  (eig. 
Gesänge)  sind  glaubhaft.  Und  ist  jetzt  bald  der  Kaffee  fertig  mit  den  schönen  Butter- 
broten? Dann  wollen  wir  erst  einmal  ans  Trinken  gehen  und  nachher  erst  von  den  alten 
Zeiten  singen,  wie  es  wohl  vordem  einmal  im  Sylter  Lande  gewesen  ist. 


70 


Siebs: 


:t:J 


=3 


^^^^^ÜHÜ 


fing't  ön    seil,  In      wül  en     fö-man     fri.      man  liir,  ys't  hörn  es        gin  -  gen,  hi 
nahm  sich  vor,  ein  Mäd-chen  wollt' er  frei'n.  Doch  hört,  wie's  ihm  er   -    gan  -  gen;  er 


^ >^ 


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— t- 


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tochthi  fing  noch       jö; 
glaubt',  er  würdihr    Mann : 


„ik      mut, 
,ich    muß, 


ik 
ich 


mut, 
muß. 


ik      mut  dit   fo-men 
ich     muß  das  Mäd-chen 


hö;  ik      mut,  ik       mut,  ik         mut  dit     fö-men        hö!„ 

han;         ich     muß,  ich    muß,         ich       muß  das  Mäd-chen     han!" 


1.  Sa  weer  '9r  Jens  en  feger, 
fan  hörn  skel  ik  jü  si: 

hi  fing  't  ön  sen,  hi  fing  't  ön  sen,  hi  wül  en  fömen  fri. 

man  hir,  ys  't  hörn  es  gingen, 

hi  töcht,  hi  fing  noch  jö, 

„ik  mut,  ik  mut,  ik  mut  dit  fömen  hö." 

2.  Hi  kam  hörn  deer  ön  injem, 
ys  uk  en  frier  pler; 

di  mörer,  jü  ser,  di  mörer,  jü  ser:  „hü  mun  di  drüng  dach  erer  ger? 

hi  kumt  jö  dach  sa  füken, 

at  hö  noch  wat  ön  sen, 

du  ferst,  du  ferst,  du  ferst  noch  likort  Jen." 

3.  „Jö,  hurom,"  swöret  di  fömen, 
es  hi  ek  mans  en  wel? 

hi  kön  sa  dö,  sa  däilk,  sa  rör,  al  wat  hi  skel: 

hi  wet  hörn  sa  tö  skekin, 

hi  ken  sa  nie  Jen  kir, 

hi  tör(s)t,  hi  tör(s)t,  hi  tör(s)t  rocht  nönt  möa  lir!" 

4.  Gur  dreng  kam  bal'  Jens  werer, 
di  mörer  kam  tö  dyr: 


1)  So  war  da  einst  ein  Feger  (d.  h.  ein  flotter  Kerl,  Stutzer,  ein  Durchgänger,  vgl. 
oben  S.  6(5  und  Deutsches  Wörterbuch  III,  1415:  ist  kein  Sylter  Wort,  vgl.  föge  fegen;  vgl. 
dän.  fejende  rasch,  flott?),  von  dem  muss  ich  euch  sagen:  er  kriegte  es  in  den  Sinn,  er 
wollte  ein  Mädchen  freien.  Doch  hört,  wie  es  ihm  gegangen  ist;  er  dachte,  er  bekäme 
wohl  ein  Ja;  „ich  muss  dies  Mädchen  haben." 

2)  Er  kam  (sich)  da  des  Abends,  wie  auch  ein  Freier  [zu  tun]  pflegt;  die  Mutter, 
die  sagte  „wo  der  Junge  wohl  hinterher  geht?  er  kommt  ja  doch  so  oft,  ihr  beiden  (at 
=  ihr,  Dual)  habt  wohl  was  im  Sinn:  du  kriegst  wohl  noch  ohnedies  einen!" 

3)  ..Ja,  warum?"  antwortete  das  Mädchen,  „ist  er  nicht  gut  genug?  er  kann  so  tun, 
so  hübsch,  so  nett,  alles  was  er  macht;  er  weiss  sich  so  zu  benehmen,  er  kann  so  mit 
einem  umgehen;  er  braucht  wirklich  nichts  mehr  zu  lernen!'' 

4)  Der  gute  Junge  kam  bald  mal  wieder;  die  Mutter  kam  an  die  Tür:  „unsere  Tochter 
ist  krank,  sie  hat  das  Fieber  (tyr  eig.  Tour,  d.  h.  Wechselfieber):  das  kommt  wohl  von 
vielem  Tanzen,  sie  hat  sich  wohl  erkältet  —  was  sie  noch  länger  fühlen  wird." 


Kleine  Mitteilungen. 


71 


„ys  föman  es  kröngk,  ys  föman  es  kröngk,  jü  her  di  tyr. 

dit  kumt  noch  fan  fül  dönsin, 

jü  her  hoer  noch  forkoelt, 

deer  jü,  deer  jü,  deer  jü  noch  lengar  fcelt." 

5.  „Jü,"  swörat  hi,  „sa  es  't  keman, 
jü  möst  wat  öltarfül; 

ark  jen,  hi  uöms,  jü  weer  sa  jof,  hat  weer  en  grnl. 
Wat  skel  ik  nü  dach  skröala, 
jü  steraft  mi  dach  noch  hen, 
dit  weer,  dit  W(A,er,  dit  weer  en  ring  bagen." 


4.   Somarledja. 


•4— pH-  * * — *-F-, — j-j — H-Fi — 0-j — m-\  -»— *-j-f-« 


3t=* 


o,    nü  ür't  wa-ram,  gotsai  daugk!  di  wun-tar  weer  uk  swör;    nü  ken  'Öm't  har-ta 
Ach,  nun  wird's  warm,  Gott  sei  Dank!  vor-  bei  istWin-ters    Leid  .'nun  friertuns    in  der 


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ön     di  locht,  nü  spring  wü  öal'- an       ön    di  bocht,  di        so-mar     es     sa    rör. 
Luft  nicht  mehr,  wir   Al-ten  sprin-gen    froh  um -her!    o       schö-ne  Som-mer- zeit! 


1.  0  nü  ür  't  würam,  gotsaidangk ! 
di  wuntar  weer  uk  swör: 

nü  ken  'öm  't  hfirta  ön  di  locht, 
nü  spring  wü  üal'an  ön  di  bocht, 
di  somar  es  sa  rör. 

2.  Min  sist  hn  'k  ek  sent  Meertansdai 
jer  nü  fan  't  lewand  her; 

man  nais,  da  wör  di  lapam  wel, 


ik  tocht:  nun,  sa  let  *k  mi  ek  kwel, 
da  wech  me  sist  dach  jer! 

:'>.  Ys  jungan  men  —  ja  si  welöft: 
„hur  mai  i  sa  dach  gung 
me  jü  öal'  gröchalk  sist  ark  dai?" 
man  wat  ken  höm  fül  ürars  drai 
'öm  bleft  ek  altart  jung. 


5)  „Ja,"  antwortete  er,  „so  ist  es  gekommen,  sie  musste  eben  allzuviel  (leisten);  jeder, 
der  nahm  sie,  sie  war  so  begehrt  (jöf,  eig.  gäbe,  ist  ein  sehr  gebräuchlicher  Ausdruck  für 
Mädchen,  die  bei  allen  beliebt  sind),  es  war  schrecklich  (eig.  ein  Greuel:  viel  gebrauchte 
Redensart).  Was  soll  ich  jetzt  aber  weinen,  sie  stirbt  mir  doch  noch  weg;  das  wäre  eiue 
böse  Sache  (eig.  ein  böses  Beginnen). 

Dieses  Lied  ist  bei  Hansen  (Nr.  4)  durch  eine  nach  anderer  Weise  gesungene  erste 
Strophe  eingeleitet  und  als  Wundter-Leedti  (Winterlied)  bezeichnet.  Von  dieser  ist  mir 
nichts  bekannt  geworden. 

Als  Weise  gibt  Hansen  an:  „Es  war  ein  junges  Mädchen";  die  mir  hierfür  bekannten 
Melodien  und  auch  die  mir  freundlichst  von  Herrn  Professor  Bolte  angegebenen  stimmen 
nicht  zu  der  Sylter  (vgl.  Böhme,  Volkstümliche  Lieder  1S95  Nr.  167  a,  von  J.  F.  G.  Beck- 
mann 1770;  Böhme  Nr.  lG7b  =  Erk  und  Irmer,  Die  deutschen  Volkslieder  1,  4.  Heft 
Nr.  60  (1839),  vgl.  Kretschmer-Zuccalmaglio  1840  2, 195;  Hoffmann  und  Richter,  Schlesische 
Volkslieder  1842,  Nr.  132). 

1)  Ach,  nun  wird's  warm,  Gott  sei  Dank!  Der  Winter  war  auch  schwer;  nun  kann 
man  es  aushalten  in  der  Luft,  nun  springen  wir  Alten  herum,    der  Sommer  ist  so  schön! 

2)  Meine  Pelzjacke  habe  ich  seit  Martinstag  bis  jetzt  nicht  vom  Leibe  gehabt;  aber 
neulich,  da  wurden  die  Flöhe  lebendig;  ich  dachte,  nein,  so  lasse  ich  mich  nicht  quälen; 
dann  weg  mit  dem  Pelz  doch  gleich! 

3)  Unsere  Jungen  meinen  —  sie  sagen  oft:  „wie  könnt  ihr  docli  so  gehn  mit  eurem 


72 


Siebs 


4.  Hat  ür  nü  rocht  sa  rin  forkirt 
nie  di  jung  wärals  lir; 

gurt  skortar  drai  s'  nü  deel  om  fet, 
jen  pai  man  öd,  dit  jit  da  net; 
deer  kumt  noch  ürar  tir. 

5.  Ik  hö  't  sa  oft  ys  fömon  ser: 
let  man  wat  oal'dögs  hen; 

desj  dring  fing  'öm  uk  en  man, 


al  wüst  'öm  fül  fan  prungk  ek  fan: 
wis  net  en  rin  fan  sen. 

*i.  En  dreng  sjocht  misttir  —    nön, 

kr-n  'k 

di  lapam  sen  rocht  mal; 

nais  ment  'k  sa  wes,  ik  wör  s'  al  kwit, 

man  nön,  ik  foel,  ja  ^en  'ar  jit. 

di  plög  ger  böwan  al. 


nu 


5.   Prüf  einmal  auf  See  zu  fahren. 


-j -f^H  —     4 0-\-J =1 -4—  j^H ! 1- 


Pröow  en-maalop    See  to  faa-ren,  Land-man.uut  un  kendieWeldt!  maak  en  Eeis  op 
Soo  krigst  du  uk  maal  to  wee-ten,  WoodatSee-mans-  lee-wen  gcit,  Und  woo  en  Ma- 


twee  dree  Jaa-ren       Un  see,  woo  dii      dat   ge  -  feldt. 
troos  kan    ee  -  ten,      wen  en  Braa-den     föör  em    steit. 


6.  Jap,  en  jung  dreng 


*— 7- 


Jap,     en  jung  dreng  fan  föf-tichjor,  weer    dör-tich  steror       foa 
Jap,  Jung-ge-sellund    fünf-zig  Jahr,  hielt  drei-ßig  Mal  wohl     an 


^=3=3=1=3 


en     socht    en 
und  sucht1  'ne 


en     socht      en    brir,    man  most  jung-dr.'iigblif     tö 


Braut      und  sucht'    'ne  Braut:  doch     Jung-ge-sell  blieb     stets 


sm 
der 


döa 
Man, 


hi 

■  man 


->,,- 


6^ 

weer  ap-skai-lich       jöf,      hi        Meer  ap-skai-lich        jöf. 
hatt'ihnschreck-lich  gern,  man     hatt' ihn  schreck-lich  gern. 


alten  greulichen  Beiz  jeden  Tag?"     Aber  was  kann  man  viel  anderes  tragen?  Man   bleibt 
nicht  immer  jung. 

4)  Es  wird  jetzt  rein  so  ganz  verkehrt  mit  den  jungen  Leuten  in  der  Welt:  grosse 
Röcke  tragen  sie  jetzt,  bis  um  die  Füsse  herunter;  und  nur  einen  Unterrock  haben  sie, 
das  heisst  dann  nett;  (aber)  da  kommt  noch  wieder  andere  Zeit. 

5)  Ich  habe  es  so  oft  unserer  Tochter  gesagt:  lass  es  nur  ein  bischen  beim  alten 
bleiben;  früher  bekam  man  auch  einen  Mann,  obschon  man  von  Prunk  nicht  viel  wusste; 
seid  hübsch  und  rein  von  Gesinnung  (das  ist  die  Hauptsache). 

6)  Ein  junger  Mann  sieht  meistens  —  nein,  jetzt  kann  ich die  Flöhe  sind  doch 


Kleine  Mitteilungen, 


73 


Anhang. 

Als  Anhang  seien  drei  Stücke. genannt,  die  entweder  wegen  des  Textes  oder 
der  "Weise  nicht  als  eigentliches  Sylter  Gut  in  Betracht  kommen. 

Zunächst  das  von  Hansen  als  'Dat  Matroosenliid  an  di  Landman  (6)'  mitge- 
eilte  Lied  „Prööw  enmaal  op  See  to  faaren"  (Nr.  5);  es  wird  dort  nicht  in 
friesischer,  sondern  in  niederdeutscher  Sprache  gegeben.  Ich  habe  nur  die  erste 
Strophe,  und  zwar  auf  hochdeutsch  als  „Prüf  einmal  auf  See  zu  fahren"  nach  der 
auf  Seite  72  aufgezeichneten  Weise  singen  hören.  —  Die  von  Hansen  angegebene 
Melodie  „über  die  Beschwerden  dieses  Lebens"  habe  ich  nicht  gehört,  und  sie 
dürfte  auch  nur  schlecht  zu  dem  Rhythmus  des  Textes  stimmen;  wenigstens  in 
der  Gestalt,  wie  sie  von  P.  de  Gaveaux  1795  nach  einem  niederländischen  Ge- 
sellschaftsliede1)  gemacht  ist  —  eine  andere  konnte  auch  Herr  Professor  Bolte, 
dem  ich  für  seine  freundlichen  Bemühungen    sehr    dankbar  bin,    nicht    feststellen. 

Ferner  hörte  ich  von  dem  bei  Hansen  (8)  mitgeteilten  albernen  coupletartigen 
Liede  „Dit  ürd  abskeulig  ön  sin  rogt  gistaldt"  die  erste  Strophe  nach  der 
auf  Seite  72  als  Nr.  6  aufgezeichneten  Weise  singen.     Die  Worte  lauten: 

Jap,  en  jungdrSng  fan  föftich  jör, 
weer  dörtich  sterar  loa 
en  söcht  en  brir,  en  sucht  en  brir, 
man  möst  jungdrSng  blif  tö  sin  döa, 
hi  weer  apskailich  jöf. 

Jap,  ein  Junggeselle  von  fünfzig  Jahren,  war  [sprach]  an  dreissig  Stellen  vor  und  suchte 
eine  Braut;  aber  er  musste  Junggeselle  bleiben  bis  zu  seinem  Tode:  er  war  abscheulich 
begehrt. 

Mit  diesem  und  anderen  Coupletversen  sollte  das  zu  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderts viel  gebrauchte  Modewort  'abscheulich'  verspottet  werden. 

Schliesslich  sei  das  von  Hansen  als  'Dit  Sölring  daansin'  (Mel.  Hupsasa, 
Vetter  Miggel  aa!)  bezeichnete  Tanzlied  mitgeteilt;  als  Melodie  habe  ich  das  be- 
kannte „Gestern  Abend  ging  ich  aus"  gehört. 


Söl'rmg  dönsin  hö  nin  lik 
ön  dit  hila  köningrik; 
dönsin  ön  ys  Söl'ring  skek 
hö  dit  tödjen  me  tö  swek; 
ön  en  tri  minutan  mai 
uk  tri  eeralk  tödjan  swai, 
jö  jö  jö,  hat  es  rocht  net 
en  hat  sköricht  ek  en  bet. 
Mai  di  swetstan  uk  wat  bren 


üp  en  kölkich  waram  sen, 
da  wel  dit  üp  SöP  man  si. 
hol'  wül  'k  mi  me  hcer  bofri! 
wan  ik  sa  en  hartjan  fing, 
ek  möa  sönar  fälich  ging, 
da,  da,  da,  da,  da,  da,  da 
ab  dögen  hopsasa! 
möt  ik  sa  en  hart j an  fo, 
möt  ik  sa  en  dödjan  hö. 


(zu)  böse;  neulich  meinte  ich  so  sicher,  ich  wäre  sie  schon  los;  aber  nein,  ich  fühle,  sie 
sind  noch  da;  die  Plage  geht  über  alles. 

Von  diesem  Liede  habe  ich  nur  die  erste  Strophe  singen  hören,  und  zwar  nach  einer 
dem  Herbstliede  (di  wiintartir  es  ek  lung  hen  Nr.  II)  ähnlichen  Weise;  Hansen  gibt  als 
Melodie  an  „auf,  auf  ihr  Brüder  und  seid  stark";  dass  dieses  auch  auf  eine  andere  als 
die  bekannte  Schubartsche  Weise  gesungen  würde,  ist  mir  nicht  bekannt. —  Strophe  2— <>, 
die  ich  nicht  gehört  habe,  sind  gemäss  dem  Hansen'schen  Texte  aufgezeichnet. 

1)  Der  Text  ist  von  C.  A.  Herklots,  im  Singspiel  'Der  kleine  Matrose'  1799  (über- 
setzt nach  Pigault-Lebruns  Oper  'La  pipe  de  tabac'  oder  'Le  petit  matelot');  vgl.  Böhme, 
Volkstümliche  Lieder  der  Deutschen  1895,  Nr.  71G. 


74 


Siebs,  Bolte: 


Sylter  Tänze  haben  nicht  (ihres)  Gleichen  im  ganzen  Königreich.  Tänze  nach  unserem 
Sylter  Schick  haben  das  Küssen  mit  zum  Zweck;  in  drei  Minuten  können  auch  drei  ehr- 
liche Küsse  darauf  stehen:  ja,  es  ist  recht  nett,  und  es  schadet  kein  bischen.  Mögen  die 
Küsse  auch  etwas  brennen  auf  einer  kitzlichen  warmen  Stelle,  dann  will  das  auf  Sylt  nur 
sagen:  ich  möchte  gern  mit  ihr  freien.    „Wenu  ich  solch  ein  Herz  bekäme  und  nicht  mehr 


ohne  Bursche  (engl,  fellow)  ginge,    dann  —    alle    Tage  Hopsasa! 
Herzchen  bekommen!"  „„Könnte  ich  solch  ein  Liebchen  haben!"" 

Breslau. 


Könnte    ich    solch    ein 


Theodor  Siebs. 


Zum  deutschen  Volksliede. 

(Vgl.  oben  12,  101.  215.  343.  13,  219.  14,  217.  IG,  181.  IS,  7G.) 

36.    0  Tannenbaum  (geistlich). 

1.  0  Dannenbaum,  0  Danuenbaum  S.  Dich  steckt  der  Jäger  auff  den  Hut, 


Du  bist  ein  edler  Zweig, 

Du  grünest  Winter  vnd  Sommer 

Vnd  zu  der  Frühlings  Zeit. 

2.  Das  Aichel  Laub,  die  Haselstaud, 
Die  zuvor  gstanden  stein0, 
Verleurt  den  Safft  vnd  dörret  ab, 
So  bald  anfällt  der  Reiff. 

.'!.  0  Dannenbaum,  ü  Dannenbaum, 
Dein  Wurtz  hat  allzeit  naß, 
Wann  durstig  ist  der  Rebenstock, 
Die  Blumen  vnd  das  Graß. 

4.  Der  Spicanat  vnd  Roßmarin 
Floriren  wenig  Tag: 
So  bald  der  Dorn  Rosen  hat, 
So  bald  seyn  sie  schabab. 


Wann  er  vor  müde  rast, 

Dem  Hund  das  Gjaid  auff  grüner  Heyd 

Mit  seinem  Hörn  auffblast. 

9.  Vnd  wann  der  Jäger  schiessen  will 
Die  Reh,  Haasen  vnd  Fuchs, 
So  schleicht  er  hinder  dich  fein  still, 
Schlegt  an  an  dir  sein  Buchs. 

10.  Der  Aichhorn  gschwind  gleich  wie  derWind, 
Wann  ihn  der  Hund  ankriegt, 
Furcht  sich  gar  sehr,  schaut  hin  vnd  her, 
Ob  sich  dein  Ast  nit  biegt. 

11.  Der  Fincken  Schall,  die  Nachtigall 
Auff  deinem  Gipffei  singt, 
Vnd  jubilieren  für  vnd  für, 
Daß  in  dem  Wald  erklingt. 


5.  0  Dannenbaum,  0  Dannenbaum,  12.  0  Nachtigall,  0  Himmels-Saal, 

Du  bist  der  Thierlein  Trost,  0  Cron  der  Seraphin, 

Wann  Berg  vnd  Thal  mit  Schnee  bedeckt,  0  schöne  Stadt  Jerusalem, 

Der  Hirsch  bey  dir  sucht  Trost.  War  ich  ein  Burger  drin! 


6.  Wie  offt  wird  gfällt  die  Turteltaub, 
Darauff  der  Habicht  stoßt, 
Wenn  sie  nicht  fiele  in  dein  Nest, 
Sonst  es  das  Leben  kost. 


13.  Du  bist  der  rechte  Dannenbaum, 
Auff  deinen  Aestlin  ruht 
Die  weiß  vnd  rothe  Ritterschafft, 
Gefärbt  mit  ihrem  Blut. 


7.  0  Dannenbaum,  0  Dannenbaum,  14.  All  vnser  Freud,  all  vnser  Zeit, 

Dein  Schatten  ist  vns  nutz,  All  Hoffnung,  Gunst  vnd  Glück 

Wann  vns  sehr  brenut  der  Sonnenglantz,  Ist  gegen  dir,  0  Engel-Land, 

Bieten  wir  ihm  den  Trutz.  Ein  kurtzer  Augenblick. 


1,  2  edles  C  —  1,  4  Und  auch  zur  C  —  2,  i  Aichblat  C  —  2,  2  Die  vor  gestanden 
C  —  4,  i  Spicanard  C  (spica  nardi,  Lavendel)  —  G,  i  gefällt  B  —  6,  3  sie]  es  C  —  fielt 
B  —  dein]  ihr  D  —  Nest  Äste  —  7,  2  vns]  sehr  CD  —  7,  3  sehr]  fast  CD  —  8,  i  auf 
sein  CD  —  8,  3  Den  Hunden  C,  Der  Hund  D  —  das  Gwild  D  —  9,  2  Rehl  B  —  9,  4  an 
dich  seine  D  —  10,  1  geschwind  B  —  10, 4  dein]  der  D  —  Ast]  Nest  C  —  11,  1  der 
Nachtigall  B  —  11.  3  jubilieret  D  —  13,  1  ijin  rechter  D  —  13,2  Nästlein  CD  —  14,3 
Engelskind  D. 


Kleine  Mitteilungen. 


75 


15.  Dort  in  Sion  da  quellt  eiu  Brunn 
Biß  in  das  Paradeiß, 
Er  löscht  den  Durst  in  Ewigkeit, 
Ist  einem  jeden  preiß. 

IG.  Dort  ist  kein  Heut  noch  Morgen, 
Kein  Eigen  mein  vnd  dein, 
Ein  Hertz,  ein  Lieb  ohn  End  vnd  Zihl, 
Kompt  alles  überein. 

17.  Allda  ist  viel  der  Seytenspiel, 
Der  Alleluja  Klang, 

Es  gilt  kein  Kauff,  niemand  setzt  auff, 
Das  End  ist  der  Anfang. 

18.  Prangt  jeder  schon  in  seiner  Cron, 
Vmb  die  er  hat  gekämpfft, 


Vnd  leuchtet  über  Sonn  vnd  Monn, 
Ist  gantz  in  Gott  versenckt. 

19.  Nun  last  vns  dapffer  fechten, 
So  laug  das  Leben  wehrt! 
Man  thut  kein  ledig  sprechen, 
Der  vor  dem  Todt  vmbkehrt. 


"20.  Das  Kräntzlein  ist  gebunden: 
Nun  hebt  all  Mannlich  auff, 
Der  Feind  schier  überwunden, 
Schon  bald  vollend  den  Lauff. 

21.  Schön  überauß,  0  werthes  Hauß, 
Wir  grüssen  dich  von  fern. 
Leucht  vns  in  dieser  Pilgerfahrt 
Allzeit,  du  Morgen-Stern! 


Diese  geistliche  Version    des  vielgesungenen  Liedes    '0  Tannenbaum'1)    liegt 
bisher  in  fünf  Aufzeichnungen  dos  17.  bis  19.  Jahrh.  vor: 

A.  Ein  schön  Geistliches  Gesaug,  genannt  der  Dannebaum.  In  seiner  aignen  Me- 
lodey.  Getruckt  zu  Augfpurg.  Im  Jahr,  1629.  4  Bl.  8  °.  21  Str.  |  W.  v.  Maltzahn,  Deutscher 
Bücherschatz  1S75  S.  315  Nr.  788.     Wo  jetzt?) 

B.  Zwey  schöne  |  Geistliche  Lieder,  |  Das  erste:  |  Es  ist  ein  Schnitter  heist  der  Todt 
hat  |  Gwalt  vom  grossen  GOtt,  etc.  |  Das  ander:  |  0  Dannenbaum,  0  Dannenbaum,  |  du  bist 
ein  edler  Zweig,  etc.  |  Jedes  in  seiner  eygnen  Melodey  zu  singen.  |  G  |  Augfpurg,  bey 
Johann  Schuttes.   4  Bl.  8°  (Berlin  Er  4970,  1(5). 

C.  G.  Göcking,  Vollkommene  Emigrations-Geschichte  von  denen  aus  dem  Ertz- 
Bißthum  Saltzburg  vertriebenen  Lutheranern  2,  302  (1737)  nach  einem  Druckblatte.  Vgl. 
Er.  Schmidt,  oben  5,  357. 

D.  Vier  geistliche  schöne  neue  Lieder,  |  Das  erste:  |  Ach!  wie  betrübt  sind  fromme 
Seelen,  |  allhier,  allhier,  auf  dieser  Welt.  |  Das  zweyte:  |  Süsser  Christ!  Der  du  bist.  } 
Das  dritte:  |  0  Tannenbaum!  o  Tannenbaum!  |  Das  vierte:  |  Die  helle  Sonne  ist  dahin.  | 
Gedruckt  in  diesem  Jahr.  |  4  Bl.  8°  (Zürich  XVIII  1792,  10). 

E.  Mündlich  aus  dem  Zürcher  Oberland  bei  Tobler,  Schweizerische  Volkslieder 
1,  174  Nr.  7(3  (1882).     Die  6  Strophen  entsprechen  den  obigen  Str.  1—4,  11—12. 

Die  Fassungen  A— D  enthalten  21  Strophen;  da  A  mir  nicht  zugänglich  ist, 
gebe  ich  den  Text  nach  B  und  verzeichne  die  wenig  bedeutenden  Varianten 
von  CD.  Der  Preis  des  immergrünen,  von  Tieren  und  Menschen  geliebten  Tannen- 
baums nimmt  mit  Str.  12  eine  etwas  überraschende  Wendung  zur  Ausdeutung  auf 
das  himmlische  Zion;  auf  seinen  Zweigen  trägt  der  geistliche  Tannenbaum  die 
weiss  und  rote  Ritterschaft,  d.  h.  die  Märtyrerschar,  deren  Vorbild  die  Hörer  zu 
gleichem  Kampf  und  Sieg  begeistern  soll.  Diesen  zweiten  Teil  möchte  man  wegen 
der  Ungleichmässigkeit  des  Versbaus  einem  andern  Verfasser  zuschreiben;  in 
Str.  16,  19,  20  endet  die  erste  und  dritte  Zeile  weiblich  und  gibt  den  Binnenreim 


15,  4  In  CD  —  16,  3  ohn]  ein  C  —  17,  3  setzt  auff  =  betrügt,  übervorteilt  —  18,  i 
Ein  jeder  prangt  C  —  18,  3  Mond  C  —  19,  4  Der  von  B  —  20,  2  männlich  C  —  20,  3  f. 
Die  Feind  zu  überwinden  Und  vollenden  C  —  21,  4  du]  zu  B. 

1)  Erk-Böhme,  Liederhort  1,  543  Nr.  175-176  und  3,  188  Nr.  1301.  Vgl.  ß.  Köhler, 
Kl.  Schriften  3,  255.     E.  Schmidt,  oben  5,  356.      Kopp,  Deutsches  Volks-  und  Studenten- 


lied 1899  S.  21  und  Altere  Liedersammlungen  1906  S.  r35f. 
hörn  1909  S.  236  f. 


Bodo,  Des  Knaben  Wunder- 


76 


Bolte: 


auf,  der  in  Str.  10—12,  14,  15,  17,  18,  21  zumeist  beobachtet  wird.  —  Eine  andre 
geistliche  Kontrafaktur,  die  jedoch  jene  frühere  nicht  zu  verdrängen  vermochte, 
erschien  1642  zu  München:  „Der  Geistliche  Dannebaum,  in  welchen  die 
Christliche  Gottliebende  Seel,  in  betrachtung  der  schönen  gestalt  vnd  vnderschid- 
lichen  Aigenschafften  deß  allzeit  grünen  Dannebaums,  sich  erhebt  in  den  Him- 
lischen  Lustgarten"  (46  achtzeilige  Strophen:  '0  Dannebaum,  o  Dannebaum, 
holdselig  ist  dein  Nam'.  —  8  Strophen  daraus  bei  Aurbacher,  Anthologie  deutscher 
katholischer  Gesänge  1831  S.  202.  Melodie  bei  Böhme,  Altdeutsches  Liederbuch 
Nr.  65G.   v.  Maltzahn,  Bücherschatz  1875  S.  315  Nr.  779). 

37.    Bruchstücke  aus  dem  15.  Jahrhundert. 

Von  einem  um  1490  hergestellten  Druckblatte  sind  im  Nürnberger  Ger- 
manischen Museum  (Kupferstichkabinet,  Poesie  1)  drei  Fetzen  erhalten,  auf  denen 
je  zwei  Zeilen  stehen.  Nr.  B  und  C  enthalten  Fragmente  eines  Spottliedes  auf  die 
modische  Frauentracht,  während  A  aus  einem  andern  Liede  herzustammen  scheint. 
Nach  Reimzeilen  abgesetzt  lauten  die  Bruchstücke: 

A.  Q  Den  weßten  weler  auch  darzü. 
rumpel  an  d'  türe  nit.1) 

den  hand  die  lied  vor  dir  ain  rü, 

die  du  singst  zu  di  |  ser  frist. 

5     nun  rumel  vnd  bum 

er  macht  dich  ki'üm. 

er  kehrt  dirs  hinderteil  herumb. 

so  singstu  es  dann  .  .  . 
* 

B.  [sy  hand]  lang  spicz  an  den  schuch. 

10    yetzliche  vv"il  haben  ein  weiß  prustuch. 
jre  arm  sieht  man  jr  ploß.  | 
Q  Sy  gand  daher  nach  mannes  lust. 
lieplich  zu  allen  egken. 
man  sieht  da  vorne  schier  die  prüst. 

15     sy  sollte  fsy  baß  bedecken]  .  .  . 

* 

C.  das  erkant. 

die  haß  die  sind  jn  binden 
vnd  vornen  außgeschnitten. 
sy  sprechendt  es  sey  yetz  sytten.  1 
2o    jeh  rürt  es  geren  baß. 

ich  furcht  sj'  werden  mir  gehaß. 


38.   Ein  Tagelied. 


1.  Frölich  so  wil  ich  singen 
Mit  lust  ein  tageweyß, 
Ich  hoff,  mir  sol  gelingen, 
Darauff  leg  ich  mein  fleyß, 
Gegen  einem  frewlein  reiche 
Auff  einer  Bürg  so  hoch. 
Ir  hertz  was  trawrigklichen, 
Der  knab  stund  heymigklichen, 
Sie  het  jn  gern  hynein. 


2.  Die  Bürg  die  was  verschlossen. 
Als  es  dann  billich  was. 
Das  Frewlein  was  begossen 
Mit  laid,  so  mereket  das. 
Der  knab  hub  an  zu  werbe 
Lieblich  zu  jr  hinauff: 
'Schöns  lieb,  es  leyt  mir  herbe, 
So  ich  also  verderbe'. 
Sie  lost  jm  eben  auff. 


1)  'Kumpel  an  der  türe  nit'  ruft  in  einem  Liede  derselben  Zeit  (Erk-Böhme,  Lieder- 
hort Nr.  902)  die  Frau  dem  zur  Unzeit  anpochenden  Buhler  zu. 


Kleine  Mitteilungen. 


<  i 


3.  Sie  sprach:  "Meins  hertzen  ein  trauter, 
So  gib  mir  deinen  rat 
Vnd  mach  es  nit  zu  laute, 
Gee  hin  zum  wechter  drat 
Vnd  bit  jn  also  freye, 
Das  er  der  bürge  thor 
Heimlichen  offen  seye!" 
Do  sprach  der  knab  mit  trewe: 
;Gee  hin  vnd  meld  mich  vor!' 


8.  'Zart  fraw,  jr  sollet  lassen 
Ewer  bitten,  ist  vmbsunst. 
Thut  eueh  des  knaben  masseu! 
Ir  gwinnet  mein  vngunst. 
Thet  ich  nach  ewern  sinnen, 
In  sorgen  müst  ich  stan, 
Man  würdt  sein  gar  bald  innen.' 
Erst  trat  er  an  die  zinnen. 
'Knab,  du  solt  dannen  gan.' 


4.  Das  frewlein  thet  sich  fügen 
Heimlich  zum  wechter  dar, 

Sie  thet  jm  nichts  verklügen: 
'Merk,  wechter,  vnd  nym  war, 
Hilff  mir,  das  ich  werdt  innen, 
Was  rechte  liebe  sey, 
Des  bit  ich  dich  mit  sinnen." 
Erst  schied  er  von  der  zinnen: 
'Sag  an,  mein  frewlein  frey!' 

5.  Das  Frewlein  also  schnelle 
Sprach  zu  dem  wechter  gut: 
"Mach  vns  kein  vngefelle! 

Es  steet  ein  edles  blut 
Dauß  vor  der  bürg  hindanne, 
Den  het  ich  gern  herein. 
Dein  hilft  muß  sein  vorane, 
Vergün  mir  disen  manne, 
Das  ist  die  bitte  mein."' 


9.  '0  wechter,  laß  deinen  zorn! 
Du  krenckest  mir  mein  hertz. 
Gedenck,  das  dich  hat  geborn 
Ein  weyb  mit  grossem  schmertz! 
Laß  mich  der  brüst  gemessen, 
Die  du  gesogen  hast! 

Thu  mir  das  thor  auffschliessen! 
Ich  hör  ein  stimm  so  süsse.' 
Erst  gab  er  jr  ein  trost. 

10.  Der  wechter  sprach  mit  sorgen: 
'Zart  Fraw,  jr  seyd  gewerdt. 
Tracht,  das  es  bleybt  verborgen! 

Ich  wurd  sunst  gericht  zum  schwerdt'. 
"Das  wer  mir  vil  zu  schwere," 
Sprach  sich  das  Frewlein  fein, 
"Des  hab  dir  hyn  mein  eere, 
Ich  meld  dich  nymmer  mere 
Ynd  auch  der  knabe  mein." 


6.  Der  Wechter  sprach  mit  sitte 
Wol  zu  dem  frewlein  her: 
'0  weyb,  das  thu  ich  nitte, 
Es  rewet  mich  dein  eer. 
Ich  hab  geschworen  feste 
Meinem  herren  ein  ayd. 
Ließ  ich  ein  frembde  geste, 
Mau  legt  mirs  nit  zum  beste, 
Ich  brecht  mich  selbs  in  layd.' 


11.  Sie  schlichen  durch  das  Teffer, 
Das  in  der  Bürge  was, 
Keins  that  das  ander  effren. 
Der  jüngling  mercket  das, 
Er  hört  die  schlüssel  rüren, 
Er  neyget  sich  zum  sprung. 
Das  thor  gieng  auff  gar  schiere, 
Das  frewlein  mit  begierc 
Vmbfieng  den  knaben  jung: 


7.  "0  wechter,  du  vil  frummer, 
Dein  red  mir  nahet  gat. 
Es  sol  nit  weyter  kummen; 
Der  knab  so  nahet  stat, 
Hat  sich  heran  geschmogen 
Wol  an  der  bürge  thor. 
Die  brück  ist  auffgezogen: 
Schleuß  auff  der  bürge  bogen! 
Der  knab  steet  gleich  daruor." 


12.  "Nun  biß  mir  Got  wilkummen, 
Meins  hertzen  ein  zuuersicht! 
Ker  dich  zu  mir  herumbe, 
Laß  mich  ansehen  dich 
Nach  allem  meinem  willen! 
Mein  hertz  hat  dein  begerdt. 
Trit  leyß  vnnd  darzu  stille, 
So  thu  ich  deinen  wille; 
Groß  freüd  bistu  gewerdt." 


4,3  verklüegen  =  beschönigen,  bemänteln  —  5,3  ungevelle  =  Unglück  — 
8,3  sich  mäzen  =  sich  enthalten,  verzichten  auf  —  10,2  gewerdt  =  eurer  Bitte 
gewährt  —  11,  i  Täl'er,  Getäfer  =  Holzverschlag,  bedeckter  Gang  —  11,3  avern, 
äfern  =  wiederholen,  tadeln. 


TN 


Bolte: 


13.  'Wechter,  ich  hab  gewannen. 
Nun  beschleuß  nach  deinem  list! 
Vetzundt  scheint  mir  die  Sunnen, 
Wiewol  es  finster  ist.' 

Sie  giugen  vber  den  gange, 
Der  Wechter  schleych  hynnach: 
'Nun  schlaffet  nit  zu  lange 
Vnd  mercket  auff  mein  gesange! 
Gern  tag  ich  das  anfach.' 

14.  Das  frewlein  sprach  mit  freüde: 
"Wechter,  auff  dich  ich  baw. 

Du  wachst  heynt  auff  vns  beyde, 
Als  wol  ich  dir  vertraw." 
Damit  schied  sie  so  drate 
Wol  von  dem  wechter  gar 
Schnell  hin  zu  jr  Kemenate, 
Bald  zug  sie  ab  ir  wate, 
Da  stund  ein  betlein  klar. 

15.  Darein  thet  er  sie  schwingen, 
Als  seiner  manheyt  zam. 

Das  Frewlein  was  geringe, 
Es  bat  jn  auch  voran: 
''Last  vns  die  rechten  masse 
Auch  halten,  als  man  soll" 
Kein  freüd  wardt  auß  gelassen, 
Er  barg  sich  inn  jr  schösse, 
Ir  hertz  was  freüden  vol. 

l(j.  Ir  arm  thet  sie  außstrecken, 
Den  knaben  sie  darein  schloß, 
Sie  thet  jn  warm  zu  decken, 
Ir  beder  freüd  was  groß. 
Sie  nam  jn  bey  der  mitte, 
Sie  drückt  jn  an  jr  brüst. 
Keins  west  des  andern  sitte, 
Kein  freündtschafft  blib  vermitte, 
Das  da  mocht  bringen  lust. 

17.  Das  frewlein  hat  sich  gflochte 
Wol  zu  dem  knaben  schon, 

Das  er  mit  fug  nit  mochte 
Kein  frembds  beginnen  thon. 
Daran  was  sie  gar  weyse, 
Sie  hielt  jn  in  der  wag. 
Was  ließ  sie  jm  zu  reyse? 
Vil  manchen  kuß  so  leyse; 
Mer  freüd  geschach  nie  da. 

18.  Do  lagens  bey  einander, 
Die  weyl  was  jn  nit  lang, 


Ein  kuß  gieng  vmb  den  ander, 

Biß  das  der  tag  her  drang. 

Der  Wechter  hub  an  zu  singen, 

Als  er  jn  vor  verhieß: 

'Knab,  thu  von  dannen  springen! 

Die  Lerch  die  thut  sich  auff  schwingen, 

Sie  meld  den  tag  so  süß. 

19.  'Ich  sich  den  stern  her  glasten, 
Der  deutet  vns  den  tag. 

Ir  solt  nit  lenger  rasten: 

Die  vögel  singen  on  zag. 

Die  troschel  schreyt  mit  schalle, 

Die  amschel  auch  darbey, 

Laut  rüfft  fraw  nachtigalle, 

Die  andern  vögel  alle, 

Als  vil  vnd  jr  da  sein. 

20.  Laut  schrey  das  Frewlein  sere 
In  hübschigklicher  eyl: 

"Wie  mags  sein  ymmer  mere! 
Es  ist  eine  kleine  weyl, 
Das  ich  herein  bin  kummen, 
Kein  schlaff  hat  mich  geheyst." 
Ir  haubt  neygt  sie  hinumbe 
Wol  zu  dem  wechter  frumbe: 
"Wechter,  dein  frümbkeyt  leyst!" 

21.  'Die  nacht  hat  sich  gewendet, 
Der  tag  herein  da  schleycht, 

Er  dringt  von  Oriente, 
Das  gestirn  hat  er  durchleucht, 
Die  morgen  röt  her  gleste, 
Drey  stern  steen  gern  tag. 
Wol  auff,  [ir]  lieben  geste! 
Es  ist  yetzt  [zeit]  auff  beste, 
Mit  trewen  ich  das  sag.' 

22.  Der  knab  sprach  vnuerborgen: 
"So  thu  auff,  wechter  fein! 
Darumb  darffstu  nit  sorgen, 
Geschieden  muß  es  sein." 

Auff  sprang  er  doch  geringe, 
Thet  einen  laden  auff, 
Der  tag  thet  einher  dringen: 
"Schaw  an,  lieb,  dise  ding[e], 
Halt  mich  nicht  lenger  auff!" 

23.  Das  frewlein  sprach  mit  layde 
Wol  zu  dem  knaben  fein: 

'So  reych  mir  her  mein  klayde! 
Gescheyden  muß  es  sein.' 


ll,s 

=  Drossel 


Wät         Gewand    —    lö,  3    geringe    =    schwach,    sanft    —    19,5    Troschel 
geheischt?  —  22,5  geringe  =  behend. 


20,c  geheist 


Kleine  Mitteilungen. 


79 


Darein  schluff  sie  gar  schnelle, 
Der  knab  was  auff  der  fart, 
Do  trat  sie  auß  der  zelle, 
Der  tag  der  schyn  gar  helle. 
Der  wechter  betrübet  war[d]. 

24.  Das  frewlein  sprach  mit  weynen: 
"Got  bleyt  dich  auß  der  Vest! 

Hab  ich  dir  etwas  günnet, 
Das  schreyb  mir  alles  zum  best! 
Ich  thu  mich  gantz  erzeygen, 
Was  ich  im  hertzen  trag." 
Der  knab  der  thet  sich  neygen, 
Er  sprach:    'Du  bist  mein  eygen. 
Got  behüt  dich  all  mein  tag!' 

25.  Der  knab  wardt  außgelassen 
Wol  von  dem  wechter  gut, 


Er  traff  die  rechten  Strassen: 
Tar  hin,  du  edles  blut, 
Vnd  laß  es  bey  dir  bleybe! 
Ich  hab  dir  gut  gethau, 
Ich  vnd  das  schöne  weybe; 
Thus  in  dein  hertze  schreybe!' 
Er  sprach:    "Kein  sorge  han!" 

26.  Do  sprang  der  selbig  knabe 
Gleich  als  ein  hirsch  so  stoltz 
Durch  manchen  tiefen  graben, 
Er  sang  wol  inn  das  holtz. 
Do  kam  ich  dar  geritten 
Gar  heymlich  vnd  gar  leyß, 
Er  saget  diß  geschichte: 
Do  hub  ich  an  zu  dichte 
Hie  dise  tageweyß. 


Frölich  so  wil  ich  singen,  |  mit  lust  ein  tageweyß.  |  O  I  4  Bl.  o.  0.  und  J.  (1.  Hälfte 
des  16.  Jahrh.).  —  Berlin  Yd  8492:  ein  andrer  Druck  nach  Erk-Böhme,  Liederhort  2,  81 
in  Danzig. 

Von  dem  dichterischen  Schwünge  der  bei  Erk-Böhme,  Liederhort  Nr.  797 
bis  812  gesammelten  Tagelieder1)  hat  dies  meistersängerliche  Elaborat  wenig; 
trotz  aller  lüsternen  realistischen  Ausmalung  des  nächtlichen  Liebesabenteuers 
macht  es  doch  einen  teils  trockenen,  teils  schwülstigen  Eindruck.  Dass  es  gleich- 
wohl gegen  Ende  des  15.  Jahrh.  beliebt  war,  bezeugen  zwei  Marienlieder  mit 
gleichem  Eingange  und  Bau:  'Gotlich  so  wil  ich  singen  mit  lust  ain  tagewayß' 
(Kehrein,  Kirchenlieder  1853  S.  195)  und  'Frölich  so  will  ich  singen  mit  lust  ein 
tage  weis'  (Wackernagel,  Kirchenlied  2,  1032  nr.  1264.  Bäumker,  Das  kath.  Kirchen- 
lied 2,  104.  Böhme,  Liederbuch  Nr.  602)  und  Konrad  Burers  Lied  von  Marias 
Fürbitte  'Mit  lust  so  woll  wir  singen  und  freud  ein  tageweiß'  (Wackernagel  2,  839 
Nr.  1053).  Von  dieser  neunzeiligen  Tageweise  aber,  deren  Melodie  auch  für 
historische  Lieder  v.  J.  1536  und  1552  (v.  Liliencron  Nr.  463.  605)  benutzt  ward, 
ist  zu  unterscheiden  die  siebenzeilige:  'Könnt  ich  von  herzen  singen  ein 
hübsche  tageweis',  eine  Bearbeitung  der  antiken  Fabel  von  Pyramus  und  Thisbe 
(Böhme  Nr.  20.  Erk-Böhme  Nr.  87.  Kopp,  Lieder  der  Heidelberger  Hs.  343 
Nr.  55.  Hennig,  Die  geistliche  Kontrafaktur  1909  S.  205  f.  Schaer,  Die  Pyramus- 
Thisbe-Sage  1909  S.  23). 


39.    Eine  traurige   Geschichte  von  einem  Knaben  und  einem  Maidlein,   die   sich  aus  Liebe 

selbst  umbrachten. 


1.  Es  war  in  einem  Dorfe 
Ein'  wunderschöne  Magd: 
Um  sie  sich  da  bewarbe 
(Feins  Lieb,  nimm's  wohl  in  Acht!) 
Ein  reicher  Bauernsohn  :,: 
Den  liebte  sie  von  Herzen 
Als  ihre  Ehrenkron'. 


2.  Das  Dorf  [lag]  an  dem  Walde, 
Dariun  es  Eichen  gab: 
Das  Maidlein  sollt  sich  rüsten 
Den  Sonntag  Nachmittag: 
„Den  Sonntag  Nachmittag  :,: 
Da  will  ich  deiner  warten; 
Komm  zu  mir,  wie  ich  sag!" 


21,  2  beleiten  — 
1)    Vgl.   über   die 
Jena  1895). 


geleiten, 
ganze    Gattung    G.  Schläger,    Studien    über    das  Tagelied    (Diss. 


80 


Bolte: 


3.  Das  Maidlein  thät  sich  rüsten 
Und  lief  der  Eichen  zu: 
Der  Teufel  war  so  listig 
Und  ließ  ihr  keine  Ruh. 
Als  sie  kam  in  den  Wald  :,: 
Da  kam  ein  Wolf  geschlichen, 
Die  Jungfrau  sah  ihn  bald. 

4    Was  trug  er  in  dem  Munde? 
Ein  wülles  Lümplein  roth; 
Das  Maidlein  schrie  zur  Stunde: 
„.0  weh!   mein  Schatz  ist  todt." 
Zog  aus  ihr  Messer  bald  :,: 
Und  schnitt  ihr  ab  die  Gurgel 
Und  blieb  todt  in  dem  Wald. 

5.  Der  Junggesell  thät  laufen 
Den  Wald  wohl  hin,  wohl  her; 
Sein'n  Schatz  könnt  er  nicht  finden, 
Drum  ward  ihm  's  Herz  so  schwer. 


Wollt  wieder  heim  nach  Haus  :,: 
Was  fand  er  an  dem  Wege? 
Sein'n  Schatz  mit  grüstem  Graus. 

6.  Er  schlug  die  Hand'  zusammen 
Und  schrie:    „Ach  liebster  Schatz! 
Must  du  dein  Leben  lassen 
Allhier  auf  diesem  Platz? 

Bin  ich  Ursächer  dran  :,: 
So  will  ich  auch  mein  Leben 
Bey  dir,  mein  Schatz,  jetzt  lahn. 

7.  „Gute  Nacht  will  ich  euch  geben, 
Ihr  lieben  Eltern  mein: 

Von  hinnen  will  ich  schweben 
Zu  meinem  Schätzelein. 
Weiß  wohl,  es  bringt  euch  Leid  :,: 
Hoff  aber,  werd  euch  sehen 
Dort  in  der  Ewigkeit." 


Ausbund  schöner  weltlicher  Lieder  für  Bauers-  und  Handwerksleute;  ferner  allerhand 
lustiger  Liebeshistorien  und  kläglicher  Mordgeschichteu  in  säubern  Reimen  verfaßt  und 
von  neuem  ans  Licht  gestellt  durch  Hans  Liederhold,  Bänkelsängern.  Erstes  Bündel. 
Reuttlingen,  gedrukt  mit.  Fischer-  und  Lorenzischen  Schritten  [um  1790].  Nro.  2,  das 
Dritte.     (Berlin  Yd  5142). 

Als  Probe  der  absichtlichen  Plattheit  dieser  Sammlung,  mit  der  sieb  der  ge- 
bildete Bänkelsänger  Hans  Liederhold  dem  gemeinen  Mann  verständlich  zu  machen 
sucht,  stelle  ich  eine  bisher  übersehene  Bearbeitung  der  Pyramus  und  Thisbe- 
Sage  zur  Schau.  Vgl.  über  diesen  Stoff  Erk-  Böhme,  Liederhort  Nr.  86 — 88; 
Wickrams  Werke  8,  288 — 293;  Schaer,  Die  dramatischen  Bearbeitungen  der 
Pyramus-Thisbe-Sage  1909.  Dazu  noch  ein  Meisterlied  'Es  hat  Boccatius  be- 
schriben  schon'  in  der  Blüeweis  M.  Lorentz  154K  (Weimar  Hs.  Fol.  419,  Bl.  132a), 
ein  andres  'Thysbe  die  sybent  fraue'  im  schlechten  langen  Thon  (ebd.  BI.  365a), 
ein  drittes  von  H.  Sachs  1556,  7.  Okt.  (Keller-Goetze  25,  509  nr.  4999  =  Wickram 
8,  288),  eine  Münchner  Aufführung  1779  (Oberbayr.  Archiv  51,  517),  ein  Bild  von 
1526  bei  J.  Luther,  Titeleinfassungen  der  Reformationszeit  1909  Taf.  28;  Prosa- 
fassungen aus  dem  Volksmunde  bei  Panzer,  Beitrag  zur  dtsch.  Mythologie  2,  238 
(1855),  Pröhle,  Deutsche  Sagen  1863  Nr.  64  und  Bartsch,  Sagen  aus  Mecklenburg 
1,  324  Nr.  436  (1879).  Auch  in  der  mecklenburgischen  Sage  ist  wie  in  unserm 
Liede  ein  Wolf  oder  Eber  an  die  Stelle  des  ovidischen  Löwen  getreten. 


40.   Ein  freundtlich  Gespräch  eines  jungen  Ehemans  vnd  eines  alten  Weibs. 


I.  Es  sprach  ein  Fraw  zu  jhrem  Manu: 
'Wie  soll  ich  mich  doch  halten, 
Wann  du  nicht  änderst  wilt  hauß  han?' 
Der  Mann  sprach:  „Laß  nun  Gott  walten!" 


3.  Die  Fraw  die  sprach:    'Du  wüster  Wust. 
Meinst  nit,  daß  es  mich  reyhe, 
Daß  du  mir  all  mein  Gut  vertäust?' 
Der  Manu  sprach:    .,Ey  so  tliue!" 


2.  Die  Fraw  die  sprach  zu  jhrem  Mann: 
'Kein  Weib  ist  hie  so  bange, 
Daß  du  mir  stets  zum  Wein  wilt  gan.' 
Der  Mann  sprach:    „Ey  so  gange!" 


4.  Zu  jhm  sprach  sie  in  einer  Nacht: 
'Mich  wundert,  waß  dich  treibe, 
Daß  d  im  Wiitshauß  bleibst  vber  Nacht.' 
Der  Mann  sprach:    „Ey  so  bleibe!" 


Kleine  Mitteilungen.  31 

5.  Die  Fraw  sprach:    'Keines  wegs  Ich  förcht,    du  fallest  noch  d  Stiegen  hinab: 

glaub  ich,  Der  Mann  sprach:    „Ey  so  falle!" 

Daß  sie  ein  Mann  so  fülle. 

Bist  du  dann  voll,  so  knälst  du  mich.*  11.  Die  Fraw  die  sprach:    'Es  ist  ein 

Dex,  Mann  sprach:    „Ey  so  knülle!1  Schand 

Daß  man  so  lang  verzeyhet ; 

6.  Die  Fraw  die  sprach:    'In  solchem      Den  Schulden  entlauffst  noch  auß  dem  Land/ 

Zanck  Der  Mann  sprach:    „Ei  so  flühe!" 
Du  wilt  stehts,  daß  ich  schweige: 

Am  Morgen  bistu  dann  gar  kranck.'  12,   Die  Fraw  sprach:    'Kein   warnen  hilfft 

Der  Mann  sprach:    „Ey  so  seye!"  an  dir, 

Das  sag  ich  dir  in  trewen, 

7.  Die  Fraw  jhm  trutzig  antwort  gab,  Es  wird  dich  grewen,  glaub  du  mir.' 
Erzürnt  in  solchen  dingen:  Der  Mann  sprach:    „Ey  so  grewe!" 
'Du  bringst  vns  zletst  an  Bettelstab." 

Der  Mann  sprach:    „Ey  so  bringe!"  13.  Die  Fraw  sprach:    'Ich  wird  von  Sinnen 

komm. 

8.  Die  Fraw  sprach:    'Wann  dein  Gut      Daß  ich  mein  Haar  außrauffe: 

ist  verthan,  Du  lauffst  noch  mit  dem  Schölmen  darvon.' 

Wer  wird  dich  dann  mehr  grüssen!  Der  Mann  sprach:    „Ey  so  lauffe!" 

Im  Land  must  vmbher  bettlen  gähn.1 

Der  Mann  sprach:    „Ey  so  müsse!"  14.  Die  Fraw  sprach:    'Ach  der  grossen 

Noth, 

9.  Die  Fraw  sprach:  'Ach  mein  Mann,     Hätteu  wir  nur  keine  Kinde, 

du  jrrst,  Vnd  fund  man  vns  Morgn  beyde  todt!' 

Ich  sichs  an  weiß  vnd  Berden,  Der  Mann  sprach:    „Ey  so  finde!" 
Daß  du  zu  einem  Bettler  wirst.' 

Der  Mann  sprach:   „Ey  so  werde!"  15.  Der  ist  ein  freyer  Fisel  gwest, 

Er  hat  wol  können  geigen, 

10.  Die  Fraw  sprach:  'Wann  ich  Kummer  Er  hat  der  Frawen  als  günt: 

hab,  Drumb  hat  sie  müssen  schweigen. 
So  meinstu  stets,  ich  balge. 

Die  Bawrsleuthen  |  Lobgesang,  |  In  welchem  vermeldt  wird,  |  was  man  für  Nutz  vnd 
Frucht  |  von  jhnen  habe.  |  In  deß  Buchsbaums  Melodey  zusingen.  |  Sampt  einem  Gespräch 
eines  vertrunckenen   |  Manns,    vnd    einer   alten    Frawen.  |  Q  |  Gedruckt    zu    Augsgurg  [!], 
bey  |  Johann  Schultes.  |  4  Bl.  8°  um  1650.    (Berlin  Yd  7854,  31).   —   Das    erste   Lied    ist- 
abgedruckt  bei  Bolte,  Der  Bauer  im  deutschen  Liede  1890  Nr.  2  (Acta  germanica  1). 

41.    Zwei  Mädchen  spotten  über  einen  tölpischen  Freier. 

1.  Ketgen,  mein  Mädgen,  ach  sage  mir  recht, 
Wie  gefiel  dir  nechten  der  Jungfrawen  Knecht, 
Der  da  an  deiner  Seiten  gesessen? 

Mich  deucht,  er  hett  ein  Narren  gefressen. 
Fa  la  la  di  dri  dum. 

2.  'Ach  Jungfraw  Ennichen,  was  wolt  jhr  mich  fragen? 
Von  jm  solt  man  billich  singen  vnd  sagen; 

Er  gefiel  mir  aus  der  massen  wol. 
Wenn  er  nur  weer,  wie  er  sein  soll. 


11,4  1.  fliehe?  —  15,  i  Fisel  =  Kerl;  urspr.  Penis. 
Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1911.   lieft  1. 


82 


Bolte : 

:'».   'Sein  Jung  der  singt,  sein  Gaul  der  springt, 
Darnach  jhni  ein  ander  verdringt. 
Sein  Sachen  schicken  sich  leiden  wol, 
Als  wenn  er  den  Korb  kriegen  sol. 

4.    'Drumb  Jungfraw  Ennichen,  so  bitt  ich  doch, 
Setzt  jhn  auffs  Polster  vnd  halt  jhn  hoch! 
Denn  er  ist  gar  ein  zartes  Kind, 
Seins  gleichen  man  hintern  Pfluge  tindt.' 

."».    Ketgen  mein  Medgen,  er  wil  sein  bereit, 
Euch  zu  besuchen  allezeit; 
Er  hats  meint  halben  wol  so  keck  gewagt 
Vnd  etliche  hinter  sich  her  gejagt. 

6.    'Ich  weis,  er  sol  sein  blancken  Degen 
Allein  außziehen  von  ewert  wegen: 
Vnd  schlug  jhn  sonst  eine  ins  Angesicht, 
Euch  zu  gefallen  weret  er  sich  nicht.' 


SV 


I. 


Ja  Ketgen  mein  Mädgen,  das  ist  war, 
In  seinem  Tantzn  da  sah  ichs  klar. 
Sein  blosse  Knie  gleich  wie  Carfunckel 
Hetten  wol  mögen  die  Sonne  verdunckeln. 

S.    'Sein  Strumpf  sind  kurtz,  sein  Haar  seind  lang, 
Vmb  jhn  ist  gar  ein  grosser  gedranck, 
Er  ist  bund  wie  das  Eckern  Dauß. 
Ihr  lieben  Leute,  lacht  mir  jhn  nicht  auß!' 

9.  Ketgen  mein  Mädgen,  ich  darffs  bald  wagn 
Vnd  selber  mit  jhm  erbarmung  tragen: 

In  Todt  vor  jhn  wolt  gehen  ich  — 
Doch  liebes  Ketgen,  gläubs  nur  nicht! 

10.  'Ach  er  wird  ja  ein  hübscher  Mann, 
Ihr  solt  jhn  billich  in  Ehren  hau, 

Die  Ober  Stell  solt  jhm  geben  jhr 
Beim  Handfaß  hinter  der  Stuben  Thür. 

11.  'Ja  Jungfer  Ennichen,  jhr  thut  nicht  recht, 
Das  jhr  den  hübschen  Knecht  versprecht. 

Hett  mancher  Herr  ein  solchen  Mann, 
Er  dürfft  jhn  wol  vor  einen  Narren  han. 

12.  Drumb  Ketgen  mein  Medgen,  hör  jetzun.l ! 
Ich  hab  jhn  lieb  von  hertzen  grund, 

Ich  wil  jhn  allein  vor  andern  allen 

Am  liebsten  durch  den  Korb  lassen  fallen. 

13.  'Ach  Jungfer  Ennichen,  jhr  solts  bleiben  lahn 
Denn  er  hat  Sammete  Hosen  an. 

Aber  wenn  jhrs  recht  nemet  war, 
Sind  sie  zurissen  gantz  vnd  gahr.' 

11.    Ey,  Sammete  Hosen  die  stehn  wol  fein: 
Wer  weis,  ob  sie  auch  sein  eigen  sein! 
Wenn  ich  mich  mit  jhm  wolt  trawen  lahn, 
Spreche  jhn  vielleicht  einer  vmb  die  Hosen  an. 


Kleine  Mitteilungen. 


83 


15.  Ja  Ketgeu  mein  Mädgen,  so  hör  ich  recht, 
Daß  er  sie  nicht  alle  Tage  trägt: 

Drumb  sind  sie  jhm  auch  worden  zu  klein, 
Die  Matten  haben  sich  gefunden  drein. 

16.  'Ihr  solt  aber  alleine  nicht  sehen  an 
Schöne  Kleider,  sondern  betrachten  den  Mann. 
Er  kan  vorn  Schoß  vnd  auch  vor   den  Stich, 
Was  er  zusagt,  das  helt  er  nicht. 

17.  'Ach  Jungfraw  Ennichen,  es  mangelt  jhm  nit, 
Geld,  Bier  vnd  Brodt  jhm  stets  gebricht, 

Er  hat  auch  gar  ein  stumpffen  Pflug 
Vnd  darmit  zu  thun  gar  genug. 

18.  'Vber  das   ist  er  in  aller  Tugent 
Erzogen  also  in  seiner  Jugent, 

Er  hat  an  sich  das   edle  Kleinodt, 

Wenn  er  gleich  leugt,  so  wird  er  nicht  roth.' 

19.  Ja  Ketgen  mein  Mädgen,  du  Vnflat,  ich  dächte  schier, 
Ich  gönte  dir  jhn  lieber  als  selber  mir. 

Behalt  jhn  für  dich,  den  lieben  Mann! 
Ich  mag  jhn  in  der  Warheit  nicht  han.   — 

•20.    Diß  Liedlein  hab  ich  zartes  Jungfräwlein 
Verehret  dem  Hertzallerliebsten  mein. 
Er  hat  mich  lieb,  vnd  ich  jhn  nicht, 
Fürwar  es  ein  Stein  erbarmen  möcht. 

21.  Doch  sol  kein  freyer  Jüngling  schon 
Nicht  vermeinen,  das  ich  jhm  anthue  den  Hohn. 
Denn  weil  mein  Euglein  die  Welt  ansieht, 
Verlaß  ich  die  hübschen  Kuäblein  nicht. 

22.  Ade,  schöns  Knäblein,  Gott  behüte  dich, 
Ich  weiß  wol,  welchen  meine  ich. 

Hiemit  Ade  vnd  aber  Ade, 

Diesen  nem  ich  nun  noch  nimmermehr. 

Fa  la  la  di  dri  dum. 

Drey  Schöne  |  Newe  Lieder,  |  Das  Erste,  Ein  schön  New  |  Weinachten  Liedt,  welches 
zuuor  nu-  |  werle  in  Druck  außgangen.  Arm  vnd  |  Reich  soll  frölich  sein  etc.  |  D  |  Be- 
lieben Zwey  angelangte  kurtzwei-  |  lige  Lieder,  j  Gedruckt  zu  Erffurt,  bey  Jacob  Sin-  |  gen, 
In  diesem  1613.  Jahr.  |  4  Bl.  8°  (Berlin  Yd  7853,  16).  —  Das  2.  Lied  'Hort  zu  jhr  jungen 
Gesellen  fein'ist  abgedruckt  bei  Bolte,  Der  Bauer  im  deutschen  Liede  1890  Nr.  24,  vgl. 
oben  19,  72.  —  Das  3.  Lied  ist  das  hier  wiedergegebene;  im  Anfange  anklingend,  aber 
sonst  völlig  anders  ist  Nr.  14  im  Bergliederbüchlein:  'Kaederle  mein  Mägdel  ich  muß 
dirs  gestehen'  (Kopp,  Ältere  Liedersammlungen  1906  S.  16). 


42.    Geld,  Geld  schreyt  die  Welt. 


1.  Die  Losung  ist  Geld. 
Die  Hochbekrönten  Printzen, 
Die  Grandes  in  Provintzen 
Verlangen  nur  Geld. 
Die  Leut  in  Zippel-Peltzen, 
Die  Bettler  auf  den  Steltzen 
Verlangen  nur  Geld. 


2.  Die  Losung  ist  Geld. 
Die  Leute  vom  studieren, 
Die  grosse  Titel  führen, 
Verlangen  nur  Geld. 
Die  ungelehrt  verbleiben 
Und  so  das  Ilandwerck  treiben, 
Verlangen  nur  Geld. 


84 


Bolte,  Schulz,  Chauvin: 


8.  Die  Losung  ist  Geld. 
Die  auff  dem  Predigt-Stuhle, 
Im  Rath-Hauß,  in  der  Schule 
Verlangen  nur  Geld. 
Studenten  und  Soldaten 
Und  andre  liebe  Pathen 
Verlangen  nur  Geld. 

4.  Die  Losung  ist  Geld. 
Das  sind  die  alten  Räncke, 
Der  Gastwirth  und  der  Schencke 
Verlangen  nur  Geld. 


Die  Pagen  und  Trabanten, 
Voraus  die  Musicanten 
Verlangen  nur  Geld. 

5.  Die  Losung  ist  Geld. 
Drum  welcher  bey  Patroneu 
Gedencket  zu  gewohnen, 
Der  schaffe  nur  Geld. 
Und  wem  das  Volck  in  allen 
Sol  dienen  und  gefallen, 
Der  schaffe  nur  Geld. 


Jungfern-  und  Junggesellen-Lust  (um  1700)  Nr.  16  (Berlin  Yd  5131).    —    Über  ver- 
wandte Dichtungen  vgl.  Bolte,  Zs.  f.  dtsch.  Altertum  48,  53. 


Berlin. 


Johannes   Bolte. 


Zum  Yolksliede  vom  Tod  zu  Basel. 

Matthias  von  Neuenburg  erzählt  im  25.  Kapitel  seiner  Chronik  folgende  Anekdote 
von  Rudolf  von  Habsburg: 

Quaedam  fabula  de  rege.  Rex  ipse  quadam  vice  transiens  pontem 
Thuregi  cum  vidisset  stantem  ibi  quendam  senem  sanguineum  cum  canorum  mul- 
titudine  pilorum,  dixit  ad  quendam  confabulantem  sibi:  'O  quot  bonos  dies  in 
vita  sua  peregisse  potuit  ille  canus!'  Quod  audiens  ille  dixit  suaviter:  'Pallimini, 
quia  nunquam  habui  bonum  diem.'  Quod  quasi  audiens,  rex  causam  huius 
quaesivit  ab  illo.  Qui  respondit,  se  egentem  in  iuventute  vetulam  deformem  racione 
pecuniae  recepisse  uxorem;  cum  qua  diu  vivente  iracunda  ipsumque  prae  timore 
aliarum  mulierum  corrodente  dixit  se  vitam  miserabilem  peregisse.  Qua  ipso  iam 
sene  facto  defuncta,  cum  illico  aliam  iuvenem  recepisset  nee  illi  in  lecto  complacere 
posset,  vitam  cum  illa  rixosa  duriorem  peregit.  De  quo  rex  in  risum  est  provo- 
catus.  (Böhmer,  Fontes  rerum  Germanicarum  4,  ltiö.  Übersetzt:  Geschicht- 
schreiber der  d.  Vorzeit,  14.  Jahrh.    Bd.  6,  S.  29.) 

Die  vorstehende  Erzählung  enthält  ein  ähnliches  Motiv,  wie  es  den  Gegen- 
stand eines  weit  verbreiteten  Volksliedes  bildet,  das  freilich  erst  viel  später 
schriftlich  belegt  ist.  Am  nächsten  steht  wohl  die  Anekdote  der  zuerst  1777  bei 
Nicolai  (Feyner  kleyner  Almanach  1,  Nr.  27  =  Erk-Böhme,  Liederhort  2,  701 
Nr.  914)  gedruckten  und  noch  heut  in  manchen  Gegenden  unter  dem  Titel  'Der 
Tod  von  Basel'  bekannten  Passung  mit  der  Schlußstrophe: 

Das  junge  Weybel,  das  ich  nam, 
Das  schlug  mich  alle  Tag. 
Ach  liber  Tod  von  Basel, 
Hätt  ich  mein  Alte  noch! 


Frei  bürg  i.  B. 


Marie   Schulz. 


Hierzu  gestatte  ich  mir  die  Bemerkung,  dass  ein  direkter  Zusammenhang 
zwischen  der  Klage  jenes  bejahrten  Zürichers  und  der  Schlußstrophe  des  'schweize- 
rischen Liedes'  bei  Nicolai  schwerlich  anzunehmen  ist.  Denn  letzteres  ist  offenbar 
eine    gekürzte    und    wirkungsvoll    zugespitzte    Überarbeitung    eines    in    drei    Auf- 


Kleine  Mitteilungen.  85 

Zeichnungen  des  16.  Jahrh.  erhaltenen  Liedes  'Do  ich  mein  erstes  Weib  nam' '), 
welches  noch  nichts  von  der  zweiten  Ehe  erzählt;  erst  später,  im  17.  oder 
18.  Jahrh.,  ward  die  Bestrafung  des  allzu  lebenslustigen  Witwers  und  sein  reuiger 
Seufzer  „Hätf  ich  mein  Alte  noch"  hinzugefügt2).  Noch  weiter  in  der  Partei- 
nahme für  die  Alte  geht  die  englische  Version  'When  I  was  a  young  man'3):  der 
Mann  schreitet  zum  Grabe  seiner  ersten  Frau,  öffnet  den  Sarg,  sieht  sie  lachen 
und  führt  sie  mit  sich  heim.  Der  Anekdote  bei  Matthias  von  Neuenburg  Hesse 
sich  etwa  die  äsopische  Fabel  von  dem  Manne  mit  zwei  Frauen4)  zur  Seite 
stellen;  die  junge  reisst  ihm  die  weissen  Haare,  die  alte  die  schwarzen  aus. 

J.   Bolte. 


Les  contes  populaires  dans  le  Livre  des  Rois  de  Firdausi6). 

Si  l'on  s'attend  ä  trouver  dans  le  Livre  des  Rois  de  Firdausi  beaucoup  de 
contes  populaires  ou  meme  seulement  beaucoup  de  traits  folkloriques,  on  se 
tromperait  grandement.  Mais  ceux  qui  connaissent  l'auteur  n'auront  pas  cette  idee. 
Firdausi,  ils  le  savent,  est,  avant  tout,  un  poete  epique,  qui  ne  s'occupe  que  de 
batailles,  de  negociations,  de  banquets,  de  conseils  moraux  et,  au  point  de  vue 
romanesque,  son  imagination  est  assez  sterile.  Pour  Rustem,  il  sent  bien  qu'il  lui 
faut  des  aventures;  mais  il  ne  trouve  a  raconter  que  des  lüttes  contre  un  lion, 
un  dragon,  une  magicienne,  et  des  divs  (I,  p.  404)  et  ces  memes  elements  lui 
servent  encore  une  fois,  quand  il  veut  rendre  Isfendiar  interessant  (IV,  p.  393). 
Ailleurs,  si  Feridoune  traverse  un  Üeuve  miraculeusement  (I,  p.  71),  Ke'i  Khosrou 
en  fait  autant  (II,  p.  418).  Et  rares  seraient  les  ornements  romanesques  si,  outre 
quelques  histoires  traditionnelles  (Sohrab  II,  p.  54;  les  lions  de  Bahrain  V,  p.  435  etc.) 
il  n'y  avait  les  dragons  (I,  p.  243  et  409;  IV,  p.  261  et  400;  V,  p.  48S;  VI, 
p.  30)  ou  un  lion,  qui  n'est  qu'un  dragon  (VII,  p.  162);  s'il  n'y  avait  les  Simourghs 
(I,  p.  169;  IV,  p.  408,  493  et  535)  ou  les  amazones  (II,  p.  73  et  VII,  p.  196), 
dont,  d'ailleurs,  le  role  est  assez  efface. 

Qu'on  joigne  ä  cela  de  rares  traits  folkloriques  et  l'on  sera  au  bout:  une 
expedition  dans  le  ciel  ä  l'aide  d'aigles  (II,  p.  31);  un  mur  qui  se  fend  (II,  p.  441»); 
un  onagre,  qui  est  un  div^  (III,  p.  215;  cfr.  VI,  p.  533):  uue  coupe  qui  reflechit 
le  monde  (111,  p.  274);  une  histoire  ä  la  Combabos  (V,  p.  269);  un  ministre  con- 
damne  ä  mort,  epargne  par  le  bourreau  et  rentrant  en  gräce  quand  on  a  besoin 
de  lui  (VI,  p.  366). 

Apres  cela,  on  ne  s'etonnera  pas  que  Firdausi  n'ait  guere  eu  recours  aux 
Contes  populaires;    il  n'en  donne  que   quatre,    qu'il   accommode  d'ailleurs    au  ton 


1)  Erk-Böhme  2,  700  Nr.  913  und  van  Duyse,  Het  oude  nederlandsche  Lied  2,  963 
nr.  268.  Vgl.  Gassmann,  Volkslied  im  Luzerner  Wiggertal  1906  Nr.  <!2.  flauffen, 
Gottschee  1895  Nr.  117. 

2)  Zu  den  bei  Erk-Böhnie  Nr.  911  angeführten  Fassungen  vgl.  noch  oben  In,  203 
und  326.  Firmenich,  Germaniens  Völkerstimmen  :'>,  (17.  Kohl,  Echte  Tiroler -Lieder 
1899  Nr.  180. 

3)  Tb.  Lyle,  Ancient  ballads  and  songs  1*27  p.  151  (Unland,  Schriften  1,  257). 

4)  Fabulae  Aesopicae  ed.  Halm  5<i.  Phaedrus  2,  2.  Zur  Verbreitung  vgl.  Oesterley 
zu  Kirchhofs  Wendunmut  7,  67  und  Crane  zu  Jacques  de  Vitry.  Exempla  189<>  Nr.  201. 
Revue  des  trad.  pop.  15,  649. 

5)  Le  Livre  des  Rois  par  Abou'lkasim  Firdausi  traduit  et  commeul/'  par  Jules  Moni. 
Paris,  1876—1878.    7  volumes  in  12'. 


$6  Chauvin,  Gragger: 

du  poeme  et  qui,  chose  digne  de  remarque,  se  rencontrent  dans  des  parties  voisines 
de  r<ipuvre:  on  dirait  qu'il  y  a  eu,  dans  la  vie  de  Firdausi,  un  moment  oü  les 
contes  du  peuple  ne  le  laissaient  pas  indifferent. 

Le  premier  est  celui  de  Kitaboun  (IV,  p.  238);  c'est,  evidemment,  l'histoire  si 
connu  du  Prince  et  son  cheval,  sur  la  quelle  on  trouvera,  dans  Cosquin,  tous 
les  renseignements  desirables.  (Contes  populaires  de  Lorraine  I,  p.  133 — 154, 
No.  XII.) 

Ailleurs,  HomaT  expose  sur  l'eau  son  fils  Darab  et  un  blanchisseur  le  recueille 
(V,  p.  15).  Faut-il  remonter  jusqu'ä  Mo'i'se?  Ne  vaut-il  pas  mieux  reconnaitre 
ici  un  episode  du  conte  des  Soeurs  jalouses?  (Bibliographie  arabe  VII,  p.  97, 
No.  375.) 

Une  troisieme  histoire,  dont  le  caractere  populaire  a  frappe  Mohl  (V,  p.  IV — V) 
est  celle  du  ver  qui  grandit  demesurement  et  dont  les  pouvoirs  surnaturels  troublent 
le  cours  des  evenements  (V,  p.  247).  Cet  animal  effrayant  n'est  pas  inconnu 
des  rabbins.  (Revue  des  etudes  juives,  XXXIII,  p.  239.  —  Grimin,  Hausmärchen  2, 
edition  (1822),  III,  p.  114—115  nr.  62;  257—258  (Bruchstücke  2)  et  288—289  (Penta- 
merone  1,  5).  Ce  dernier  passage  donne  le  cinqueme  conte  du  livre  premier  du 
Pentamerone). 

Enfin,  le  conte  de  Lembek.  Le  roi  Bahram,  apprenant  que  Lembek  vit 
joyeusement  au  jour  le  jour  et  aime  ä  bien  recevoir  des  hotes,  s'impose  ü  lui 
tout  en  lui  rendant  impossible  de  gagner  sa  vie:  ce  qui  n'empeche  pas  notre 
heros  de  traiter  grandement  le  roi  (V,  p.  449).  Cette  taquinerie,  narree  ä  peu- 
pres  de  meme,  est  aussi  la  trame  du  conte  arabe  de  Basini  le  forgeron. 
(Bibliographie  arabe  V,  p.  171,  No.  96.) 

Liege.  Victor  Chauvin. 


Ludwig  Katona  zum  Gedächtnis. 

Die  Volkskunde,  die  vergleichende  und  die  ungarische  Literaturgeschichte  hat 
einen  hervorragenden  Forscher,  die  ungarische  Gelehrtenwelt  eine  hochgebildete, 
liebenswürdige  Gestalt  in  Ludwig  Katona  verloren.  Verloren,  denn  er  hatte  sein 
Lebensziel  nicht  erreichen,  nur  vorbereiten  können.  Die  Verschwenderin  Natur 
hat  wieder  einmal  einen  Baum  zu  voller  Blüte  gebracht  und  ihn  zerstört,  bevor 
der  grössere  Teil  seiner  Früchte  reifen  konnte. 

Ludwig  Katona  war  am  4.  Juni  1862  in  Viicz  geboren.  Nachdem  er  die  sechs 
Klassen  des  dortigen  Piaristengymnasiums  und  die  zwei  letzten  in  Esztergom 
absolviert  hatte,  studierte  er  seit  1880  an  der  Budapester  Universität,  unterbrach 
jedoch  1882  seine  Studien,  um  einen  Erzieherposten  in  der  Provinz  anzunehmen. 
Er  Hess  sich  bald  in  das  katholisch-theologische  Seminar  zu  Väcz  aufnehmen, 
kehrte  aber  1X84  wieder  zu  seiner  früheren  Laufbahn  nach  Budapest  zurück. 
Das  nächste  Jahr  bezog  er  die  Universität  Graz,  wo  er  unter  Schuchardts  Leitung 
ein  tüchtiger  Romanist  wurde.  Neben  seinen  Fachkenntnissen  brachte  er  es  in 
der  deutschen  und  französischen  Sprache  zu  solcher  Vollkommenheit,  dass  ihm 
die  ganz  ungewöhnliche  Ehre  zuteil  wurde,  an  einer  fremden  Universität  sub 
auspiciis  imperatoris  den  Doktortitel  zu  erlangen.  Seit  1887  wirkte  Katona  an 
der  Realschule  zu  Pecs,  kam  1889  an  das  Gymnasium  des  II.  Bezirks  und  an 
das  Franz  Josefs- Institut  nach  Budapest;  er  wurde  1900  Privatdozent  der  ver- 
gleichenden und  1908  Ordinarius  der  ungarischen  Literaturgeschichte  an  der 
Universität  Budapest.     Am  3.  August  1910  verschied  er  plötzlich  und  unerwartet. 


Kleine  Mitteilungen.  87 


'S 


Von  den  drei  Forschungsgebieten,  die  ihn  sein  ganzes  Leben  beschäftigten, 
fällt  die  Volkskunde  vorwiegend  in  die  erste,  die  vergleichende  Literaturgeschichte 
in  die  zweite  und  die  der  mittelalterlichen,  besonders  der  ungarischen  Literatur 
in  die  dritte  Periode  seines  Lebens. 

Schon  seine  Dissertation  lautete  'Über  magyarischen  Folklore,  zur  ver- 
gleichenden Literaturgeschichte'.  Er,  dessen  kerniges  Ungarisch  bewundert 
wurde,  schrieb  schon  früh  ein  elegantes  Deutsch.  In  Pecs  verfasste  er  seine 
schöne  Abhandlung  'Über  die  Volksmärchen'  und  beteiligte  sich  eifrig  an  der 
Gründung  der  Ungarischen  Ethnographischen  Gesellschaft,  deren  Vizepräsident  er 
später  wurde.  In  die  Wiege  legte  er  ihr  eine  vorzügliche  theoretische  Studie: 
'Ethnographia,  ethnologia,  folklore'  betitelt.  Seine  Beiträge  in  den 
'Ethnologischen  Mitteilungen  aus  Ungarn'  und  in  der  'Ethnographia'  legten  den 
Grund  zur  neuen  ungarischen  Mythenforschung,  für  welche  damals  noch  die  in 
Jacob  Grimms  Geiste  geschriebene  Ungarische  Mythologie  tpolyis  massgebend 
war.  Katona  ging  in  seinen  Vorarbeiten  den  Weg,  welchen  Hermann  Usener  und 
Elard  Hugo  Meyer  eingeschlagen  hatten;  die  Aufsätze  blieben  aber  leider  nur 
Vorarbeiten,  ebenso  wie  die  grossangelegte  Studienreihe  über  die  ungarischen 
Märchentypen,  und  es  schmerzte  Katona  zeitlebens,  nicht  die  Müsse  zu  ihrer  Fort- 
setzung und  Zusammenfassung  gefunden  zu  haben.  Es  drängte  ihn  weiter,  und 
überhaupt  war  er  mehr  eine  analytische  denn  synthetische  Natur.  Mit  seiner 
ausserordentlichen  Bescheidenheit  stellte  er  sich  in  den  Hintergrund,  bis  ihn  die 
Kisfaludy-Gesellschaft  zum  Mitherausgeber  ihrer  grossen  Sammlung  der  ungarischen 
Volkspoesie  erwählte.  Ungesehen  unterstützten  seine  Hände,  und  nur  über  die 
zahlreichen  Anmerkungen  des  einen  Märchenbandes  gestattete  er  seinen  Namen  zu 
drucken.  Die  Volkskunde  beschäftigte  ihn  bis  an  sein  Ende.  Ihr  galt  noch  eine 
seiner  letzten  Arbeiten,  der  Aufsatz  über  'Die  Volkspoesie  im  Stoffkreis  der 
Völkerpsychologie'.  Auf  diesem  Gebiete,  wie  auf  dem  der  vergleichenden 
Literaturgeschichte  ist  wohl  jedermann  in  Ungarn  sein  Schüler. 

In  der  vergleichenden  Literaturgeschichte  war  ihm  Reinhold  Köhler  ein  lieber 
Meister.  Oft  sprach  er  von  ihm  und  würdigte  Köhlers  Lebensarbeit  in  einem  ein- 
gehenden Aufsatze.  Er  war  ein  ihm  verwandter  Geist;  auch  Katona  war  ein  weit 
umblickender  Gelehrter,  ein  strenger  Philolog,  ein  Forscher  mit  klarer  und  fester 
Methode.  Bereits  seine  erste  selbständige  Abhandlung  'V  öl  und  der  Schmied 
und  seine  Verwandten  in  der  arischen  Sagenwelt'  (1884)  zeigte,  welchen 
Idealen  er  sich  schon  früh  zuwandte.  Seine  kritische  Ausgabe  der  ungarischen 
Gesta  Ptomanorum,  denen  er  mehrere  Aufsätze  widmete,  ist  ein  Monument 
seines  Wissens.  Seine  strenge  Akribie  tritt  auf  jedem  Blatte  in  Form  von  Be- 
richtigungen zutage,  wie  etwa  in  dem  Hinweis  auf  Unzulänglichkeiten  der  Oester- 
leyschen  Ausgabe.  Seine  deutschen,  französischen  und  lateinischen  Aufsätze  in 
der  Pievue  des  traditions  populaires  (II),  dem  Magazin  für  d.  Lit.  des  In-  und 
Auslandes  (1885—87),  den  Ethnologischen  Mitteil,  aus  Ungarn  (I— III),  der  Keleti 
Szemle  (Die  Legende  von  Barlaam  und  Josaphat  in  d.  ung.  Lit.  I,  76. 
Die  Lit.  der  magyarischen  Volksmärchen  1901,  138.  283 ff.  Zum  Märchen 
von  der  Tiersprache  1901,  4511'.),  in  den  Opuscules  de  critique  historique  (1!»04), 
der  Beilage  zur  Allg.  Zeitung  (1900,  30.  Mai;  1904,  Nr.  225;  1906  Nr.  199)  u.  a. 
besonders  in  der  Zeitschrift  und  in  den  Studien  für  vergleichende  Literatur- 
geschichte, brachten  ihn  auch  den  deutschen  Forschern  nahe.  Ausser  vielen 
verschiedenen  Beiträgen,  von  denen  eine  der  letzten  die  feine  Studie  über  'Die 
ungarischer  Cymbeline-Märchen  und  ihre  Verwandten'  ist,  sind  seine 
theoretischen,    namentlich    methodologischen  Schriften    über  Liteniturvergleichung, 


88  Gragger,  Eolte,  Storck: 

Aufgaben    der  vergleichenden  Literaturgeschichte,    Sammlung    und    Einteilung    der 
Volksmärchen,  über  Märchentypen  u.  a.  besonders  hervorzuheben. 

Mit  der  Zeit  widmete  Katona  sein  vielseitiges  Wissen  immer  intensiver  der 
Erforschung  der  mittelalterlichen  Literatur.  Was  er  auf  diesem  Gebiete  für  die 
ungarische  Literaturgeschichte  tat,  zeigt  in  voller  Grösse  den  Verlust,  den  dieses 
Studium  durch  sein  Hinscheiden  erlitt.  Eine  ganze  Reihe  von  Quellenstudien 
haben  das  Bild  der  ältesten  ungarischen  Literatur  durch  seinen  Hinweis  auf  inter- 
nationale Zusammenhänge  in  neues  Licht  gestellt.  Um  nur  einige  Resultate  zu 
erwähnen:  er  entdeckte,  dass  in  der  Legende  des  Sandor  Codex  eigentlich  eine  Über- 
setzung von  Hrotsuithas  Dulcitius  steckt  (das  älteste  ungarische  Drama),  dass  die 
Psalmen  des  Festetich-Codex  eine  Übersetzung  von  Petrarcas  Pönitenz- Psalmen  sind. 
Mit  bewunderungswürdiger  Kenntnis  der  mittelalterlichen  Legendare  und  Parabel- 
bücher hat  Katona  die  Quellen  oder  Zusammenhänge  der  meisten  ungarischen  Codices, 
und  besonders  die  der  Legenden  des  hlg.  Franz  von  Assisi  und  St.  Dominicus 
nachgewiesen.  Von  der  grossen  Verslegende  der  hlg.  Katharina  von  Alexandrien 
zeigte  er,  dass  sie  nicht,  wie  man  annahm,  vom  bekannten  Prediger,  Pelbartus 
de  Temesvär  verfasst  sein  kann,  und  stellte  ihr  Verhältnis  zu  den  lateinischen 
Varianten  klar;  eines  seiner  Hauptwerke  galt  den  Parabeln  des  Pelbartus. 
Aus  den  mittelalterlichen  Studien  entstand  als  ein  Werk  der  liebevollen  Hingabe, 
die  schöne  Biographie  Petrarcas  in  dem  feinziselierten  Stil  Katonas.  —  Schon 
begann  er  das  gross  angelegte  Werk,  die  parallele  Neuausgabe  der  ungarischen 
Sprachdenkmäler  mit  ihren  Quellen  und  Varianten  in  Druck  zu  geben;  ihr  Aus- 
bleiben ist  zurzeit  einer  der  unersetzlichsten  Verluste,  welche  die  Forschung  durch 
Katonas  Tod  erlitt.  Zu  einer  geplanten  Zusammenfassung  kam  es  auch  in  der 
Geschichte  der  Literatur  nicht  mehr.  Katona  begann  wohl  einen  Abriss  der 
ungarischen  Literaturgeschichte  für  die  Sammlung  Göschen,  aber  auch  davon 
wurden  nur  die  ersten  schönen  Kapitel  fertig.  Mitten  in  einer  Fülle  von  be- 
gonnenen Arbeiten  fiel  ihm  die  Feder  aus  der  Hand. 

Nur  zwei  Jahre  war  Katona  Ordinarius,  aber  schon  als  Privatdozent  hat  er 
für  die  Volkskunde  und  die  vergleichende  Literaturgeschichte  mit  seiner  tief- 
schauenden psychologischen  Methode  und  feiner  ästhetischer  Wertung  eine 
Generation  herangezogen,  die  auf  seinen  Spuren  wohl  auch  eine  Furche  in  den 
Acker  ziehen  wird.  Ein  irdisches  Weiterleben  in  liebevollem  Andenken  aller,  die 
ihn  kannten,  die  gesicherte  Fortentwicklung  eines  wissenschaftlichen  Gebietes 
durch  seine  Wirksamkeit,  das  schönste  was  nach  einem  rast-  und  hastlosen,  weisen 
Leben  bleiben  kann,  hat  der  so  früh  Verschiedene  hinterlassen. 

z.  Z.  Berlin.  Robert  Gragger. 

Eine  Gesellschaft  für  Volkskunde  in  Chile. 

Aus  Santiago  kommt  die  erfreuliche  Kunde,  dass  dort  vor  einem  Jahre  unter 
dem  Vorsitze  unsres  gelehrten  Landsmannes  Dr.  Rudolf  Lenz  eine  Gesellschaft 
für  chilenische  Volkskunde  begründet  worden  ist,  welche  nicht  nur  ein  Programm, 
sondern  bereits  auch  wertvolle  wissenschaftliche  Veröffentlichungen  aufzuweisen 
vermag1).     Gerade  Lenz,    der  durch    seine  langjährigen,   gründlichen  Forschungen 

1)  Programa  de  la  Sociedad  de  folklore  chileuo,  presentado  a  los  miembros  actuales  i 
i'uturos  por  R.  Lenz.  Santiago  de  Chile,  Lourdes  1!)09.  24  S.  —  Revista  de  la  Sociedad 
de  folklore  chileno  1,  Heft  3  —  4:  R.  A.  Laval,  Oraciones,  ensalnios  i  conjuros  del  pueblo 
chileno  comparados  con  los  que  se  dicen  en  Espana.  Santiago,  Cervantes  1910.  S.  TT  bis 
-' '--  —  J.  Vicufia  Cifuentes,  Mito>  j  supersticiones  recogidos  de  la  tradicion  oral. 
1.  serie:  Mitos.  .Santiago,  Lnprenta  univcrsitaria  1910.    •"><'>  S. 


Kleine  Mitteilungen.  ,S*$ 

über  die  chilenische  Volkspoesie  (Festschrift  für  Tobler  1895)  und  Sprache  (Zs.  f. 
roman.  Phil.  17,  188)  und  über  die  Sprache  und  Märchen  der  Araukaner  (Anales  dc- 
la  universidad  de  Chile  18i»5— 97.  Araukanische  Märchen  und  Erzähluniren  1896. 
Diccionario  etimolöjico  1905 — 10)  Licht  über  die  Kultur  dieses  tüchtigen  Misch- 
volkes verbreitet  hat,  war  vermöge  seiner  Vertrautheit  mit  Land  und  Leuten  und 
seiner  steten  Berührung  mit  der  europäischen  Wissenschaft  der  rechte  Mann  für 
diese  Stellung.  So  verdient  auch  der  Arbeitsplan  der  Gesellschaft,  der  nicht  nur 
die  poetische  und  prosaische  Volksliteratur,  sondern  auch  Musik,  Tanz,  bildende 
Kunst,  Brauch,  Glaube  und  Volkssprache  berücksichtigt,  volle  Zustimmung.  Zur 
Einführung  in  die  neue  Wissenschaft  gibt  Lenz  einen  Auszug  aus  Kaindls  "Volks- 
kunde' (1903)  und  eine  Anleitung  zu  phonetischer  Wiedergabe  der  Mundart. 
Aus  der  Zeitschrift  der  Gesellschaft  liegt  uns  eine  Sammlung  von  gereimten 
Gebeten,  Segen  und  Beschwörungen  vor,  in  welcher  der  Herausgeber  R.  A.  Laval 
durch  Verweise  auf  die  spanischen  Werke  von  Caballero,  Marin,  Menendez  u.  a. 
den  engen  Zusammenhang  mit  dem  Mutterlande  betont.  Neben  den  Gebeten  an 
Jesus,  Maria  und  die  Heiligen  erscheinen  auch  Parodien,  S.  150  eine  hübsche  Litanei 
der  heiratslustigen  Mädchen.  Zu  dem  Dialog  zwischen  Maria  und  Apollonia 
S.  149,  der  kein  Gebet,  sondern  ein  Segen  wider  Zahnschmerzen  ist,  verweise  ich 
auf  R.  Köhler,  Kleinere  Schriften  •'!,  548.  S.  1G8  stehen  drei  geistliche  und  eine 
weltliche  Deutung  der  heiligen  Zahlen  1 — 12,  die  sich  den  oben  11,  392  s.  404" 
ausführlicher  besprochenen  Versionen  anreihen.  —  Dominiert  hier  durchaus  der 
Einfluss  des  christlichen  Spaniens,  so  finden  wir  bei  J.  Vicuna  Cifuentes.  der 
die  chilenischen  Sagen  von  fabelhaften  Land-  und  Seetieren,  Drachen,  Basilisken, 
Gespensterschiffen,  Zauberern,  Teufeln,  Kobolden  und  Hausgeistern  aufzeichnet, 
auch  einzelne  Gestalten  des  indianischen  Volksglaubens:  ein  fliegendes  Menschen- 
haupt (Chonchön),  einen  Wasserhund,  Polypen,  Schlangen  mit  araukanischen  Namen. 

Berlin.  Johannes  Bolte. 


Nachträge  zu  dem  Spruch  der  Toten  au  die  Lebeuden. 

(Oben  S.  53-6:'..) 

Während    der  Drucklegung    des  obigen  Aufsatzes  sind  mir   folgende  Zusätze 
bekannt  geworden. 

130.  Grabsclirift  (9.  Jh.).  Perpendens  ex  me  tua  fata:  Quod  es,  fueram  iam 

Fratres,  quod  estis,  fuimus:  quod  su-  Et  tu,  quod  sum  nunc,  incipis  esse  cito, 

mus,  eritis;  mementote  nostri.  (Ebenda  2.  124. 
(.Blätter  f.  d.  bayer.  Gymnas.  31,  553.) 

133.  Epitaph  (13.  Jh.). 

131.    Carmina  Salisburgensia  (9.  Jh.).  Sum  quod  eris,  quod  es  ipse  i'ui;  meta- 

Tu  quod  es  ipse  fui,  tu  nunc  perpende  morphosis  ista 

viator  Humanis  rebus  subdere  colla  vetat. 

Communem  et  niecum  commiseresce  (Paris,  Bibl.  nat.  ms.  lat.  15133,  f.  39,  2  = 

vicem.  Haureau,    Notices    et  extraits    de  quelques 

Mon.  Germ,  hist,  Poetae  lat.  med.  mss.  latius    1,  285.    1892.) 
aevi  2,  640.) 

134.    Wieck  bei   Greifswald,    Kirch''.     Grab- 

132.  Walahfridus,   Carmina  (9-  Jh.).  schrift  eines  Johannes  de  Ri  .  .  v.J.  L290. 

Huc  veniens  petiturus,  oro,  subsiste  viator,  |V]os  qui  transitis  d 


»o 


Storck,  Kopp,  Reichhardt,  Schnippel: 


[Quod  sum|us,  hoc  eritis,  fuimus  q[uandoque 

quod  estis.] 

(Ei  v.   Haselberg,  Baudenkmäler  des  R.  B. 

Stralsund  1881-1902  S.  172.  —  Vgl.  oben 

Nr.  138  und  (58.) 

L35.  Santarem,  Kirche  S.  Joiio  de  Alporäo. 
Grabmal  eines  Malteser  Grossmeisters. 

Quisquis  ades  qui  morte  cadis,  perlege, 

plora : 
Sum  quod  eris,  fueram  quod  es,  pro  me, 

prec.or,  ora. 

Soares  da  Silva,  Memorias  para  a  bistoria 

de  Portugal  2,    (520  =  J.  Leite  de  Vascon- 

eellos,    Ensaios    ethnogiaphicos  3,   354.    — 

Vgl.  oben  Nr.  62  und  75.) 

136.  Nordhausen,  Epitaph. 
Sta  Viator,  audi,  dum  te  alloquor, 
Et  disce,  sed  a  mortuo: 
Nosse  me,  nosse  te. 
Non  sum  quod  fui, 
Tu  eris  quod  non  es. 
Tu  quod  es,  ego  fui, 
<,»uod  ego  sum,  tu  eris, 
Et  quoniam  nosti  quis  fuerim 
Cogita,  quid  futurus  ipse  sis: 
Uterque  pulvis,  cinis,  nihil. 
Vixi  ut  moriturus,  ut  viverem  moriens. 
Fac  quod  tuum  est.     Abi  et  vale. 
(Kindervater,  Nordhausa  illustris  1715  S.13.) 

137.    Thomasin  von  Zercläre,    Der 

welsche  Gast  v.  12  041: 
Swer  die  hohvart  schiuhen  wil, 
der  sol  daran  gedenken  vil, 
waz  er  was  und  waz  er  si. 
er  sol  ouch  gedenken  da  bi, 
waz  üz  im  werden  sol. 
wil  er  das  gedenken  wol. 

138.  Colmar,  Museum  (Grabstein  von  1606). 
Frog  nit  noch  mir,  wer  ich  bin  gewesen, 
>lenck  wer  dv  bist  vnd  avch  wirst 
werden. 

!  »er  edel  vnd  vest  ruodolf  von  ruost,  md.  c  vj. 
Kraus  2,  2  =  Mündel,  Haussprüche  und 
Inschriften  im  Elsass   L883  S.  (17.) 

139.    l'ster   (Kanton   Zürich),    Grabschrift 

(1625.) 
Die  vor  mir  gseyn,  der  tod  gmacht  hat, 
Wie  ich  jetzt  bin  an  dieser  Statt: 


Also  du  werden  wirst  zugleich. 
Die  Seel  die  lebt  im  Himmelreich. 
(Sutermeister,   Schweizerische  Haussprüche 
1860  S.  63.) 

140.  Im  Politischen  Stock-Fisch  (Frö- 
lichs-Burg  1724  S.  57)  bringt  ein  Edelmann 
einer  Jungfer  aus  Paris  statt  des  ge- 
wünschten Spiegels  einen  gemalten  Toten- 
schädel mit,  dessen  Inschrift  lautet:  Fleuch 
die  Eitelkeit!  Was  ich  bin  bereit,  Wirst 
du  mit  der  Zeit  durch  die  Ewigkeit. 

(Köhler  2,  35.) 

141.  Niederlande,  häufige  Grabschrift. 

Wat  gij  nu  zijt,  was  ik  voor  dezen, 
Wat  ik  nu  ben,  zult  gij  eens  wezen. 
(J.  van  Lennep  en  J.  ter  Gouw,  Het  boek 
der  opschriften  1869  S.  159.) 

142.    Belgien,    Grabschrift: 

Gelyk  gy  syt  was  ik  voordesen, 
Gelyk  ik  ben  suldy  haest  wesen. 

(Ebenda  S.  160.) 

143.  Gent,  St.  Bavo-Kirche.     Grabmal  des 
Gheeraert  van  Hoyen    (f  1517)   und  seiner 

Frau. 
Peyst  dat  wi  waren  wat  gi  nu  sijt, 
Ende  gi  sult  worden  wat  wi  nu  sijn. 

(Ebenda  S.  160.) 

144.  Gil  Vicente  (f  1557, 
Pergunta-me  quem  fui  eu, 
Attenta  bem  pera  mi, 
Porque  tal  fui  conia  ti, 
E  tal  has  de  ser  com'  eu. 

(Gil  Vicente,  Obras  3,  391.) 

145.    Portugiesischer  Spruch. 

Hörnern  que  vaes  passando, 

Volta  aträs  e  vem-me  ver: 

Eu  j;i  fui  o  que  tu  es, 

0  que  eu  sou  tu  has-de  ser. 

(Pinto  de  Carvalho,  Historia  do  fado  1903 

p.  107  =  J.  Leite  de  Vasconcellos,  Ensaios 

ethnographicos  ■">.  353.  1906.) 

146.    Portugal,    Grabschrift. 

O'tu,  mortal,  que  me  v§s, 
Repara  bem  como  estou: 


Kleine  Mitteilungen.  '.'1 


Lö 


Eu  ja  foi  o  que  tu  es,  ihr  diese  Zeichen    sehet,    Brüder,    ich    war 

E  tu  seras  o  que  e'u  sou.  wie  ihr,  und  ihr  werdet  sein  wie  ich. 

(J.  Leite  de  Vasconcellos  :;,  355.)  (Truhelka,     Wissenschaftl.    Mitteilungen 

aus  Bosnien  und  der  Hercegoviua  .">,  290. 

147.    Podubovac  bei  Prilek  (Bosnien).  1807.     —     Eine    ähnliche    Inschrift    aus 

Grabstein  mit  altbosnischer  Inschrift.  Radmilovic-Dubrava  ebd.  5,  288.) 
Hier  liegt  Zagorac  Brajanovic.    Brüder,  die 

Nicht  zugänglich  waren  mir:  Het  dobbel  Kabinet  der  Christelyke  Wysheid  (Gent  um 
174i»  uud  W.  Fairly,  Epitaphiana  Nr.  14.  290.  326. 

Heidelberg.  Willy   F.   Storck. 

Zum  Liede  'Was  braucht  man  im  Dorf." 

(Oben  13,  224.) 

Das  Britische  Museum  besitzt  einen  beachtenswerten  Einzeldruck  des  Liedes 
'Was  braucht  man  im  Dorf:  Drey  schöne  Weltliche  Lieder,  Das  erste.  Ein 
kurtzweiliges  Gespräch  zweyer  Steyrischen  Bauern,  welche  sich  beratschlaget, 
was  sie  in  ihrem  Dorff  brauchen  .  .  .  Gedruckt  in  diesem  Jahr.  (4  Bl.  8°  o.  0.  u.  J. 
11  517  bbb  12.)  Das  erste.  Was  braucht  mä  in  unsern  Dorff,  ein  gnädige  Herr- 
schafft die  ist  reich,  ein  Richter  der  ist  gscheid,  ein  Pfleger  der  nit  gar  grob  strafft, 
und  uns  fein  nicht  ums  unsere  brächt,  das  braucht  mä  in  unsern  Do  ho  ho  orff.  20  Str. 

Marburg   i.  H.  Arthur  Kopp. 

Vom  Notfeuer. 

(Vgl.  oben  8,  307.  9,  66.  11,  216.) 

Notfeuer  bei  Schweineseuchen  brannte  man  in  Nordthüringen  noch  in  den 
vierziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  ab.  Der  Stellmachermeister  Krug  aus 
Gudersleben  erzählte  mir,  dass  man  in  seiner  Jugend  dort  bei  der  Rotlaufseuche 
trockenes  Tannenholz  auf  einen  Haufen  geschichtet  habe,  der  in  einem  Hohlweg 
abgebrannt  wurde.  Durch  den  Rauch  habe  man  dann  die  noch  gesunden  Schweine 
in  der  Gemeinde  getrieben,  um  sie  vor  der  Seuche  zu  schützen.  Man  habe  aber 
besonders  darauf  geachtet,  dass  das  Notfeuer  nicht  durch  Herdfeuer,  sondern  durch 
'wildes  Feuer'  erzeugt  wurde.  Zu  diesem  Zwecke  habe  man  in  der  Schmiede  einen 
kalten  Hufnagel  durch  unausgesetztes  Hämmern  warm  und  zuletzt  glühend  gemacht. 
Mit  dem  glühend  gewordenen  Nagel  habe  man  einen  Strohwisch  entzündet  und 
unter  den  Tannenholzstoss  geschoben.  Die  Bearbeitung  des  Nagels  zum  glühenden 
Zünder  habe  ich  mir  hierauf  in  der  Schmiede  zu  Günzerode  vorführen  lassen  und 
an  dem  brennend  rot  gewordenen  Nagel  mir  meine  Zigarre  angezündet.  Ich  habe 
in  der  von  mir  durchforschten  Literatur  über  'wildes  Feuer'  die  Entzündung  durch 
Quirlen,  Reiben,  Bohren,  Feuerstahl  gefunden,  nicht  aber  in  der  oben  erwähnten 
Weise  durch  Glühendmachen  eines  kalten  Nagels. 

Rotta  bei  Kemberg.  Rudolf  Reichhardt. 


Heilkraft  der  Toteuhand. 

Durch  ein  unliebsames  Versehen,  das  wohl  auf  mein  Augenleiden  zurück- 
zuführen ist,  hat  sich  oben  20,  398  ein  Druckfehler  eingeschlichen.  Nicht  dem 
Totenhemd,    sondern  der  Totenhand  wurden  allerlei  Heilkräfte  zugeschrieben. 

Osterode,   Ostpr.  Emil  Schnippel. 


92  Feist,  Samter; 


Bücheranzeigen. 


Georg  Wilke,  Spiral -Mäander- Keramik  und  Geiassmalerei.  Hellenen 
und  Thraker.  Darstellungen  über  früh-  und  vorgeschichtliche  Kultur, 
Kunst  und  Völkerentwicklung,  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Gustaf 
Kossinna.  1.  Heft.  AVürzburg,  Curt  Kabitzsch  (A.  Stubers  Verlag)  1910. 
84  S.  gr.  8°.    Einzelpreis  4,50  Mk.,  Subskr.-Preis  3,60  Mk. 

Der  Verfasser  setzt  im  vorliegenden  Heft  die  Studien  fort,  die  er  in  mancherlei 
Aufsätzen,  zuletzt  im  Jahre  1909  im  Archiv  für  Anthropologie  S.  299  ff.  (Neolithische 
Keramik  und  Arierproblem)  veröffentlicht  und  auch  in  einem  Vortrag  in  der 
Gesellschaft  für  Vorgeschichte  zu  Berlin  entwickelt  hatte,  in  der  Hauptsache 
wird  man  ihm  nicht  so  leichten  Herzens  zustimmen  können.  Er  leitet  nicht  nur, 
wie  es  Carl  Schuchardt  ebenfalls  tut,  die  schnür-  und  bandkeramische  Ver- 
zierungsweise aus  der  Nachahmung  der  Korbflechterei  her,  sondern  nimmt  den 
gleichen  Ursprung  auch  für  die  Spirale  und  den  Mäander  an.  um  die  zum  Teil 
recht  komplizierten  Muster,  die  wir  auf  prähistorischen  Tongefässen  finden,  zu  er- 
klären, stellt  er  seine  Verschiebungstheorie  auf,  nach  der  die  verschiedenen 
Spiralmuster,  die  Voluten  usw.  durch  die  gegenseitige  Verschiebung  zweier  Teile 
mit  sich  ergänzenden  konzentrischen  Halbkreisen  oder  Winkelmustern  zustande 
gekommen  wären.  Ein  so  ausgetifteltes  Verfahren  können  wir  aber  bei  ruhiger 
Überlegung  wohl  von  einem  Gelehrten  zwischen  1900  und  2000  nach  Christus, 
nicht  aber  von  den  Steinzeitleuten  um  dieselbe  Zeit  vor  Christus  erwarten.  Neben 
den  nordeuropäischen  schnurkeramischen  Stil  und  den  mitteleuropäischen  Spiral- 
Mäander-Stil  stellt  Wilke  die  südosteuropäische  bemalte  Keramik.  Dagegen  wäre 
nun  nicht  viel  einzuwenden,  obwohl  die  scharfen  Kulturgrenzen  zwischen  ihnen, 
die  Wilke  sehen  will,  nicht  vorhanden  sind.  Die  Schnurkeramik  greift  nach 
Mitteldeutschland  über,  und  bemalte  Gefässe  kann  man,  wenn  auch  nicht  so 
kunstvoll  ausgeführt,  wie  die  südosteuropäischen,  vielfach  in  Mitteleuropa  finden; 
ich  sah  sie  z.  B.  im  Prähistorischen  Museum  in  München  aus  dem  Alpenvorland. 
Das  ist  Wilke  auch  nicht  unbekannt.  Aber  aufs  energischste  muss  ich  gegen  die 
von  Wilke  bevv eislos  vorgenommene  Gleichsetzung  seiner  Dekorationskreise  mit 
indogermanischen  Völkern  protestieren.  Wo  die  Indogermanen  um  2000  v.  Chr. 
sassen,  weiss  kein  Mensch  mit  Sicherheit  zu  sagen,  ausser  vielleicht  Prof.  Kossinna 
und  seine  Anhänger.  Aber  auch  bei  diesem  haben  sie  sich  im  Laufe  der  Zeit 
verschiedene  Verpflanzungen  gefallen  lassen  müssen.  Im  Jahre  1895  waren  sie 
(nach  einem  Aufsatze  in  dieser  Zeitschrift)  in  Ungarn  ansässig,  1902  waren  sie  in 
die  westbaltischen  Länder  verzogen  und  1908  mussten  sich  die  bedauernswerten 
indogermanen  wiederum  eine  teilweise  Verpflanzung  nach  Ungarn  (Lengyel)  ge- 
fallen lassen.  Wenn  aber  Kossinna  nur  die  Nord-  und  Süd -Indogermanen  zu 
trennen  weiss,  kann  Wilke  uns  aufs  genaueste  sagen,  dass  im  nordischen  Megalith- 
kreise die  Heimat  der  Germanen,  im  monochromen  Spiral-Mäanderkreis  diejenige 
der  Griechen,  Illyriker,  Italiker  und  Kelten,  im  Kulturkreis  der  bemalten  Keramik 
die  Urheimat  der  asiatischen  Arier  und  Thrako-Phrygen  war.  Letztere  bilden  mit 
dem  baltisch-lettischen  Formenkreis,    der  nicht    näher    definiert  wird,    die  Gruppe 


Bücheranzeigen.  93 

der  Satemvölker,  die  beiden  ersten  die  der  Kentumvölker.  Die  Armenier  ver- 
schwinden freilich  bei  dieser  Einteilung  ganz  in  der  Versenkung,  was  sie  hoffentlich 
mit  Gleichmut  ertragen  werden.  Bemerkenswert  ist.  dass  Kossinna  zu  einer  ganz 
anderen  Einteilung  gelangt;  nach  ihm  sind  die  Schnurkeramiker  die  Kentumvölker, 
die  Bandkeramiker  die  Satemvölker.  Um  sich  nun  mit  Kossinna  einigermassen 
zu  versöhnen,  schlägt  Wilke  vor,  in  den  Bandkeramikern  'nordindogermanisierte 
Satemieute'  (arme  Bastarde!)  zu  sehen,  wodurch  die  bemalte  Keramik  für  die 
Südindogermanen  frei  würde.  Durch  mancherlei  übereinstimmende  Funde  und 
die  gleiche  Bestattungsweise  sucht  Wilke  einen  Zusammenhang  zwischen  der 
Kultur  der  Völker  des  nördlichen  und  südöstlichen  Europa  in  ältester  Zeit  nach- 
zuweisen. Diesen  Zusammenhang  wird  man  ihm  ohne  Vorbehalt  zugeben  können. 
Nur  wird  er  wieder  in  ganz  unzulässiger  Weise  mit  dem  Indogermanenproblem 
verquickt,  wobei  Wilke  von  unbewiesenen  Prämissen  ausgeht.  So  lesen  wir  auf 
S.  73:  „In  der  ältesten  Periode,  die  wir  bis  weit  in  das  4.  Jahrtausend  zurück  ver- 
legen müssen,  wird  Thessalien  und  Böotien  von  einer  Bevölkerung  bewohnt,  deren 
noch  rein  geometrische  monochrome  Keramik  der  des  südlichen  Mittel-  und  Ost- 
europas auf  das  allernächste  verwandt  ist.  Waren  die  Bewohner  dieser  Länder 
indogermanischer  Rasse  (woher  wissen  wir  das?),  so  dürfen  wir  daher  auch  den 
ältesten  Bewohnern  Nordgriechenlands  die  gleiche  Herkunft  zuschreiben."  —  Aber 
selbst  die  unbewiesene  Voraussetzung  zugegeben,  wäre  die  Folgerung  noch  lange 
nicht  berechtigt.  Kulturprodukte  und  Sitten  wandern  von  Volk  zu  Volk  und  haben 
mit  der  Rasse  nicht  das  mindeste  zu  tun.  Will  man  z.  B.  aus  dem  Vorkommen 
von  chinesischem  Porzellan  in  Europa,  das  zuerst  importiert  und  dann  nach- 
gemacht wurde,  schliessen,  die  Europäer  seien  mit  den  Chinesen  rasseverwandt? 
Vergleichen  wir  ihre  Skelette,  ohne  die  äusseren  Merkmale  (Hautfarbe,  Augen- 
stellung usw.)  zu  berücksichtigen,  so  würden  sich  kaum  grosse  Verschiedenheiten 
ergeben.  In  dieser  Lage  aber  befinden  wir  uns  allen  prähistorischen  Funden  und 
Skelettresten  gegenüber,  deren  einstige  äusserlichen  Merkmale  uns  ja  unbekannt 
sind.  Bloss  auf  die  Langschädligkeit  hin  in  zwei  ganz  entfernt  liegenden  Bezirken 
Urverwandtschaft  der  vorgeschichtlichen  Bevölkerung  anzunehmen,  wie  es  Kossinna 
und  seine  Anhänger  tun,  ist  wissenschaftlich  unhaltbar.  Die  meisten  vorgeschicht- 
lichen Kulturen  sind  eben  für  uns  vorläufig  anonyme;  ihre  Träger  können  wir 
nur  dann  mit  Bestimmtheit  namhaft  machen,  wenn  uns  historische  Nachrichten 
über  sie  erhalten  sind  oder  wenn  sie  so  weit  vom  Strome  des  Verkehrs  abseits 
wohnen,  dass  auch  in  fernster  Vorzeit  eine  Völkermischung  ausgeschlossen  er- 
scheinen muss.  Aber  wie  will  man  auf  vieldurchwandertem  Boden,  zumal  im 
südöstlichen  Europa,  mit  Sicherheit  in  einer  prähistorischen  Epoche  ein  bestimmtes 
Volk  nachweisen?  Was  für  ein  Unfug  wird  doch  immer  noch  mit  dem  rein 
sprachlichen  Begriff  des  Indogermanentums  von  manchen  Anthropologen  und 
Prähistorikern  getrieben!  Wann  wird  die  Zeit  kommen,  in  der  man  auch  bei 
diesen  reinlich  scheiden  wird  zwischen  sprachlichen  und  vorgeschichtlichen  Tat- 
sachen, die  sich  nicht  zusammenbringen  lassen? 

Berlin.  Sigmund  Feist. 

K.  H.  E.  de  Jong,  Das  antike  Mysterienwesen  in  religionsgeschichtlicher, 
ethnologischer  und  psychologischer  Beleuchtung.  Leiden,  E.  J.  Brill 
1909.     X,  362  S.     9  Mk. 

De  Jong  gibt  zunächst  eine  Zusammenstellung  unserer  Kenntnisse  von  den 
eleusinischen  Mysterien  wie  denen  der  Isis-  und  Mithrasmysterien.  Er  nimmt 
—  gegen  Anrieh  —  an,    dass    der    Kult    der    christlichen   Kirche    vieles    aus    den 


;>4 


Samter: 


eleusinischen  Mysterien  entlehnt  habe.  Gegen  Cumont  bezweifelt  er  die  grosse 
Popularität  des  Mithrasdienstes,  und  er  hält  eine  bewusste  Entlehnung  durch  das 
Christentum  für  unwahrscheinlich.  Der  Isisdienst  dagegen  stand  nach  seiner  An- 
sicht dem  Christentum  näher  und  hat  grossen  Einfluss  auf  dasselbe  geübt,  der 
Kampf  des  Christentums  mit  dem  Isisdienst  war  schwieriger  als  mit  dem  Mithras- 
dienste  oder  anderen  Kulten. 

De  J.  meint,  die  bisher  gegebenen  Erklärungen  gewährten  keinen  genügenden 
Aufschluss  darüber,  wodurch  die  feste  Hoffnung  auf  ein  seliges  Jenseits  bei  den 
Mysten  erweckt  sei;  er  will  zeigen,  dass  die  mystischen  Zeremonien  einen 
magischen  Charakter  tragen.  Um  dies  zu  erweisen,  handelt  er  zunächst  von  den 
magischen  Elementen  in  der  ägyptischen  Religion.  Bei  der  Erörterung  der 
magischen  Kunststücke  der  Priester  kommt  er  auf  die  angeblichen  Leistungen 
spiritistischer  Medien  zu  sprechen.  Er  wendet  sich  dabei  gegen  A.  Lehmann. 
Dieser  hatte  in  seinem  Buche  'Aberglaube  und  Zauberer  bemerkt,  die  in  Cambridge 
erfolgte  Entlarvung  des  Mediums  Eusapia  Paladino  bezeichne  einen  Wendepunkt, 
in  der  Geschichte  des  Spiritismus;  wenn  die  Spiritisten  bis  dahin  darauf  hinweisen 
konnten,  dass  es  doch  ein  physikalisches  Medium  gebe,  dessen  Leistungen  die 
Forscher  trotz  aller  Sicherheitsmassregeln  vor  Betrug  nicht  erklären  könnten,  so 
sei  es  nach  dessen  Entlarvung  klar,  dass  es  trotz  aller  derartigen  Massregeln  für 
einen  gewandten  Taschenspieler  doch  möglich  sei,  selbst  tüchtige  Beobachter  eine 
Zeitlang  zu  täuschen,  daher  hätten  alle  diese  physikalischen  Leistungen  jedes 
wissenschaftliche  Interesse  verloren.  Diesen  Äusserungen  Lehmanns  gegenüber 
hält  de  Jong  die  Wirklichkeit  der  spiritistischen  Leistungen  jenes  Mediums  noch 
nicht  für  abgetan,  da  noch  nach  der  Entlarvung  Eusapia  unter  verschärfter  Kon- 
trolle dieselben  Leistungen  vollbracht  habe.  Als  Beweis  hierfür  druckt  er  den 
Rapport  der  Kommission  ab,  die  nach  der  Entlarvung  Eusapias  Leistungen  ge- 
prüft hat.  Diese  Darlegung  de  Jongs  erscheint  etwas  seltsam.  Daraus,  dass  ein 
einmal  entlarvtes  Medium  bei  seinen  Versuchen  einmal  oder  mehrere  Male  nicht 
entlarvt  wird,  kann  man  doch  keinerlei  Schlüsse  auf  seine  Ehrlichkeit  ziehen,  — 
hier  um  so  weniger,  als  auch  die  zugunsten  Eusapias  berichtenden  Beobachter 
am  Schluss  des  Berichtes  sagen,  sie  hätten  das  Medium  niemals  auf  frischer  Tat 
beim  Betrüge  ertappt,  obgleich  sie  bisweilen  verdächtige  Bewegungen  bemerkt 
hätten.  Wenn  aber  auch  de  Jong  es  als  keineswegs  von  vornherein  unwahr- 
scheinlich bezeichnet,  dass  die  alten  Priester  gleichwie  von  mechanischen,  so  auch 
von  physiologischen,  oder  sogar  psychischen  Kräften,  welche  der  Menge  unerklär- 
lich waren,  Kenntnis  besassen,  so  glaubt  er  doch,  dass  die  'mediumistischen'  Er- 
scheinungen zwar  zur  Erklärung  von  sporadisch  oder  doch  unregelmässig  auf- 
tretenden Tatsachen  herangezogen  werden  können,  bei  den  'Wundern'  aber,  die 
in  Ägypten  oder  anderswo  öfters  und  regelmässig  stattfanden,  Betrug  voraus- 
auszusetzen sei. 

Zur  Vorbereitung  magischer  Handlungen  gehören  Reinigungen  sowie  allerlei 
Enthaltsamkeit  von  Speisen,  Getränken  und  Geschlechtsgenuss,  zu  ihrer  Aus- 
führung allerlei  Mittel,  wie  Barfüssigkeit,  Bekränzung,  Lärmen,  rote  Farbe, 
Zaubersprüche,  wofür  de  Jong  umfassende  Belege  von  Natur-  und  Kulturvölkern 
zusammenstellt.  De  Jong  weist  darauf  hin,  dass  dieselben  Riten  wie  beim  Zauber 
uns  vielfach  auch  in  den  Mysterien  begegnen,  und  kommt  zu  dem  Schluss.  die 
Identität  zwischen  Magie  und  Mysterien  rücksichtlich  des  Zeremoniells  und  des 
Zwecks  sei  derart,  dass  ein  Unterschied  nur  insofern  obwalte,  als  diese  von 
einzelnen,  jene  von  mehreren  vollzogen  würden.  Dieser  Schluss  scheint  mir  wenig 
zwingend.     Zwischen  Zauber   und    religiösem  Brauch    lässt  sich  eine  feste  Grenze 


Bücheranzeigen.  M;> 

überhaupt  nicht  ziehen.  Die  besprochenen  Riten,  die  beim  Zauber  zur  Anwendung- 
kommen, sind  dieselben,  mit  denen  man  sich  überhaupt  an  Götter  und  Dämonen 
wendet,  daraus  folgt  keineswegs  umgekehrt,  dass  man  alle  Fälle,  wo  diese  Riten 
im  Mysterienkult  begegnen,  als  Magie  bezeichnen  darf,  —  wenn  man  nicht  gerade 
diesen  Begriff  so  weit  fasst,  dass  er  mit  Religion  identisch  wird.  —  Bei  der  Be- 
sprechung der  Nachricht,  dass  beim  Bacchosfeste  in  Elis  sich  leere  Kessel  mit 
Wein  gefüllt  und  in  Aigai  in  einem  Tage  Weinstöcke  Trauben  zur  Reife  gebracht 
hätten,  erörtert  er  die  Ansicht  moderner  Spiritisten,  dass  durch  magnetische  Ein- 
wirkung ein  forciertes  Pflanzenwachstum  möglich  sei.  Er  will  —  mit  E.  v.  Hart- 
mann —  die  Möglichkeit  einer  Beschleunigung  des  Pflanzenwuchses  nicht  von 
vornherein  geradezu  leugnen,  meint  aber  ähnlich  wie  in  dem  oben  angeführten 
Falle  — s  bei  regelmässig  wiederkehrenden  Pesten  sei  dergleichen  schwerlich  an- 
zunehmen, abgesehen  davon,  dass  die  Notizen  über  das  Traubenwunder  bei  den 
Dionysosweihen  mehr  auf  dichterische  Sagenbildung  als  auf  authentische  Nach- 
richten hindeuteten  und  sich  das  'Wunder'  überdies  leicht  aus  der  Verzückung 
der  Festteilnehmer  erklären  lasse. 

Im  weiteren  Verlauf  des  Buches  behandelt  de  Jong  Satz  für  Satz  die  Stelle 
des  Apulejus  (Metam.  XI  23)  über  die  Isisweihen  und  geht  auch  hierbei  wieder 
näher  auf  die  geheimen  Zeremonien  anderer  Mysterien  ein.  Bei  dem  Satze  'Ich 
ging  bis  zur  Grenze  des  Todes'  erinnert  er  vielleicht  mit  Recht  an  die  Jünglings- 
weihen primitiver  Völker,  bei  denen  die  Vorstellung  herrscht,  dass  der  einzu- 
weihende Jüngling  stirbt  und  dann  zu  neuem  Leben  erwacht.  Zur  Erläuterung 
erörtert  er  die  Rolle  der  Ekstase  und  des  Traumes  in  den  Mysterien  und  ver- 
wandten Kulten;  er  vermutet,  dass  die  Hypnose  und  die  Vision  in  den  Mysterien 
und  anderen  Geheimkulten  eine  Rolle  gespielt  hat.  Da  nun  nach  de  Jongs  Auf- 
fassung die  Suggestion  unter  den  Begriff  dessen  fällt,  was  man  früher  als  Magie 
zu  bezeichnen  pflegte,  andererseits  die  Magie  sich  zum  grössten  Teile  auf  Suggestion 
zurückführen  lässt,  so  sei  damit  zugleich  näher  erklärt,  weshalb  er  die  Mysterien 
als  im  wesentlichen  für  identisch  mit  der  Magie  erklärt  habe.  Im  Anschluss 
hieran  erörtert  de  Jong  ziemlich  ausführlich  die  Frage,  ob  es  tatsächlich  Telepathie 
gebe.  Er  kommt  dabei  zu  dem  Schlüsse,  es  sei  zwar  hinsichtlich  der  telepathi- 
schen Erscheinungen  durch  die  moderne  Forschung  schon  einiges  Positives  zu- 
tage gefördert,  die  Seltenheit  derselben  erschwere  es  aber,  ihre  Art  und  Weise  näher 
zu  bestimmen;  einstweilen  liege  kein  Grund  vor,  den  Magiern  irgendwelcher  Zeit 
und  irgendwelchen  Volks  die  Beherrschung  der  in  Rede  stehenden  rätselhaften  Vor- 
gänge zuzuschreiben.  Bei  der  Besprechung  der  Visionen  vom  Totenreiche  geht 
er  auf  die  Frage  ein,  ob  den  Jenseitsvisionen  objektive  Realität  zuzusprechen  sei. 
Er  will  diese  Frage  nicht  von  vornherein  gänzlich  verneinen,  legt  aber  doch  unter 
Hinweis  auf  Swedenborg  und  die  Seherin  von  Prevorst  dar,  dass  selbst  diejenigen 
Offenbarungen,  denen  eine  gewisse  objektive  Realität  zugrunde  liegen  könnte, 
bei  näherer  Betrachtung  doch  nur  wenig  Bestimmtes  zu  bieten  vermögen  und 
daher  die  Visionen  des  Totenreiches  im  grossen  ganzen  für  subjektive  Phantasien 
zu  erklären  sind.  Die  Worte  des  Mysten  bei  Apulejus:  'nachdem  ich  durch  alle 
Elemente  gefahren,  kehrte  ich  wiederum  zurück'  hatte  du  Prel  damit  erklärt,  dass 
es  sich  um  Wasserprobe,  Feuerfestigkeit  und  ein  Erheben  in  die  Luft  handle. 
Nach  ausführlicher  Erörterung  dieser  Dinge,  wobei  mannigfache  Bräuche  von 
antiken  und  neueren  Völkern  angeführt  und  auch  allerlei  spiritistische  Experimente 
und  Erklärungen  besprochen  werden,  lehnt  de  Jong  die  Erklärung  du  Preis  ab: 
er  nimmt  an,  dass,  wie  manches  andere  in  den  Mysterien,  auch  diese  Fahrt  durch  die 
Elemente    eine  Vision    gewesen    ist.     Wenn    schliesslich    der  Myste    bei  Apulejus 


96  Samter,  Meyer: 

sagt:  'Vor  die  unteren  und  die  oberen  Götter  trat  ich  hin  von  Angesicht  zu  An- 
gesicht und  betete  sie  aus  nächster  Nähe  an'  und  auch  in  den  eleusinischen  und 
anderen  Mysterien  wiederholt  von  'Erscheinungen'  die  Rede  ist,  so  haben  du 
Frei  u.  a.  erklärt,  es  habe  sich  hierbei  um  Vorgänge  gehandelt,  die  den  sogenannten 
Materialisationen  im  modernen  Spiritismus  ähnlich  seien.  De  Jong  wirft  infolgedessen 
die  Frage  auf.  ob  solche  Materialisationen  wirklich  vorgekommen  sind.  Am  besten 
beglaubigt  findet  er  die  Berichte  über  das  schon  vorher  erwähnte  Medium 
Eusapia  Paladino,  auf  Grund  von  dessen  Leistung  ein  gegenüber  dem  Spiritismus 
sehr  skeptischer  Beobachter  den  Schluss  gezogen  habe,  man  müsse  diesen  Tat- 
sachen gegenüber  zugeben,  dass  man  doch  auch  manche  Materialisationen,  über 
welche  von  anerkannten  Forschern  berichtet  werde,  als  echt  ansehen  dürfe.  De  J. 
findet  eine  gewisse  Gleichartigkeit  zwischen  dem,  was  von  der  heutigen 
Materialisation  berichtet  wird,  und  der  Überlieferung  über  die  'Erscheinungen'  in 
den  alten  Mysterien.  Trotzdem  erklärt  er  es  für  ein  höchst  verfängliches  Wagnis, 
die  mystischen  'Erscheinungen'  schlechthin  für  'Materialisationen'  zu  erklären,  da 
es  sich  bei  diesen  nach  den  heutigen  Beobachtungen  um  äusserst  seltene  und 
unberechenbare  Phänomene  handele,  sie  also  bei  den  Geheimfeiern  nicht  hätten 
periodisch  zu  bestimmten  Daten  wiederkehren  können.  Die  von  0.  Stoll  gegebene 
Erklärung  der  Geistererscheinungen  als  Suggestionswirkung  lehnt  er  ebenso  ab. 
wenigstens  für  diejenigen  Mysterien,  an  denen  Hunderte  gleichzeitig  teilnahmen, 
und  da  ihm  auch  die  Annahme  eines  Betrugs  unbefriedigend  erscheint,  so  muss 
er  sich  hier  mit  einem  non  liquet  begnügen. 

Die  ausführliche  Inhaltsangabe  wird  eine  genügende  Vorstellung  von  de  Jongs 
Werk  geben.  Über  seine  Hinneigung  zu  spiritistischen  Anschauungen  ein  Urteil 
abzugeben,  ist  hier  nicht  am  Platze.  Zum  besseren  Verständnis  der  antiken 
Mysterien  tragen  jedenfalls  die  von  de  Jong  behandelten  spiritistischen  Ex- 
perimente und  Erklärungen  nichts  bei.  Muss  also  in  dieser  Hinsicht  das  Buch 
als  verfehlt  bezeichnet  werden,  so  ist  es  doch  in  einer  anderen  Beziehung  von 
Wert  und  verdient  studiert  zu  werden,  nämlich  wegen  des  umfassenden  Materials 
von  anderen,  namentlich  aussereuropäischen  Völkern,  das  de  Jong  zur  Erläuterung 
der  antiken  Mysterienbräuche  gesammelt  und  verwertet  hat.  Bedauerlich  ist  es 
nur,  dass  er  die  Benutzung  dieses  reichen  Materials  nicht  durch  ein  Register  er- 
leichtert hat. 

Berlin. Ernst  Samter. 

Paul    Stengel,     Opferbräuche    der    Griechen.       Mit    6   Textabbildungen. 
Leipzig  und  Berlin,  B.  G.  Teubner.     VI,  238  S.  .  6  Mk. 

Paul  Stengel  hat  in  einer  grösseren  Zahl  von  kürzeren  und  längeren  Aufsätzen  seit 
Jahren  -  der  erste  Aufsatz  ist  1882  erschienen  —  wertvolle  Beiträge  zur  Kenntnis 
des  griechischen  Sakralwesens,  besonders  des  Opferrituals,  geliefert.  Die  Arbeiten 
sind  in  verschiedenen  Zeitschriften  zerstreut  und  deshalb  unbequem  zu  benutzen, 
es  ist  daher  dankenswert,  dass  St.  sich  dazu  hat  bestimmen  lassen,  eine  Samm- 
lung der  Aufsätze  herauszugeben.  Er  hat  dabei  alle  überarbeitet,  die  älteren 
ganz  umgeschrieben.  Die  Arbeiten,  die  tief  ins  Detail  der  Opferterminologie  ein- 
dringen, sind  zum  Teil  zur  Besprechung  in  einer  nicht-philologischen  Zeitschrift 
nicht  geeignet:  ich  hebe  einige  hervor,  deren  Ergebnisse  mir  auch  für  die  Volks- 
kunde besonders  von  Interesse  erscheinen. 

Der  Aufsatz  'Die  Speiseopfer  bei  Homer'  wendet  sich  gegen  die  verbreitete 
Ansicht,    dass    bei    den    homerischen  Griechen  jedes  Schlachten    eines  Tieres  für 


Bücheranzeigen.  97 

den  Haushalt  mit  einem  Opfer  verbunden  war:  man  opferte,  abgesehen  von  den 
grossen  Festopfern,  nur  wenn  man  die  Götter  um  etwas  bitten  wollte.  In  der 
Untersuchung  über  die  <rrrhlyxyot.  (Eingeweide)  legt  St.  dar,  dass  in  homerischer 
Zeit  den  Göttern  von  diesen  nicht  geopfert  wird,  dass  man  sie  vielmehr  ganz 
verzehrt.  Später  erhalten  zwar  die  Götter  auch  von  den  o-^.try^va.  ihren  Anteil, 
aber  es  bleiben  zwischen  der  Behandlung  und  Verwendung  des  Fleisches  und  der 
<jnka.^iyya.  Unterschiede,  und  der  Ritus  zeigt  noch  immer  die  Erinnerung  daran, 
dass  es  mit  dem  Verzehren  der  inneren  Teile  eine  besondere  Bewandtnis  hatte, 
dass  man  in  den  crn'käyfcv'x,  schon  ehe  man  Eingeweideschau  übte,  eine  ge- 
heimnisvolle Kraft  vermutete.  St.  bringt  dies  in  Verbindung  mit  der  von 
Robertson  Smith,  Dieterich  u.  a.  aufgestellten  Ansicht,  dass  durch  das  Verzehren 
des  Opfers  der  Gott  in  den  Opfernden  eingeht,  und  mit  dem  Gedanken,  den  ein 
Schüler  Dieterichs,  G.  Blech,  durch  Zeugnisse  zu  erweisen  gesucht  hat,  dass  alle 
Opferschau  den  Glauben  voraussetze,  der  Gott  selbst  sei  im  Innern  des  Tieres 
zu  rinden.  Bei  Eidopfern  nehmen  die  Schwörenden  die  rd/jua  in  die  Kand  oder 
berühren  sie  mit  dem  Fusse.  Gewöhnlich  werden  unter  rop.ia.  Eingeweide  oder 
Fleischstücke  verstanden.  St.  macht  es  sehr  wahrscheinlich,  dass  damit  die 
Hoden  ausgewachsener  Tiere  gemeint  sind.  Die  Genitalien  gelten  als  Sitz  des 
Lebens;  indem  der  Schwörende  sie  berührt,  wünscht  er  sich  nach  Stengels  Er- 
klärung für  den  Fall  des  Meineids  den  Tod. 

Ein  anderer  Aufsatz  behandelt  den  Kult  der  Winde.  Dieser  trägt  den  Charakter 
des  cbthonischen  Kults.  Der  Kultus  ermöglicht  es  uns  auch  hier,  alte  Vor- 
stellungen zu  erkennen,  die  den  Menschen,  die  ihn  übten,  nicht  mehr  bewusst 
und  lebendig  waren :  die  Windgötter  wurden  gleich  den  Seelen  unter  der  Erde 
wohnend  gedacht,  in  ihrem  Kulte  zeigen  sich  die  Spuren  ihrer  Seelennatur. 

Den  Beinamen  des  Hades  xhvTanwToc,  erklärt  St.  daraus,  dass  den  Toten 
Pferde  geopfert  wurden  (vgl.  auch  das  Pferd  auf  den  Heroenreliefs),  damit  sie 
auf  ihnen  in  der  wilden  Jagd  durch  die  Luft  reiten  (vgl.  hiergegen  Samter, 
Geburt,  Hochzeit  und  Tod  S.  206,  5).  Hades  selbst  nimmt  zwar  nicht  an  dem 
nächtlichen  Schwärm  teil,  aber  wenn  das  Pferd  ein  Attribut  des  Toten  war, 
konnte  ihr  Beherrscher  allein  nicht  der  Rosse  entbehren  (eine  andere  Ansicht 
über  den  xKvroTrwTc;  vertritt  Malten,  Archiv  f.  Religionswiss.  XII,  309).  Be- 
merkenswert ist  es,  dass  die  Griechen  nur  weisse  Pferde  geopfert  haben.  Da 
diese  Opfertiere  zum  Reiten  für  die  Toten  dienten,  stimmt  dies,  wie  Stengel 
hervorhebt,  aufs  beste  überein  mit  den  auch  bei  anderen  Völkern  verbreiteten 
Sagen  vom  'weissen  Totenpferd'.  St.  erwähnt,  dass  in  Ostpreussen  der  Aberglaube 
herrscht,  in  der  Nacht,  bevor  jemand  stirbt,  zeige  sich  vor  dem  Hause  ein 
Schimmel,  und  erinnert  an  die  durch  Storms  Erzählung  bekannte  Sage  vom 
Schimmelreiter,  der  die  Sturmfluten  an  den  Nordseedeichen  ankündigt  (vgl. 
oben  20,  79). 

Berlin.  Ernst  Samter. 


Robert  Vian,  Ein  Mondwahrsagebuch.  Zwei  altdeutsche  Handschriften 
des  XIV.  und  XV.  Jahrhunderts.  Halle  a.  S.,  M.  Niemeyer,  1910. 
IV,  127  S.   8°. 

Einen   wertvollen  Beitrag    zur  Kenntnis    mittelalterlicher  Losbücher   gibt    uns 
die  Arbeit    von  Robert  Vian.     'Mondwahrsagebuch'    nennt    V.    diejenige  Art    der 

Zeitscbr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.  1911.    Heft  1.  ' 


;i,s  Meyer,  Wrede: 


Losbücher,  die  ihre  Wahrsagung  vom  Stand  des  Mondes  abhängig  macht. 
Drei  verschiedene  Überlieferungen  desselben  Textes  standen  dem  Verf.  zur  Ver- 
fügung: 1.  die  Hs.  der  Heidelberger  Universitätsbibliothek  Cod.  Pal.  germ.  3 
(H),  2.  die  Hs.  der  Berliner  Kgl.  Bibliothek  Ms.  germ.  fol.  563  (b),  3.  ein 
Hs.-Fragment  in  der  Universitätsbibliothek  zu  Giessen:  22  Verse  ed.  E.  Schröder 
Ztschr.  f.d.  Alt' 50,  135  ff.,  Ockstädter  Fragment  genannt  nach  der  ursprünglichen 
Fundstätte  (0). 

Die  Hss.  H  und  b  werden  genau  beschrieben.  Die  Herkunft  beider  ist  un- 
bekannt. Während  b  einheitlichen  Schriftcharakter  zeigt,  der  die  Hs.  in  die 
zweite  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  weist,  sind  in  H  drei  Hände  zu  scheiden.  Die 
Schrift  des  ersten  Schreibers,  dem  der  Hauptteil  zufällt,  ist  die  Bücherschrift  der 
Zeit  um  1400.  denselben  Charakter  trägt  die  Hand  des  zweiten  Schreibers, 
während  die  dritte  Schriftart  viel  jünger  ist  und  etwa  dem  ausgehenden  15.  Jahr- 
hundert angehört.  Nur  die  Hs.  H  ist  mit  Bildern  ausgeschmückt,  in  denen  V. 
mittelrheinischen  Charakter  unter  böhmischem  Einfluss  erkennt.  0,  dessen 
Dialekt  Schröder  als  thüringisch  bestimmt  hat,  ist  für  die  sprachliche  Erkenntnis 
des  Denkmals  sehr  wichtig,  denn  die  Reime  zeigen,  dass  dieser  Dialekt  der 
Sprache  des  Dichters  am  nächsten  stand.  Die  Vergleichung  der  drei  Hss. 
untereinander  ergibt  folgendes  Resultat:  0  bietet  einen  dem  Original  sehr  nahe 
stehenden  Text,  H  eine  wenig  geänderte,  b  eine  ziemlich  stark  überarbeitete 
Redaktion.  Eine  gegenseitige  Abhängigkeit  ist  nicht  vorhanden.  Die  ein- 
gehende lautliche  Untersuchung  des  Dialektes  der  Schreiber  von  H  führt  auf 
die  Gegend  von  Heidelberg  und  Speyer.  Die  Reimuntersuchung  bezeugt  den 
thüringischen  Charakter  des  Originals  wie  0.  Die  Rekonstruktion  der  Reime 
der  Hs.  H  stimmt  mit  den  Reimen  des  Fragmentes  überein.  Der  Lautstand  von  b 
hat  deutlich  bayerisches  Gepräge,  einige  spezifische  md.  Reime  weisen  auch  hier 
auf  eine  md.  Quelle. 

Unser  Werk  gehört,  wie  erwähnt,  zu  den  Losbüchern,  einer  fremden,  nicht 
bodenständigen  Gattung  von  Wahrsagebüchern,  die  in  letzter  Linie  auf  die  Araber 
zurückgeht.  Das  Mittel  zur  Wahrsagung  ist  bei  unserem  Werk  die  Zahl  der  Tage 
nach  Neumond.  Folgendes  Beispiel  erläutert  das  System  des  Mondbuches.-  Will 
jemand  vom  'richtum'  etwas  wissen,  so  gibt  Pythagoras  die  Auskunft:  'ez  soll 
antworten  Daniel*.  Daniel  sagt,  man  solle  die  Stellung  des  Mondes  berücksichtigen. 
Der  Fragesteller  wird  dann  verschiedene  Tage  hingehalten,  und  schliesslich  sagt 
ihm  der  Weissager  Anan  die  Seite,  auf  der  er  die  Antwort  findet:  'du  solt  nit  rieh 
werden,  mit  armut  mustu  ringen  of  erden'. 

Die  arabischen  Mansionennamen  sind  ursprünglich  Namen  für  Sterne  inner- 
halb des  Tierkreises;  es  ist  nicht  bestimmt  zu  entscheiden,  ob  der  Schreiber  und 
Zeichner  in  H  in  ihnen  noch  Sternennamen  sieht  oder  sie  für  Namen  von 
arabischen  Weissagern  hält;  doch  ist  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  letzteres  der  Fall. 
Alle  Mondstationennamen  gehen  letzten  Endes  auf  das  Altbabylonische  zurück, 
von  hier  drangen  sie  zu  den  Indern,  Chinesen,  Arabern,  und  von  diesen  kamen 
sie  durch  die  Vermittlung  der  Juden  ins  Lateinische  und  von  hier  in  die 
einzelnen  Landessprachen.  Vian  gibt  eine  interessante  Liste  der  ihm  erreich- 
baren Mansionennamen. 

Das  Schlusskapitel  bietet  den  Text  der  Hss.  H  und  b  im  Paralleldruck. 

Berlin.  Helene  Meyer. 


Bücheranzeigen.  99 

Joh.  Ckrysostonius  Schulte,  P.  Martin  von  Cochem  1634—1712.  Sein 
Leben  und  seine  Schriften  nach  den  Quellen  dargestellt  (=  Freiburger 
Theologische  Studien  1).  Freiburg  i.  B.,  Herder  1910.  XV,  207  S. 
8°.     3  Mk. 

Die  (oben  20,  34!»  angezeigte)  Untersuchung  von  H.  Stahl  über  'Martin  von 
Cochem  und  das  Leben  Christi'  hat  diese  Arbeit  angeregt,  die  dem  fruchtbaren 
religiösen  Volksschriftsteller  eine  eingehende  biographische  und  besonders  eine 
zusammenfassende  literarhistorische  Studie  widmet.  Bei  der  Behandlung  des 
'Leben  Christi'  stellt  sich  auch  Schulte  im  Gegensatz  zu  Wackernell  auf  den 
Standpunkt,  dass  durch  dieses  bekannteste  und  literarisch  bedeutendste  Werk 
Martins  von  Cochem  das  religiöse  Volkstheater  in  der  nachfolgenden  Zeit  die 
weitestgehende  Anregung  und  Förderung  erhalten  hat.  Schulte  weist  nachdrück- 
lich darauf  hin,  dass  das  Verdient,  hierauf  zuerst  aufmerksam  gemacht  zu  haben, 
Joh.  Jos.  Ammann  gebührt.  (Das  Leben  Jesu  von  P.  Martinus  von  Cochem  als 
Quelle  geistlicher  Volksschauspiele,  in  dieser  Zs.  3,  208—223.  300— 32!>.  Nach 
einer  Mitteilung  Ammanns  an  Schulte  wird  dem  'Leben  Christi'  wegen  seiner  Be- 
deutung als  Quelle  an  verschiedenen  Universitäten,  bei  Seminarübungen  u.  dgl. 
Aufmerksamkeit  geschenkt).  Die  Frage,  ob  P.  Martin  auch  Kirchenlieddichter 
gewesen  sei,  verneint  Schulte,  doch  spricht  er  ihm  als  dem  Sammler  und  Heraus- 
geber älterer  Kirchenlieder  ein  gewisses  Verdienst  zu.  In  Martins  zahlreichen 
Andachtsbüchern  finden  sich  einzelne,  wieder  anderen  Schriften  entnommene 
Gebetübungen  angepriesen,  die  Schulte  mit  Recht  nicht  viel  höher  einschätzen 
möchte  als  jene  beim  Volke  in  den  Nöten  des  Lebens  so  beliebten  abergläubischen 
Gebetzettel.  Im  Anschluss  an  eine  Abhandlung  Cochems:  'Weis  und  Manier,  mit 
den  Malefitz-Personen  umbzugehen'  legt  Schulte  die  prinzipielle  Stellung  des 
Volksschriftstellers  zum  Hexenwesen  und  zu  den  Hexenprozessen  dar.  Aus  einer 
Sammlung  Martins  von  allerlei  Segens-  und  Beschwörungsformeln,  die  einen  Ein- 
blick in  die  Segensgebräuche  des  kath.  Deutschland  im  17.  Jahrh.  gewähren,  teilt 
Schulte  einige  jetzt  nicht  mehr  gebräuchliche  Benediktionen  mit.  Auch  einzelne 
abgedruckte  Aktenstücke,  die  P.  Martin  als  kurfürstlich-trierischer  Missionär  und 
Visitator  160!)  verfasste,  beziehen  sich  auf  Segnungen  und  Weihungen  und  ent- 
halten sittengeschichtlich  interessante  Angaben.  Bei  weitem  den  grössten  Umfang 
von  allen  Schriften  des  Kapuzinerpaters  nehmen  die  Historien,  Exempel-  und 
Legendensammlungen  ein,  denen  Schulte  eine  sehr  ausführliche  literarkritische 
Besprechung  schenkt.  Aus  ihr  geht  die  hohe  Bedeutung  hervor,  die  dem 
P.  Martin  als  Neubearbeiter  und  Vermittler  der  Legende  für  die  Zeit  nach  ihm 
zukommt.  In  Martins  Bearbeitungen  wurde  der  Stoff  der  mittelalterlichen  Legenden  und 
Krbauungsschriften  in  vielen  Fällen  wieder  Gemeingut  des  Volkes.  Einzelne  Legenden 
wurden  aus  den  grossen  Sammlungen  herausgehoben  und  fanden  als  'Volksbücher' 
eine  grosse  Verbreitung.  Während  die  Zeit  der  Aufklärung  von  Martins  Schriften 
nichts  mehr  wissen  wollte  oder  sie  gar  mit  Spott  und  Hohn  übergoss,  nahmer. 
sich  ihrer  die  Romantiker  wieder  an,  als  erster  J.  v.  Görres.  In  seinen  'Teutschen 
Volksbüchern'  von  1307  (246 — 250)  wies  er  mit  Nachdruck  auf  Martin  von  Cochem 
hin,  auch  später  noch  einmal.  Seitdem  hat  man  begonnen,  die  Schriften  des 
Kapuzinerpaters  wieder  auszugraben  und  zu  würdigen.  Ein  Register  mit  Hervor- 
hebung auch  volkskundlich  bedeutsamer  Erscheinungen  verleiht  der  sehr  brauch- 
baren Arbeit  Schuhes  besonderen  Wert. 

Köln.  A.   Wrede. 


',(l(l  Meyer,  Sachs,  Anclree: 

H.  Bertscb,  Weltanschauung,  Volksssage  und  Volksgebrauch  in  ihrem 
Zusammenhang  untersucht.  Dortmund,  Ruhfus  11)10.  XTI  -j-  446  8.  8°. 
7,00  Mk. 

Der  Versuch,  eine  vergleichende  Mythologie  im  folkloristischen  Sinne  zu 
geben,  musste  einmal  gemacht  werden.  Schade,  dass  er  auch  wieder  mit  der 
ganzen  Einseitigkeit  des  Religionsvergleichers  unternommen  wurde!  Da  geht  es 
zu  wie  bei  den  ionischen  Naturphilosophen:  einer  lässt  alles  aus  dem  Feuer  ent- 
stehen, oder  aus  dem  Licht;  Bertsch,  wie  Thaies,  aus  dem  Wasser.  Der  Wald 
steht  für  die  Wasserhölle  (S.  77,  vgl.  114.  133);  der  Schatz  symbolisiert  (was 
gelegentlich  ja  sicher  vorkommt)  allgemein  das  Wasser  (S.  173);  der  'Wassergott 
der  Höhe'  ist  Herr  des  Todes  (S.  232);  das  Sinnbild  der  Ursau  geht  in  den 
Begriff  des  Urwassers  über  (S.  34G);  'auch  das  Bocksymbol  entstammt  der 
Wolkenregion'  (S.  358).  Wann  werden  wir  aufhören,  die  Primitiven  für  lauter 
religiöse  Monomanen  zu  halten? 

Im  übrigen  bringt  die  gut  disponierte  Sammlung,  die  nur  vielfach  veraltete 
Quellen  oder  Handbücher  (wie  Simrock)  benutzt  und  zu  altmodisch  überall  uralte 
Tradition  vermutet  (Ostereier  S.  384),  hübsche  Bemerkungen,  wie  über  das  Primat 
der  Anschauung  vor  dem  Symbol  bei  den  kosmogonischen  Tieren  (S.  67),  wie  denn 
der  Verf.  auch  selbst  gut  sieht  (Zweig  für  Blitz  S.  291;  Zahn  als  Donnersymbol 
S.  335  f.;  das  Sägen  S.  127).  Aber  was  Bertsch  wohlgemut  unternahm,  kann 
doch  mit  Aussicht  auf  Erfolg  wohl  nur  ein  Meister  wie  Prazer  oder  Tyler  wagen! 

Berlin.  Richard  M.  Meyer. 


H.  Kretzschmar,  Über  Volkstümlichkeit  in  der  Musik.    Berlin,  E.  8.  Mittler 
&  8ohn  1910.    15  8.  8°.     0,60  Mk. 

In  dem  kleinen  Heft  ist  die  treffliche  Rede  der  Allgemeinheit  zugänglich 
gemacht,  die  der  Direktor  der  Kgl.  Hochschule  für  Musik  am  Kaisergeburtstage 
in  öffentlicher  Sitzung  der  Akademie  der  Künste  gehalten  hat.  Den  Ausgangs- 
punkt bildet  des  Kaisers  Anregung  zur  Pflege  volkstümlicher  Musik,  eine  An- 
regung, die  durch  die  Herausgabe  des  sog.  Kaiser-Liederbuches  für  Männerchor 
in  die  Wirklichkeit  umgesetzt  worden  ist.  Kretzschmar,  der  selbst  einen  hervor- 
ragenden Anteil  an  der  Veranstaltung  dieser  Sammlung  hat,  weist  in  seiner  Rede 
darauf  hin,  dass  von  den  uns  überlieferten  ältesten  Denkmälern  der  Tonkunst  bis 
auf  die  Gegenwart  jede  bedeutsame  Erscheinung  mit  ihren  Wurzeln  in  den  Boden 
volkstümlichen  Musikempfindens  hineinreicht.  Man  hat  indessen  bei  dem  heutigen 
Tiefstand  der  musikalischen  Kultur  den  Begriff  der  Volkstümlichkeit  viel  zu  eng 
gefasst.  Es  kommt  nicht  etwa  darauf  an,  alle  Ideale  und  Ausdrucksmittel  der 
höheren  Kunst  auszuschalten;  es  lässt  sich  beweisen,  „dass  eine  Volkstümlichkeit, 
die  das  Band  mit  der  Kunst  löst  oder  zu  weit  lockert,  unfruchtbar  und  gefährlich 
ist".  Die  Gleichung  der  Faktoren  'höchste  Kunst'  und  'stärkste  Volkstümlichkeit' 
ist  nicht  in  erster  Linie  vom  schaffenden  Musiker  zu  realisieren;  "denn  erste 
Lebensbedingung  der  Kunst  ist  die  Freiheit'.  Vielmehr  liegt  sie  in  der  Hand 
aller  derjenigen,  denen  die  musikalische  Erziehung  des  Volkes  und  damit  die 
Hebung  der  musikalischen  Gesamtkultur  obliegt.  Wenn  im  IG.  Jahrh.  in  den 
Dörfern    die    schwierigen    Chöre    Lassos    und    Senfls    gesungen    werden    konnten, 


Bücheranzeigen.  —  Notizen.  101 

wenn  heute  in  Wales  die  Bergleute  Kanons,  die  italienischen  Strassensänger 
fugierte  und  dramatische  Chöre  ausführen,  wenn  die  böhmischen  Glasbläser 
Beethovensche  Sinfonien  spielen  können,  so  erbringen  sie  den  Beweis  dafür,  dass 
es  nicht  gilt,  der  Kunst  das  Wachstum  zu  beschneiden,  sondern  die  Allgemeinheit 
mit  ihr  wachsen  zu  lassen. 

Berlin.  Curt  Sachs. 


Franz  Fuhse,  Beiträge  zur  Braunschweiger  Volkskunde.  Mit  Abbildungen 
aus  den  Sammlungen  des  Städtischen  Museums.  Braunschweig,  Julius 
Krampe  1911.    28  S.  und  9  Tafeln.    2  Mk. 

Einen  neuen,  sehr  mühsamen,  aber  recht  fruchtbaren  Weg  in  der  Stoff- 
beschaffung  für  die  deutsche  Volkskunde  hat  der  Direktor  des  Städtischen 
Museums  in  Braunschweig,  Dr.  Franz  Fuhse,  beschritten.  Er  hat  die  'Braun- 
schweigischen Anzeigen',  die  seit  dem  Jahre  1745  erschienen,  Nummer  für 
Nummer  verfolgt  und  hier  die  Steckbriefe,  die  amtlichen  Nachrichten  über  Dieb- 
stähle auf  dem  Lande  (mit  genauer  Aufzählung  der  gestohlenen  Sachen),  endlich 
die  Anzeigen  der  Kaufleute  und  der  fremden  Händler,  die  auf  der  Braun- 
schweiger Messe  ausstellten,  durchgearbeitet  und  dadurch  ein  reiches  Quellen- 
material für  die  alten  Bauerntrachten  und  Geräte  gewonnen.  Da  zeigt  sich  nun, 
dass  nur  noch  ein  Teil  der  Stoffe  von  der  bäuerlichen  Bevölkerung  schon  in  der 
Mitte  des  LS.  Jahrhunderts  selbst  hergestellt  wurde,  namentlich  Leinenzeug,  dass 
aber  sehr  viele  Stoffe  von  auswärts  bezogen  wurden.  Und  alle  diese  Stoffe  können 
mit  Namen,  die  uns  heute  verloren  sind,  und  Preisen  angeführt  werden.  An  der 
Hand  seines  Quellenmaterials  vermag  nun  Fuhse  die  Männer-  und  Frauentracht, 
den  Schmuck  und  das  Hausgerät  viel  weiter  rückwärts  zu  verfolgen,  als  ich 
es  in  meiner  'Braunschweiger  Volkskunde'  vermochte,  an  welche  sich  Fuhses 
gründliche  Arbeit  anschliesst.  Neun  vortreffliche  Tafeln  nach  den  Sammlungen 
im  Städtischen  Museum  sind  der  Abhandlung  beigefügt.  Die  typographische  Aus- 
stattung ist  eine  ganz  hervorragende. 

München.  Richard  Andree. 


Notizen. 


Basler  Studentensprache,  eine  Jubiläumsgabc  für  die  Universität  Basel,  dar- 
gebracht vom  Deutschen  Seminar  in  Basel.  Basel,  Georg  &  Co.  1910.  XXX,  52  S.  8°. 
1,60  Mk.  —  Uas  Büchlein  zerfällt  in  ein  reichhaltiges  Wörterbuch  und  in  ein  von  John 
Meier  geschriebenes  ausführliches  'Vorwort'.  Wenn  die  burschikosen  Basler  Ausdrücke 
enge  Verwandtschaft  mit  den  auf  deutschen  Hochschulen  üblichen  erkennen  lassen,  so 
erklärt  sich  das  daraus,  dass  sie  seit  etwa  1840  von  dort  mit  den  studentischen  Bräuchen 
und  Liedern  an  die  schweizerischen  Universitäten  verpflanzt  worden  sind.  Manche  nord- 
deutschen Redensarten  haben  sich  freilich  eine  Übertragung  ins  Alemannische  gefallen 
lassen  müssen,  die  heimische  Mundart  hat  manche  Kraftausdrücke  gespendet,  und  eigene 
Xeuschöpfungen  haben  sich  dazu  gesellt.  Aus  der  Einleitung,  die  über  diese  Verhältnisse 
und  die  Elemente  der  Studentensprache  überhaupt  orientiert,  sei  die  überzeugende  Ab- 
leitung des  Biersalamanders  aus  dem  seit  etwa  1820  in  Halle  üblichen  Schnaps- 
salamander erwähnt:  ursprünglich  war  Salamander  der  Name  eines  im  18.  Jh.  aus 
Amerika  eingeführten  Likörs,  der  brennend  getrunken  wurde. 


102  Notizen. 

Renward  Brandstetter,  Wurzel  und  Wort  in  den  indonesischen  Sprachen.  Luzern. 
Haag  1910.  52  S.  8°.  —  Wiederum  eine  ausgezeichnete,  auch  methodisch  höchst  lehr- 
reiche Arbeit  des  Luzerner  Forschers,  der  kaum  weniger  vielseitig,  sicherlich  aber  ein 
schärferer  Kopf  ist  als  der  alte  Luzeruer  Stadtschreiber  Renward  Cysat,  dem  er  vor  einigen 
Jahren  eine  schöne  Monographie  gewidmet  hat  (oben  19,  354).  Wir  möchten  wünschen, 
dass  auch  B.s  Vortrag  'Der  Sprachbau  des  Indonesischen,  verglichen  mit  dem  des  Indo- 
germanischen', von  dem  bisher  nur  Zeitungsberichte  bekannt  geworden  sind,  bald  im 
Druck  erscheint. 

A.  de  Cock,  Spreekwoorden  en  Zegswijzen  over  de  vrouwen,  de  liefde  en  het  huwelijk 
verzameld,  taalkundig  verklaard  en  folkloristisch  toegelicht.  Gent,  A.  Hoste  1911.  X, 
;;19  g,  —  Dies  Buch  bildet  ein  Seitenstück  zu  de  Cocks  trefflichem  Werke  über  alte 
Sitten  und  Bräuche  im  vlämischen  Sprichwort  (vgl.  oben  IG,  238);  er  sammelt  in  24  Ab- 
teilungen die  vlämischen  Sprichwörter  und  Redensarten  über  die  Frauen,  ihre  guten  und 
schlechten  Eigenschaften  und  ihre  verschiedenen  Altersstufen  und  Berufe  vom  Kind  bis 
zur  Greisin,  Begine,  Magd,  Hebeamme  und  zeigt  uns  den  treffenden  Witz  und  die  oft  er- 
frischende Derbheit,  mit  der  das  Volk  dies  schier  unerschöpfliche  Thema  behandelt,  in 
reichen  und  anschaulichen  Beispielen.  Viel  ist  aus  mündlicher  Mitteilung,  noch  mehr  aus 
früheren  Werken  des  16.  bis  19.  Jahrhunderts  geschöpft,  und  deutsche,  französische  u.  a. 
Parallelen  sind  in  den  Erläuterungen  verwertet,  die  in  manche  andern  Gebiete  unsrer 
Wissenschaft  hineinreichen.  Häufig  ist  die  alte  Formel  des  Priamels  z.  B.  bei  der  Klage 
über  Rauch,  schlechtes  Dach  und  übles  Weib  (S.  57.  R.  Köhler,  Kl.  Schriften  2,  127); 
S.  137  erscheint  das  verbreitete  Liebeszeichen  des  angebissenen  Apfels  (oben  13,  318); 
S.  51  die  Legende  von  Evas  Erschaffung  aus  einem  Hundsschwanz  (s.  Dähnhardt.  Natur- 
sa<*eu  1,  115),  S.  54  die  von  Petrus  vertauschten  Köpfe  des  Weibes  und  des  Teufels 
(oben  11,  262.  12,  454);  S.  65  und  191  die  den  Teufel  überlistende  Frau:  S.  24  und  267 
das  französische  Witzbild  der  guten  Frau  ohne  Kopf;  S.  63  die  auf  einen  deutschen  Bilder- 
bogen (oben  15,  40)  zurückweisende  Verteilung  von  Pferden  oder  Eiern  an  die  Ehepaare, 
bei  denen  der  Mann  oder  die  Frau  das  Regiment  führt.  Der  Einfluss  der  katholischen 
Kirche  tritt  zutage  in  den  Sprichwörtern  über  die  Heiligen  Adrian,  Anna,  Ursula  (S.  153. 
146.  177.  99),  in  den  freilich  nicht  immer  respektvollen  Bemerkungen  über  altertümliche 
Marienstatuen  (S.  200),  über  die  Beginen  und  in  dem  über  Luther  erzählten  Schwanke 
(S.  18).  Gewünscht  hätten  wir  nur  Kolumnentitel  mit  Angabe  der  Abteilungen,  da  jede 
von  diesen  eine  besondere  Numerierung  der  Sprichwörter  hat. 

R.  Dohse,  Gefahr  im  Verzuge!  Ein  Wort  zur  Erhaltung  des  Plattdeutschen  (Von 
deutscher  Sprache  und  Art  2).  Leipziger  Verlags-  und  Kommissions- ßuchhandl.  1911. 
K5  S.  —  Der  vortrefflich  geschriebene  Aufsatz  zeigt  die  missliche  Lage,  in  der  sich  das 
Niederdeutsche  zurzeit  befindet.  Die  kurze  Geschichte  der  niederdeutschen  Mundart  am  Anfaüg 
hätte  Laureinberg  nicht  ganz  übergehen  und  Klaus  Groths  Verdienste  stärker  hervorheben 
sollen.    Doch  ist  dem  Verf.  nicht  die  Vergangenheit,  sondern  die  Zukunft  die  Hauptsache. 

H.  Gerdes,  Geschichte  des  deutschen  Bauernstandes.  Leipzig,  Teubner  1910.  122  S. 
mit  21  Abbildungen:  geb.  1,25  Mk.  (Aus  Natur  und  Geistes  weit  320).  —  Die  Schrift  be- 
handelt hauptsächlich  die  wirtschaftliche  und  politische  Entwicklung  des  Bauernstandes, 
worauf  hier  nicht  eingegangen  werden  kann.  Doch  sei  auf  das  8.  Kapitel  verwiesen,  das 
sich  mit  dem  häuslichen  und  geselligen  Leben  der  Bauern  im  Mittelalter  und  in  der 
Neuzeit  beschäftigt.  Bei  der  Schilderung  der  Hörigenverhältnisse  (S.  20f.)  wird  einiges 
Volkskuudliche  beigebracht.  Neues  wird  dabei  nicht  gegeben,  sondern  nur  aus  dem  be- 
kannten Material  eine  recht  lesbare,  stellenweise  etwas  reichlich  elementare  Auswahl  ge- 
troffen.    (F.  Bac thgen.) 

Jeremias  Gottheit'  und  Karl  Rudolf  Hagenbach.  Ihr  Briefwechsel  aus  den  Jahren 
ls II  bis  1853,  herausgegeben  von  Ferdinand  Vetter.  Basel,  C.  F.  Lendorff  1910.  VI, 
115  S.  gr.  8°.  3  Mk.  —  In  dieser  namentlich  für  den  Literarhistoriker  wertvollen  Brief- 
sammlung,  die  reichlich  mit  schweizerischen  Idiotismen  durchsetzt  ist,  kommt  auch  allerlei 
Volkskundliches  zur  Sprache.  So  erkundigt  sich  Hagenbach  1843  bei  Gottheit  nach 
Weihnachtsgebränehen:  im  Kanton  Zürich  und  in  andern  Gegenden  der  Schweiz  rweiss 
man  nichts  vom  Christkinde;    da  regiert  allein  der  Klaus;    an    andern  Orten  herrscht  das 


Notizen.  10H 

Neujahr  vor.  Wie  ists  also  bei  Euch?"  Darauf  antwortet  Gotthelf,  nachdem  sein  Freund 
offenbar  noch  einmal  auf  den  Busch  geklopft  hat:  „Du  fragst  mich  nach  unsern  Weih- 
nachtssitten? Dieselben  sind  unbedeutend.  Baum  wird  keiner  gemacht  auf  dem  Lande, 
die  Geschenke  sind  unbedeutend,  an  vielen  Orten  gibt  man  gar  nichts,  an  andern  körnt 
das  Neujahrskindlein"  usw.  Weniger  noch  als  in  seinen  Büchern  scheut  sich  Gotthelf 
natürlich,  in  seinen  Briefen  starke  Ausdrücke  zu  gebrauchen.  Aber  es  ist  keine  eitle 
Kraftmeierei,  es  steckt  wirklich  ein  Kerl  dahinter.  Als  er,  obwohl  'gstabelig  und  alt  ge- 
worden', unter  die  Jugendschriftsteller  geht  und  dem  Freunde  seinen  'Knaben  des  Teil' 
sendet,  schreibt  er  dazu:  „Es  ist  ein  Versuch,  die  Kinder  vom  Nierizischen  Brei  zu  er- 
lösen und  an  kräftigere  Kost  zu  setzen,  ein  Versuch,  den  Nothzüchtigungen  der  Schweizer- 
geschichte zum  Fluch  unserer  Jugend  eine  Art  Spiegel  vorzuhalten." 

Karl  Hoeber,  Beiträge  zur  Kenntnis  des  Sprachgebrauchs  im  Volksliede  des  14.  uud 
i:>.  Jahrhunderts  (Acta  Germanica  7,  1)  Berlin,  Mayer  &  Müller  1908.    129  S.  Su.  4ML  - 
Der  Verfasser  legt  seiner  Arbeit  das  'volksmässige  Liebeslied'  des  14.  und  15.  Jh.  zugrunde, 
und  zwar  wie  es  ihm  die  Limburger  Chronik,  das  Lochheimer  Liederbuch,  Unlands  Volks- 
lieder,  Böhmes  Altdeutsches  Liederbuch,    Georg  Forsters  frische  Teutsche  Liedlein.  John 
Meiers  Ausgabe  der  Bergreihen    und  andere  Sammlungen  boten.     Obwohl,    wie    der  Verf. 
betont,    die  Volkslieder    der  herangezogenen  Sammlungen    'viele  sprachliche    und  formale 
Ungleichheiten    aufweisen    und    nicht    eine  Einheit   wie    die    Dichtungen    eines    einzelnen 
Autors  bilden1,    so  betrachtet    er    doch    ihre  lautlichen  Verhältnisse    'nach    dem    üblichen 
Schema",  namentlich  der  Übersichtlichkeit  halber.    Offenbar  misst  nun  der  Verf.  dieser  im 
1.  Abschnitt    der  Untersuchung    untergebrachten    Lautübersicht   im    Rahmen    der    ganzen 
Arbeit  selbst  geringere  Bedeutung  bei:  wenigstens  lässt  sich  das  aus  der  Art  des  kleineren 
Druckes  schliessen.    Beachtenswert  nach  der  sprachgeschichtlichen  Seite  sind  die  Abschnitte 
über  'Wortschatz  und  Wortgebrauclr  sowie  über  den  'Bedeutungswandel''  der  Wörter,  besonders 
da  es  sich  um  Volkslieder  der  Übergangszeit   handelt.     Als  ein  Beispiel    für    den  Wandel 
in  der  Bedeutung  sei  auf  die  Wortgruppe  'bule,  geselle,  knabe'  hingewiesen.    Vier  andere 
Abschnitte  zeigen  die  Vorliebe  des  Volksliedes  für  Diminutiva,    ferner  die  'Poetische  und 
stilistische  Technik  der  Volkslieder,    ihre  'Beziehungen  zum  Minnesang"  und  die  'Spruch- 
weisheit  in    den  Volksliedern".     Zum  Schlüsse   unternimmt   es  H.,    den    Stilcharakter  der 
Lieder  des  Lochheimer  Buches  zu  prüfen.      Er  gelangt  dabei    zu    der  Überzeugung,    dass 
..wir    es    im  Lochheimer  Liederbuch  nicht    mit    einer  vom  Zufall  beherrschten  Sammlung 
zerstreuter  Volkslieder  zu  tun  haben,  sondern  mit  Erzeugnissen    einer    im  ganzen  einheit- 
lichen Anschauung  und  Stimmung".    Ja,  er  geht  noch  weiter:    er  spricht  die  Lieder  d e m - 
selben  Dichter  zu  und  ist  der  Ansicht,  dass  'eine  gewisse  Abhängigkeit  des  Liederbuches 
von  dem  Mönch  von  Salzburg    besteht'.     Gegen    seine    Behauptungen    und    Beweise    lässt 
sich  meines  Erachtens    nichts  einwenden.      Ausser   manchen  annehmbaren   Feststellungen 
bietet  H.s  Arbeit  viele  Anregungen.     Darin  beruht  nicht  zuletzt  ihr  Wert,    da  auf  diesem 
Gebiete  der  Volksliedforschung  noch  vieles  zu  tun  bleibt.     Den  in  den  genannten  Samm- 
lungen überlieferten  Liedertexten  gegenüber  hat    sich  der  Verf.  zu  konservativ  verhalten. 
Freilich  ists  eine  missliche  Sache,    eine  Aufgabe    wie    die  vorliegende    an    einem    kleinen 
Orte,  fernab  von  Bibliothek  und  Fachgeuossen,  lösen  zu  wollen.     (A.  Wrede.) 

M.  Höfler,  Gebildbrote  der  Sommer-Sonnenwendzeit.  16  S.  (aus  der  Zeitschrift  für 
Österreich.  Volkskunde  IG). 

Aaoyoaqt'a,  dshiov  r/yc  '/•.'/./.>/ vc/S/;  XaoygaqDixJjs  haigelag  '_',  zevyos  1—3  (Athen, 
Sakellarios  1910.  ."»20  S.)  —  Die  unter  ihrem  trefflichen  Herausgeber  Politis  rüstig  fort- 
schreitende   Zeitschrift    enthält:     G.    Scope litis,     Geburtsgebräuche     auf    Madagaskar: 

D.  Papageorgios,  Fastnachtstänze  auf  Skyros  (mit  Abbildungen):  S.  P.  Kyriakides, 
Hochzeitsbräuche  aus  Giumultzina  in  Thracien;  C.  G.  Pantelides,  Akritas-Lieder  aus 
Cypern,  K.  D.  Soterios,  Albanische  Lieder  (Fortsetzung);  Polites,  Volkskuudliche 
Zeitschriftenschau  und  ein  Vortrag  über  die  Volkskunde  Macedoniens:  S.  Menardos, 
Sagen  von  der  h.  Helena  auf  Cypern:  A.  C.  Buturas,  Nachträge  zu  den  Monatsnamen: 
G.  P.  Anagnostopulos,  Sprichwörter  aus  Epirus;  S.  E.  Stathes,  Rätsel  und  Rätsel- 
märchen  aus  Epirus,  mit  Anmerkungen  von  Polites:  1).  Lukopulos,  Märchen  aus  Ätolien; 

E.  G.  Pappamichael,    Hochzeitsbräuche    auf   Kynuria:    Kyriakides,    Aberglaube    aus 


104  Notizen. 

Thracien:  S.  Z.  Papageorgios,  Hochzeitsbräuche  der  Kutzowlachen;  ausserdem  viele 
kleine  Beiträge  an  Liedern,  Rätseln,  Sagen,  Besegnungen,  auch  Mitteilungen  über 
Speisen. 

J.  Lorrain.  Trimazo  (L'Austrasie,  nouv.  serie,  Nr.  13,  S.  81 — 9<i).  —  Behandelt  einen 
Maitanz,  den  junge  Mädchen  noch  heute  in  der  Gegend  von  Metz  tanzen.  Eine  Erklärung 
des  Namens  'Trimazo'  gelingt  dem  Verf.  nicht. 

Oskar  Mann,  Die  Bachtiaren  und  ihr  Land  (Westermanns  Monatshefte,  Dezember 
1910,  S.  435—446).  —  Das  von  dem  ausgezeichneten  Kenner  Persiens  anschaulich  be- 
schriebene Nomadenvolk  der  Bachtiaren  gehört  zu  den  vier  Lurstämmen,  die  im  Süden 
Westpersiens  und  im  Osten  weit  hinein  bis  ins  Innere  des  Hochlandes  hausen.  Auch  sonst 
enthält  das  schön  ausgestattete  Heft  noch  allerlei  volkskundlich  Interessantes. 

A.  Schrader,  Sammlung  neugriechischer  Volkslieder  übersetzt.  Berlin,  Dr.  F.  Leder- 
mann 1910.  68  S.  2  Mk.  —  Die  mit  feinem  Geschmacke  getroffene  Auslese  bewahrt  das 
Versmass  der  Originale  und  umfasst  historische  Stücke,  Charos-,  Liebes-,  Armatoien-  und 
verschiedene  Lieder;  S.  28  die  oben  12,  155  erläuterte  'Verratene  Liebe',  S.  39  die  Brücke 
von  Arta,  S.  45  eine  Lenorenballade.  Freilich,  verglichen  mit  früheren  Verdeutschungen 
neugriechischer  Volkspoesie  von  Wilh.  Müller  bis  auf  Gustav  Meyer  und  H.  Lübke,  erscheint 
uns  mancher  Vers  hart  und  ungelenk.  Dass  auch  verschiedene  Interpunktions-  und  Druck- 
fehler den  Genuss  erschweren,  darf  man  wohl  dem  in  Athen  weilenden  Übersetzer  (oder 
ists  eine  Übersetzerin?)  nicht  zur  Last  legen. 

Otto  Schrader,  Begraben  und  Verbrennen  im  Lichte  der  Religions-  und  Kultur- 
geschichte. Breslau,  Marcus  19L0.  31  3.  0,60  Mk.  (aus  den  Mitteilungen  der  Schlesischen 
Gesellschaft  für  Volkskunde  12,  1).  —  Unter  "Würdigung  prähistorischer  Funde  beweist 
Schrader,  dass  der  Tod  den  ältesten  Zeiten  als  eine  Fortführung  des  irdischen  Daseins 
mit  allen  seinen  Bedürfnissen,  Wünschen  und  Leidenschaften  gilt.  Das  ursprüngliche 
Hockergrab  zeigt  den  Toten  auch  in  der  gleichen  Stellung  und  Lage,  die  er  im  Leben 
in  seiner  niedrigen  Hütte  vor  der  Kulturerscheinung  des  Hausmobiliars  bei  allen  seinen 
Beschäftigungen  eingenommen  hat.  Erst  verhältnismässig  spät  erscheint  der  Sarg,  der  in 
waldreichen  Gegenden  an  die  Stelle  des  grossen  Tongefässes  'Pithos'  tritt,  in  welches  in 
Griechenland  der  Tote  gezwängt  wurde  und  der  auch  nur  als  eine  Wohnung  des  Toten 
aufgefasst  wurde.  Die  später  auftretende  Feuerbestattung  bedeutet  einen  Fortschritt  in 
der  Deutung  des  Todes:  J.  Grimm  denkt  dabei  an  eine  Opferung  der  Hingeschiedenen  an  die 
Götter;  es  ist  aber  doch  wahrscheinlicher,  dass  ihr  der  Gedanke  der  Befreiung  der  Seele  aus 
den  Fesseln  des  Körpers  zugrunde  liegt,  die  so  als  ein  Rauchgebilde  schneller  zu  den  Göttern 
emporsteigt  (ßvfiög,  Seele  =  fumus,  Rauch).  Jedenfalls  haben  beide  Bestattungsarten  lange 
friedlich  nebeneinander  bestanden,  während  heute,  wie  Sehr,  mit  launigem  Humor  erwähnt, 
Verwandte  zu  Begrabender  verabscheuen,  mit  den  Verwandten  zu  Verbrennender  eine 
Grabkapelle  gemeinsam  zu  haben.  Jacob  Grimm  hielt  noch  1849  die  Rückkehr  zur  Feuer- 
bestattung für  eine  Unmöglichkeit,  Sehr,  dagegen  kann  in  seiner  wertvollen  Schrift  ein 
schnelles  Aufleben  der  neuen  Bewegung  konstatieren,  der  heute  schon  einige  zwanzig 
Krematorien  in  Deutschland  zur  Verfügung  stehen.     (P.  Wald  st  ein.) 

B.  G.  Teubners  Künstler- Steinzeichnungen  sind  wieder  um  eine  Reihe  von  neuen 
Blättern  vermehrt  worden,  aus  denen  die  Heimatfreude,  die  Grundtendenz  der  ganzen 
Sammlung,  kräftig  und  unaufdringlich  zugleich  hervorleuchtet.  Wer  die  alten  deutschen 
Städte  mit  ihren  schmalen  Gassen,  hochgiebligen  Häusern  und  traulich  stillen  Winkeln 
liebt,  sei  auf  die  schönen  Bilder  Fr.  Beckerts  hingewiesen,  der  gut  beobachtete  und  mit 
feinem  Takt  wiedergegebene  Motive  aus  Nürnberg,  Schwäbisch-Hall,  Frankfurt  a.  M.  usw. 
bietet.  Einen  vollständigen  Katalog  der  Sammlung  mit  verkleinerten  Reproduktionen  von 
etwa  170  Blättern  verschickt  der  Verlag  B.  G.  Teubner  in  Leipzig  gegen  Einsendung 
von  30  Pfennigen. 

J.  Leite  de  Vasconcellos,  Ensaios  ethnographicos,  vol.  4.  Lisboa,  A.  M.  Teixeira 
e  O-    1910.    XIV,  515  S.    kl.  8°.  Gleich    den  oben    14,    358  und    17,    246  erwähnten 

früheren  Bänden  besteht  der  vorliegende  aus  zwei  Teilen,  einem  Abdrucke  eigner  kleiner 
Arbeiten  zur  portugiesischen  Volkskunde,  die  der  verdiente  Autor  in  Zeitschriften  ver- 
öffentlicht hat,  und  in  einer  Fortsetzung  seiner  Übersicht  über  die  volkskundlichen  Studien 


Notizen.  —  Entgegnung:   W.  Schultz.  L05 

in  Portugal  bis  1909.  Unter  jenen  befinden  sich  manche  Texte  von  Sprichwörtern.  Gleich- 
nissen, Liedern,  Rätseln,  Märchen  und  Mitteilungen  über  Volkssitten:  S.  258  begegnet 
z.  B.  eine  Variante  zu  Chaucers  Merchant's  tale  (R.  Köhler,  Kl.  Schriften  2,  5GS).  S.  259 
der  Schwabe  mit  dem  Leberlein  (Montanus,  Schwankbücher  S.  562),  S.  263  die  jung- 
geschmiedete Frau    (Köhler  1,  296),    S.  272    der  Dialog   mit  dem  klugen  Knaben    (Köhler 

1,  151),  S.  290  ein  Lied  auf  St.  Katharina  usw.  Noch  erfreulicher  als  diese  Einzelbeiträge 
wirkt  die  Ankündigung  eines  abschliessenden  Werkes  über  die  portugiesische  Volkskunde, 
das  der  aufs  gründlichste  vorbereitete  Verf.  unter  der  Feder  hat. 

L.  F.  Werner,    Aus    einer    vergessenen  Ecke,    Beiträge    zur  deutschen  Volkskunde. 

2.  Auflage.  Langensalza,  H.  Beyer  &  Söhne  1910.  VIII,  208  S.  2,80  Mk.  -  Mit  Genug- 
tuung begrüssen  wir  den  neuen  Abdruck  des  oben  20,  124  angezeigten  Werkes  als 
ein  Zeichen  dafür,  dass  diese  köstlichen  Schilderungen  unverfälschten  hessischen  Volks- 
tums in  weiten  Kreisen  Anerkennung  und  Liebe  gefunden  haben.  Ein  zweiter  Teil  soll 
folgen. 

A.  Wiederaann,  Die  Amulette  der  alten  Ägypter.  Leipzig,  Hinrichs  1910.  32  S. 
0,60  Mk.  (Der  Alte  Orient  12,  1).  —  Anschaulich,  doch  ohne  Literaturangaben  schildert  W. 
den  ausgedehnten  Gebrauch  der  für  Lebende  und  Tote  gleich  wichtigen  Amulette  im 
alten  Ägypten,  ihre  Formen  und  Bedeutungen  sowie  die  zur  Abwehr  böser  Mächte 
verwandten  hieroglyphischen  Zeichen.  Neben  dem  auch  anderwärts  als  schützendes 
Zeichen  bekannten  Rindsschädel  erscheinen  z.  B.  Frosch  und  Skarabäus,  die  wegen 
ihres  vermeintlichen  Ursprunges  aus  Schlamm  und  Mist  als  Sinnbilder  der  Auferstehung 
galten. 


Entgegnung. 

(Vgl.  oben   20.  447.) 

Meine  'Gesetze  der  Zahlenverschiebung  im  Mythos  und  in  mythenhaltiger  Über- 
lieferung1 (Mitt.  d.  Anthrop.  Ges.  in  Wien  XL,  100-150)  fanden  auf  S.  4471.  des 
20.  Bandes  dieser  Zeitschrift  eine  Besprechung,  die  meines  Erachtens  dem  Inhalte  dieser 
Arbeit  in  mehrfacher  Hinsicht  nicht  gerecht  wird. 

Das  von  Röscher  bemerkte  Konkurrieren  der  9  mit  der  7  wurde  von  diesem  auf 
zahlenkundlichem  Gebiete  so  rerdienten  Forscher  noch  dahin  verstanden,  dass  die  7  älter 
sei  als  die  9.  Meine  Arbeit  hingegen  führt  den  Beweis,  dass  die  9  älter  ist  als  die  7. 
Und  zwar  habe  ich  zunächst  Roschers  eigenen  Stoff  zugrunde  gelegt  und 
dann  erst  fernere  gleichsinnige  Fälle  aus  allen  Weltgegenden  beigebracht.  Dass  nun 
meine  Arbeit  über  Röscher  hinaus  und  im  Gegensatz  zu  Röscher  einen  wesentlichen 
Schritt  vorwärts  tut,  ist  aber  aus  jener  Notiz  leider  nicht  zu  entnehmen,  obgleich  der 
Berichterstatter  doch  sozusagen  verpflichtet  gewesen  wäre,  sich  auszusprechen,  ob  mir 
die  Widerlegung  des  Roscherschen  Standpunktes  gelungen  und  das  durchschnittlich  höhere 
Alter  der  9  gegenüber  der  7  zuzugeben  sei.  Solche  Stellungnahme  zu  den  stofflichen 
Grundlagen  dieses  Teiles  meiner  Arbeit  hätte  auch  anzumerken  gehabt,  dass  derselbe  in 
Anbetracht  seines  rein  tatsächlichen  Inhaltes  noch  völlig  unabhängig  ist  von  der  durch 
Hüsing  und  mich  vertretenen  Theorie,  mittels  welcher  wir  jenen  Ersatz  der  9  durch  die 
7  und  der  3  durch  die  12  aus  'Gesetzen  der  Zahlenverschiebung"  erklären. 

Irre  führt  wohl  manchen,  dass  der  Berichterstatter  sagt,  ich  habe  'eine  der 
grammatischen  Lautverschiebung  entsprechende  Zahlenverschiebung'  belegen  wollen. 
Denn  ein  noch  Ununterrichteter  wird  nur  allzu  leicht  meinen,  ich  hätte  wunder  welch 
absonderliche  Beziehungen  zwischen  Lauten  und  Zahlen  vor  Augen  gehabt.  Die  alsbald 
folgende  Polemik  gegen  meinen  Standpunkt  ist  zu  kurz  und  unbestimmt,  um  diesen 
selbst  hervortreten  zu  lassen.  Überdies  trifft  sie  nicht  zu,  da  der  Berichterstatter  wissen 
muss,  dass  auch  Lautgesetze  Ausnahmen  haben  und  jede  Zahlenverschiebung  ein  ungleich 
grösseres  und  verschiedenartiger  gegliedertes  Gebiet    als  je  irgend  eine  Lautverschiebung 


106  Entgegnung:    R.  Eisler. 

umfasst,  so  dass  die  Zeit,  deren  sie  bedarf,  um  sich  durchzusetzen,  eben  in  verschiedenen 
Teilen  dieses  Gebietes  verschieden  und  im  allgemeinen  sehr  gross  ist. 

Schwerer  als  diese  Mäugel  und  Ungenauigkeiten  des  Gesagten  scheint  mir  der 
umfang  des  Verschwiegenen  zu  wiegen.  Meine  Arbeit  bespricht  bloss  S.  100—126,  also 
nur  ihrer  Hälfte  nach,  die  Zahlen  3  und  ü  in  ihrer  Beziehung  zu  12  und  7.  Die  andere 
Hälfte  ist  der  Untersuchung  anderer  Zahlen  gewidmet.  S.  127 — 136  wird  die  40  in 
ihrem  Zusammenhange  mit  der  Plejadenrechnung  in  ebenfalls  von  Röscher  abweichender 
und  über  ihn  hinausführender  Weise  besprochen,  S.  138— 145  linden  sich  mehr  als 
200  Belege  für  die  8  in  Europa  und  Ostasien,  und  es  wird  versucht,  ein  'System  der 
Acht"  und  den  wahrscheinlichen  Ursprung  desselben  in  Elam  nachzuweisen  —  eine  Ver- 
mutung, die  inzwischen  durch  Entdeckung  des  elamischen  Kalenders  von  anderer  Seite 
glänzende  Bestätigung  erfahren  hat. 

Völlig  ungewürdigt  blieb  auch  in  jenen  wenigen  Zeilen  mein  mythologischer  Stand- 
punkt, den  ich  in  bewusstem  Gegensatze  zu  bestimmten  Richtungen  mit  umfassendem 
Stoffe  belegte  und  eingehend  begründete.  Da  meine  Untersuchung  auch  in  last  alle 
Einzelfragen  der  Volkskunde,  die  auf  Mythisches,  Märchen,  Sagen  und  Kultisches  Bezug 
haben,  einschlägt,  wäre  meines  Erachtens  in  der  'Zeitschrift  des  Vereins  für  Volks- 
kunde' eben  auch  auf  diese  allgemeinere  Bedeutung  der  Arbeit  wenigstens  so  weit  ein- 
zugehen gewesen,  dass  der  Berichterstatter  seinen  Willen  zur  Auseinandersetzung  und 
seine  Berechtigung  zum  Urteile  erwiesen  hätte. 

Dr.  Wolfgang  Schultz. 

Unser  Referent  verzichtet  angesichts  seiner  diametral  entgegengesetzten  Anschauungen 
auf  eine  Erwiderung. 


Zur  Besprechung  von  Rob.  Eisler,  Weltenmantel  und  Himmelszelt. 

(Oben  2(),  441.) 

Die  Dankbarkeit  des  Verlässers  für  die  freundliche  Besprechung  seines  Buches  durch 
Herrn  Prof.  Richard  M.  Meyer  wird  nicht  vermindert  durch  den  entschuldbaren  Wunsch, 
folgende  Einzelberichtigungen  vorbringen  zu  dürfen.  Die  S.  442  aus  seinem  Buch 
angeführten  polemischen  Worte  gegen  die  'Puritaner  der  Exaktheit'  dürften  wohl 
etwas  anders  klingen,  wenn  bedacht  wird,  dass  es  sich  um  ein  Zitat  aus  einem 
Aufsatz  von  Theodor  Gomperz  handelt,  in  dem  sich  der  genannte,  gewiss  über 
den  Verdacht  methodischer  Zügellosigkeit  erhabene  greise  Forscher  gegen  eine  Be- 
schränkung der  nötigen  Hypothesenfreiheit  in  der  Wissenschaft  wendet.  Sehr  wichtig 
scheint  mir  im  Interesse  einer  Sache,  die  die  gründlichste  Prüfung  verdient,  die  Fest- 
stellung, dass  die  vom  Referenten  bedauerten  Rechenfehler  bei  der  Rekonstruktion  der 
Isopsephien  in  keiner  Weise  dem  Verf.  zur  Last  fallen  —  der  sie  ja  selbst  aufgedeckt 
hat  — ,  sondern  vielmehr  Wolfgang  Schultz,  dem  Entdecker  des  Systems,  der  allerdings 
dadurch  der  Anerkennung  der  Theorie  leider  sehr  geschadet  hat.  Des  Verfassers  eigene 
Resultate  sind  mit  der  Rechenmaschine  geprüft  und  absolut  zuverlässig.  Die 
vielen  gerügten  Versehen  in  der  Schreibung  moderner  Eigennamen  glaubte  der  Ver- 
lässer durch  eine  besondere  Entschuldigung  im  Vorwort,  die  dem  Referenten  entgangen 
zu  sein  scheint,  ohnehin  genügend  gebüsst  zu  haben.  Mit  der  Sache  haben  sie  wohl 
nichts  zu  tun. 

Dr.  Robert  Eisler. 


Brunner:    Protokolle.  10" 


Aus  den 

Sitzungs-Protokollen  des  Vereins  für  Volkskunde. 


6 


Freitag,  den  28.  Oktober  11)10.    Der  Vorsitzende,  Hr.  Geheiinrat  Roediger. 
beglückwünscht  Hrn.  Prof.  Dr.  Bolte,    der    für  seine  Arbeiten    auf   dem  Gebiete 
der  vergleichenden  Märchenkunde    durch    die  Leibnizmedaille  der  Akademie  aus- 
gezeichnet  worden  ist.   Er  teilte  ferner  mit,  dass  der  Vorsitzende  des  befreundeten 
Vereins    der  Sammlung    für    deutsche  Volkskunde,    Hr.  James    Simon,    von    der 
Universität    Berlin    den    Ehren-Doktortitel    der    philosophischen  Fakultät    erhalten 
hat.     Der    Königl.  Sammlung    für  deutsche  Volkskunde    ist    besonders    durch    die 
Bemühungen  des  Hrn.  Stadtverordneten  H.  Sökeland  eine  grosse  Sammlung  von 
Votiven  und  Weihegaben,    besonders  aus  Bayern   und   Österreich,    als    Schenkung 
der  Frau  Professor  Marie  Andree-Eysn  zugegangen:   sie   ist  einzig    in  ihrer  Art 
und  in  zwanzigjähriger  Sammelarbeit  von  der    als  volkskundlicher  Sehriftstellerin 
rühm liehst    bekannten   Geschenkgeberin    zusammengestellt   worden.      Dem    Verein 
für  Salzburger  Landeskunde    ist    zu    seinem  fünfzigjährigen  Jubiläum    der    Glück- 
wunsch   des    Vereins    telegraphisch    ausgesprochen    worden.  Hr.    Geheimrat 
Friedel  macht  auf  das  deutsche  Volkstrachtenfest  am  22.  November  aufmerksam, 
das  der  deutsche  Schriftstellerinnen-Bund  hier  veranstaltet.     Er    legte  sodann  eine 
Anzahl  Photographien    vor,    die    das  wenig    bekannte    märkische  Dorf    Blumberg, 
Kr.  Niederbarnim,  schildern.           Hr.  Privatdozent    Dr.    P.  Bartels    sprach    dann 
unter  Vorführung  eines  Modells  und  mehrerer  Abbildungen  über  schweizerische 
Mostpressen.   Das  Modell  stellt  eine  Presse  zur  Erzeugung  von  Birnenwein  vor. 
welche  er  in  Rorschach    bei  Brunnen    in    der  Schweiz  vorfand.     Das  Original  ist 
in    einer  Scheune    aufgestellt   und    von    bedeutender    Grösse.      Es    soll    vor    etwa 
50  Jahren    nach    einem  Muster    im  Kanton  Luzern    gebaut    sein.      Es    besteht    im 
wesentlichen  aus  Holz.     Eiserne  Pressen  sind  nicht  beliebt  wegen  des  metallischen 
Geschmacks,   der  durch  sie    dem  ausgepressten  Saft  verliehen  wird.     Auch  färben 
sie  den  Saft  durch  Oxyd    dunkel.      Vor    der  Saftauspressung  werden    die    Birnen 
in    einem    andern  Gerät    zerquetscht.      Der    Redner    betonte    das    hohe  Interesse. 
welches    gerade    solche    ursprünglichen  Geräte    und  Maschinen    erregen,    die    seit 
Jahrhunderten  sich  nicht  wesentlich  verändert  haben  und  das  Walten  des  primitiven 
Menschengeistes    neben    den  Wundem    der  modernen  Technik    bis  in  die  neuestt 
Zeit  hinein  beweisen.      Hr.  Geheimrat  Roediger  verweist    auf   ähnliche    Geräte. 
die  Moriz  Heyne  im    2.  Bande  seiner  'Deutschen   Hausaltertümer'    abgebildet  und 
besprochen  hat.      Im  alemannischen  Gebiete    ist    der  von  Treten  abgeleitete  mhd. 
Name    'Trotte''    für  Mostpressen  noch  verbreitet.      Schon    Karl    der  Grosse  verbot 
auf  seinen  Gütern  das  Austreten  des  Weines  mit  den  Füssen;  aber  dieser  Brauch 
erhielt  sich  trotzdem  im  Volke  fast  bis  heute.      Der  ebenfalls  bekannte  Ausdruck 
Kelter  für  Weinpresse  ist  dagegen  vom    lat.  calcatura  abgeleitet.     Auch  das  mhd. 
Wort  'Torkel'  ist  vom  lat.  torculare  oder  torcula  abzuleiten  und    ist  noch  als  Be- 
zeichnung für  Mostpressen  bekannt.     Dagegen  sind   die    aus    dem  Gothischen  ent- 


108  Brunner: 

nominellen  mhd.  leite  oder  lit  =  gegorenes  Getränk  ausser  Wein,  ferner  lithüs 
=  Wirtshaus  und  litgebe  =  Schankwirt,  leitfa^  =  Fass  für  gegorenes  Getränk 
jetzt  im  Volke  vergessen.  Hr.  Dr.  Ed.  Hahn  wies  auf  eine  grosse  Torkel  ander 
Strasse  nach  Sargans  hin  sowie  auf  einen  Ortsnamen  Kaltenleutgeben  in  Nieder- 
österreich, der  wohl  mit  dem  vorher  erwähnten  lit-  oder  leitgebe  zusammenhänge. 
Er  erinnerte  auch  daran,  dass  man  in  älterer  Zeit  verschiedene  Volksgetränke  aus 
mannigfaltigen  Substanzen  gekocht  habe.  —  Dann  hielt  Hr.  Stadtverordneter 
Sökeland  einen  Vortrag  über  St.  Leonhard,  den  Eisenheiligen,  und  die  Leonhards- 
fahrt  zu  Tölz.  Der  hlg.  Leonhard,  von  Sepp  der  altbayrische  Herrgott  genannt, 
soll  im  Jahre  Ö09  gestorben  sein.  Er  wurde  besonders  von  den  Zisterziensern 
verehrt.  Er  ist  Schutzpatron  der  Haustiere  (als  solcher  wird  er  1422  zuerst 
erwähnt)  und  hat  auch  alte  Beziehungen  zum  Eisen.  Nach  der  Legende  wurde 
die  Kette  'Mora'  von  einem  Gefangenen  mit  Hilfe  des  hlg.  Leonhard  gebrochen 
und  ihm  geopfert.  In  den  Mirakelbüchern  werden  auch  oft  eiserne  Leibgurte 
erwähnt,  welche  von  Hilfesuchenden  dem  hlg.  Leonhard  'verlobt'  d.  h.  angelobt 
werden.  An  Stelle  dieses  Ringes  werden  aber  oft  kleine  Eisenfiguren  mit  einem 
Ringe  um  den  Leib  geopfert.  Auch  Wachsopfer  ersetzten  den  alten  Brauch. 
Die  dem  hlg.  Leonhard  gewidmeten  eisernen  Opfertiere  wurden  früher  nur  massiv 
geschmiedet,  werden  aber  in  neuerer  Zeit  aus  Eisenblech  einfach  ausgeschnitten. 
Für  die  Annahme,  dass  diese  Tieropferform  aus  der  prähistorischen  Zeit  über- 
liefert sei,  findet  sich  kein  Beweis.  Eigentümlich  sind  im  Kultus  des  hlg.  Leonhard 
seine  von  Ketten  umspannten  Heiligtümer,  von  denen  Andree  etwa  12  nachweist. 
Bilder  solcher  Kirchen  in  Tölz  und  Ganacker  wurden  vorgeführt.  Die  Ketten 
werden,  wie  Andree  annimmt,  ursprünglich  aus  den  Hufeisen  gebildet  worden 
sein,  welche  dem  hlg.  Leonhard  geopfert  worden  waren.  Der  Vortragende  gab 
sodann  aus  eigener  Anschauung  eine  Schilderung  der  Tölzer  Leonhardifahrt  am 
6.  November  190!».  In  reichem  Schmuck  werden  die  Gefährte  um  die  Kirche 
geführt.  Mit  Wachholderruten  werden  die  Pferde  berührt,  um  ihnen  Gesundheit 
für  das  nächste  Jahr  zu  bringen.  Rote  Tücher  und  das  Dachsfell  am  Pferde- 
kumraet  sollen  die  Tiere  vor  Unheil  beschützen.  Das  Dachsfell  schützt  in  der 
Tat  durch  seinen  scharfen  Geruch  wenigstens  vor  Ungeziefer.  Aus  dem  von 
alters  her  üblichen  roten  Tuch  ist  oft  nur  Andeutung  der  roten  Farbe  am  Riemen- 
zeug geworden.  Die  Opferung  der  eisernen  Tierfiguren  in  den  Leonhardskirchen 
findet  heute  in  der  Weise  statt,  dass  sie  gegen  ein  kleines  Geldopfer  vom  Messner 
geliehen,  im  Gebet  um  den  Altar  getragen  und  wieder  dort  niedergestellt  werden. 
Man  leiht  sieh  gewöhnlich  soviel  Eisenfiguren,  als  Vieh  im  Stalle  steht.  Ausser 
diesen  vierfüssigen  Figuren  kommen  auch  eiserne  Opfervögel  selten  vor,  ferner 
landwirtschaftliche  Eisengeräte,  wie  Sensen,  Pflugschar  usw.,  die  ebenfalls  dem 
hlg.  Leonhard  geopfert  werden.  —  Hr.  Prof.  Dr.  Schulze-Veltrup  erwähnte 
eine  Kapelle  desselben  Heiligen  in  Graz.  Ausser  Leonhard  kommen  als  Pferde- 
heilige in  Deutschland  vor:  Erhard,  Martin,  Bartolomäus,  Stephan;  in  Frankreich 
■Cornelius,  in  Spanien  Antonius  und  in  Russland  noch  eine  ganze  Anzahl  anderer 
Namen.  Hr.  Prof.  Dr.  Bolte  wies  auf  die  seit  dem  IG.  Jahrh.  bemerkbare  Vor- 
liebe des  Volkes  für  Leonhard  als  Vorname  hin.  Der  Kultus  der  Heiligen  Leonhard 
•und  Martin  sei  aus  Frankreich  nach  Deutschland  eingedrungen.  Beide  haben  hier 
verschiedene  Verbreitungsgebiete.  Hr.  Geheimrat  Friedel  erinnerte  sich,  dass  der 
hlg.  Kilian  in  Kissingen  als  Patron  der  Schafe  gilt  und  fragte  nach  der  Be- 
deutung der  massiven  Leonhardsbilder,  die  zum  Anheben  benutzt  werden.  Ein 
solches  Bild  werde  im  National museum  in  München  aufbewahrt.  Hr.  Sökeland 
erklärte  sie  für  grosse  Votive,    die    zum  Teil    das  eigene  Gewicht  des  Opfernden 


Protokolle.  10!  > 

darstellen.     Hr.  Dr.  Bartels  wies  auf  Leonhardifahrten    aus  der  Mainzer  Gegend 
hin,  die  neuerdings  im  'Globus'  beschrieben  sind. 

Freitag,  den  25.  November  1910.  Der  Vorsitzende,  Hr.  Geheimrat  Roediger, 
machte  davon  Mitteilung,  dass  Hr.  Prof.  Bolte  aus  Mangel  an  Zeit  die  Redaktion 
der  Zeitschrift  des  Vereins  niedergelegt  habe,  die  er  neun  Jahre  geführt  hat. 
An  seine  Stelle  tritt    Hr.  Dr.  Michel.     Der  Verein    ist    Hrn.  Prof.  Bolte   für  die 
langjährige  grosse  Mühewaltung  und  Opferfreudigkeit  zum  herzlichsten  Dank  ver- 
pflichtet, denn  das  Ansehen,  das  er  geniesst,  beruht  wesentlich  auf  der  Zeitschrift, 
bei   deren    Leitung    Hrn.    Prof.    Bolte    eine    ungewöhnlich    umfassende    Literatur- 
kenntnis zustatten    kam.     Hr.  Prof.  Bolte    teilte   mit,    dass  in  San  Jago  di  Chile 
eine  Gesellschaft  für  chilenische  Volkskunde  gegründet  worden  sei,  die  auch  eine 
eigene  Zeitschrift  herausgebe  (s.  o.  S.  88 f.).    Frl.  Elisabeth  Lemke  hielt  sodann  unter 
Vorführung  zahlreicher  Lichtbilder  einen  Vortrag  über  volkstümliche  Puppen. 
Die  Erfindung  der  Puppe  als  Spielzeug  ist  uralt.    In  Ägypten  findet  sie  sich  schon 
aus  einer  Zeit,  die  1000  Jahre  v.  Chr.  Geburt  liegt.    In  prähistorischen  europäischen 
Gräbern  kommen  Puppen  zuweilen  vor,  wenn  auch  in  äusserst  rohen  Formen.    Aber 
diese  rohe  Form  ist  an  sich  kein  Merkmal  des  Alters,  weil  auch  in  neuester  Zeit 
noch  hier  und  da  die  einfachsten  und  hässlichsten  Puppenformen  vorhanden  sind,  wie 
die  Puppen  mit  Kartoffelköpfen  und  die  aus  Binsen  und  Stroh,  die  von  dem  Land- 
volk   mitunter    höchst    primitiv    zusammengestellt   werden.      Gelenkpuppen    finden 
sich  in  Nürnberg    im    14.  Jahrh.  vor.     Zahlreich  waren    die    vorgeführten  Puppen 
aus  Italien,    wo  man  sie  oft  aus  Pappe  herstellt   und    auch  als  Klapper  ausbildet. 
Blondes  Haar  ist  dort  besonders  beliebt.   Nonnenpuppen  werden  Kindern  geschenkt, 
die  Nonnen  werden  sollen.     Den  kürzesten  Lebenslauf  haben  die  häufigen  Puppen 
zum  Essen.     Eine    der  berühmtesten  Puppen    ist  diejenige,    welche    bei    den  Auf- 
führungen der  klassischen  Zeit    von  Weimar  gebraucht  wurde    und    Frieda    hiess. 
Goethe    hat    ihrer  Erwähnung   getan    und    ihr    30  Unsterblichkeit    verschafft.     Hr. 
Dr.  Bartels    zeigte  einige  Lichtbilder    zur  Erläuterung    des    bekannten    und    weit 
verbreiteten  Heilbrauches  des  Durchziehens  oder  Abstreifens  aus  Winkel  im 
Rheingau.     Hier  pflegt   man    zu  diesem  Zweck    einen   jungen  kräftigen  Steinobst- 
baum zu  spalten,    so  dass  er  oben    und  unten    noch  zusammenhängt,    und  kranke 
Kinder   mittags    zwischen  11—12   Uhr    dreimal    mit    dem    Kopf   voran    hindurch- 
zuziehen unter  Anrufung  der  heiligen  Dreieinigkeit.     Das  geschieht  mehrere  Tage 
hintereinander.     Dann  wird    der  Baum    mit    einem  Verbände   versehen.     Heilt  die 
Wunde  des  Baumes,    dann  wird    auch    nach    dem  Volksglauben  das  Kind  gesund 
werden.     Namentlich  Bruchschäden  werden    so  behandelt,    und    man  findet  solche 
bandagierten  Bäume  häufig  in  der  Gegend.     Über  die  Bedeutung  des  Brauches  ist 
man  verschiedener  Ansicht.     Die    einen  fassen    ihn  als  Wiedergeburtsakt,    andere 
als  ein  symbolisches  Abstreifen    von  Krankheit    und  Sünde    auf,    und    eine    dritte 
Erklärung  nimmt  eine  Wanderung  des  Leidens  in  die  Baumseele  an.    Vgl.  hierzu 
M.  Andree-Eysn    'Volkskundliches'    S.  9.     Schon    im    römischen  Altertum    scheint 
der  Brauch    bekannt   gewesen  zu  sein    (Marcellus).     Hr.  Geheimrat  Fr i edel    be- 
zeugte den  Brauch    aus    dem    Kr.    Ruppin.      Namentlich    werden    Bucklige    durch 
Spalten  gezogen.     Auch    ist    die  Hainbuche  und  Esche  zu  solchen  Kuren    beliebt. 
Verwandt  ist  das  Verpflöcken  von  Krankheiten,  das  er  am  Krähensee  bei  Riiders- 
dorf,  nahe  Berlin,  beobachtet  habe.    Hr.  Dr.  Ed.  Hahn  erinnerte  an  den  Klabauter- 
mann, der  die  Seele  eines  Kindes  sein  soll,  das  durch  einen  Baum  gezogen  wurde, 
um  Bruchschaden    zu  heilen.     Stirbt  das  Kind,  so  fährt  die  Seele    in    den    Baum 
und  wird  zum  Klabautermann,    wenn    dieser  Baum  zum  Kiel    eines  Schiffes  wird. 
In  Frankreich  gehörten  alle  Krummhölzer  im  Walde  der  französischen  Flotte,  und. 


1]0  Brunner: 

nach  dem  Volksglauben  steckt  im  Krummholze  die  Seele  eines  Kindes.  Hr. 
I>r.  Richard  Böhme  besprach  zum  Schluss  einige  literarische  Neuigkeiten: 
R.  Wossidlo  'Aus  dem  Lande  Fritz  Reuters',  eine  Darstellung  der  Erlebnisse 
auf  des  Verfassers  Wanderungen  zur  Sammlung  von  Volksüberlieferungen  und  eine 
Nachlese  derselben:  Wilhelm  Busch  'Ut  61er  Welt',  München  1910,  Märchen  und 
Sagen,  bereits  um  1850  gesammelt,  aber  wegen  der  Grimmschen  Publikationen  zu 
derselben  Zeit  damals  nicht  herausgegeben;  K.  Deicke  'Des  Jobsiadendichters 
0.  A.  Kortum  Lebensgeschichte',  Dortmund  1910. 

Freitag,  den  16.  Dezember  1910.  Der  Vorsitzende,  Hr.  Geheimrat  Roediger. 
widmete  dem  verstorbenen  Mitgliede,  Univ.-Prof.  Dr.  Bernhard  Kahle  in  Heidel- 
berg warme  Worte  des  Gedenkens.  Die  Anwesenden  erhoben  sich  von  ihren  Plätzen, 
um  den  Heimgegangenen  zu  ehren.  Es  wurde  dann  ein  kleines  neu  erschienenes 
Buch  des  Hrn.  Rektor  Monke  'Berliner  Sagen  und  Erinnerungen'  vorgelegt.  Der 
Vorsitzende  machte  auf  die  in  grosser  Zahl  ausgestellten  Arbeiten  des  Hrn.  Maler 
Rieh.  Edler  aufmerksam,  welche  märkische  Landschaften  und  märkisches  Volksleben 
aus  der  Umgegend  von  Fichtengrund  a.  d.  Nordbahn  zum  Vorwurf  haben.  Frl. 
Elisabeth  Lemke  wies  in  längeren  Ausführungen  auf  die  von  Frau  Christine 
Duchrow  aus  Tempelhof  ausgestellten  kunstvollen  Spitzenstrickereien  hin  und  gab 
einen  geschichtlichen  Rückblick  auf  die  Entwicklung  dieser  Kunst,  die  vor  etwa 
vier  Jahrhunderten  in  Spanien  zuerst  geübt  wurde.  Man  fertigte  dort  gestrickte 
Beinkleider  für  die  männliche  Tracht,  und  aus  diesen  entwickelten  sich  um  1550 
die  Strümpfe.  Die  Kunst  des  'Strickeisens'  wurde  bald  volkstümlich,  und  alter- 
tümliche Muster  werden  aus  anderen  Techniken  herübergenommen,  umgebildet  und 
in  Musterbändern  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  übertragen.  Die  in  den  Städten 
seit  Jahrzehnten  vergessene  Spitzenstrickkunst,  ausgezeichnet  durch  grosse  Halt- 
barkeit ihrer  Erzeugnisse,  wird  von  Frau  Duchrow  jetzt  in  regelmässigen  Kursen  ge- 
lehrt. Der  Unterzeichnete  legte  dann  eine  grössere  Anzahl  neuer  Erwerbungen 
der  Königl.  Sammlung  für  deutsche  Volkskunde  vor.  Unter  Bezug- 
nahme auf  den  in  der  vorigen  Sitzung  besprochenen  volkstümlichen  Heilbrauch 
des  Durchziehens  wurde  ein  von  Hrn.  von  Preen  eingesandter  Eichenscheit  mit 
mehreren  grossen  Bohrlöchern  sowie  eine  Anzahl  von  Kupfermünzen.  Haaren  und 
Wachspfropfen  gezeigt,  welche  in  einem  solchen  Bohrloche  aufgefunden  wurden 
und  so  den  im  Innviertel,  Oberösterreich,  bezeugten  Heilbrauch  des  Verpflöckens 
oder  Einkeilens  von  Krankheiten  veranschaulichen  können.  Ein  Bauopfer  aus 
Berlin  wurde  sodann  vorgelegt,  das  aus  einer  ßleimarke  mit  Namen,  Datum  1669 
und  Maureremblemen  sowie  einer  Rattenmumie  bestand.  Beides  wurde  in  einem 
gemauerten  Hohlraum  innerhalb  des  Mauerwerkes  im  Hause  des  Hofjuweliers 
Teige  gefunden.  Das  Baujahr  des  Hauses  ist  auch  anderweitig  bekannt  und 
stimmt  mit  der  Angabe  der  Bleimarke  überein.  Aus  der  Sammlung  M.  Andree- 
Eysn  stammen  vier  Wetterkerzen  aus  Wachs  von  schwarzer  (Altötting)  und  roter 
(Maria  Einsiedel)  Farbe.  Sie  werden  in  Bayern,  Salzburg,  Tirol  usw.  bei  schwerem 
Unwetter,  besonders  in  der  Nacht,  entzündet  zum  Schutze  von  Haus  und  Hof. 
Derselben  Sammlung  gehören  einige  Holz-Puppenköpfe  an,  die  von  einer  75jährigen 
Frau  in  Südtirol  mit  einfachem  Werkzeug  und  wenigen  Schnitten  hergestellt 
worden  sind  und  um  ein  paar  Pfennige  verkauft  wurden.  Sie  bieten  in  ihrer 
derb  naturalistischen  Art  ein  charakteristisches  Bild  des  Volksstammes  dar.  Das 
Friesenmuseum  in  Wyk  auf  Föhr  hatte  zur  Vorlage  in  der  Sitzung  einige  der 
früher  auf  der  Insel  als  Weihnachtsbäume  üblichen  Holzgerüste  in  Form  eines 
Mastes  mit  Raaen  eingesandt.  Diese  Geräte  sind  mit  Stacheln  besetzt,  an  welchen 
zu  Sylvester  Kuchen,  Pflaumen.  Nüsse,  Rosinen,    Zucker  usw.   angeheftet   wurden. 


Protokolle.  111 

Das  ganze  Gerüst  wurde  so  ans  Fenster  gestellt,    woher    die   Hache  Form    mit  zu 
erklären  ist.     Das  eine  Gerät    zeigt    durch  die   hegrenzende  Holzleiste  ringsherum 
deutlich  die  Form  eines  betakelten  Segelschiffsmastes.      Heute  ist  diese  alte  Sitte 
der  Föhringer  schon  fast  vergessen,    und  man  gebraucht  den   lichtergeschmückten 
Tannenbaum  wie    auf    dem  Festlande    zu  Weihnachten.     Ein  Kirchenleuchter  aus 
Holz  mit  eisernem  Stachel  zum  Einstechen  in  die  Kirchenbank  und  eiserner  Licht- 
tülle ist  der  Sammlung  durch    Hrn.  Lehrer  Scharnweber    aus  Luckau  zugegangen. 
Diese  Leuchter  brachten  sich  die  Besucher  vor  dem  Jahre  1860  selbst  mit  in  die 
Kirche.     Eine  kleine  Sammlung  Lausitzer  Keramik    und   Silberschmucksachen  aus 
Schlesien    wird  Hrn.  Direktor    Dr.  Minden  verdankt.      Vorgezeigt    wurden    daraus 
Steingutteller    mit    aufgedruckten  Abbildungen    des  früheren  Papiergeldes    aus  der 
Fabrik    Tiefenfurth    bei    Bunzlau    sowie    Filigran -Bauernschmuck,    der  etwas  an 
niederdeutsche  Formen  erinnert.     Zur  Volkstracht  der  Insel  Poel    in  Mecklenburg 
wurden  zwei  Brusttücher  älterer  Zeit  vorgelegt,  von  denen   ein   seidenes  noch  mit 
dem   Zollstempel  Waren  1790,  der  Grenze  zwischen  Mecklenburg   und  Schweden, 
versehen   ist.     Ferner    kamen    noch    zur  Vorlage    eine  Nachbildung    eines  zepter- 
fürmigen  Teidingstabes  aus  dem  Landesarchiv  zu  Salzburg  (Sammlung  M.  Andree- 
Eysn),    ein    ähnlicher  Stab    mit  Schwurhandendigung  und   farbiger  Bemalung,    an- 
geblich   aus  der  Schweiz,    sowie    ein  Schafferstab    einer  mecklenburgischen  Zunft. 
Schliesslich    wurden    noch    einige    aus    der    Lausitz    stammende  Drucksachen  von 
volkstümlichem  Interesse  vorgelegt,  nämlich  ein  sog.  Himmelsbrief,  zwei  Passions- 
darstellungen und  mehrere  sog.  Planeten,  das  sind  Prophezeiungen  für  Leute,    die 
unter  einem  gewissen  Sternbilde  geboren  sind.      Hr.  Pfarrer  Gross    in    Sacro    bei 
Forst  hat  diese   jetzt  schon  seltenen  Drucksachen,    die    in   bekannten  Neuruppiner 
Fabriken  angefertigt    und  besonders  von  Wenden    gekauft  wurden,    dem    Museum 
verehrt.     In  der  anschliessenden  Besprechung  wies  Hr.  Geheimrat  Friedel  darauf 
hin,    dass    es    für    die    noch    nicht    geklärte  Frage  über  Alter    und  Ursprung    des 
Weihnachtsbaumes  von  Wichtigkeit  sein  dürfte,  das  Alter  der  Föhringer  Sylvester- 
baume   genauer    festzustellen.     In  betreff    des  vorgelegten  Berliner   Bauopfers    er- 
innerte   er    an  den  südslavischen  Gebrauch,    in  einem  Neubau    ein  Kind  über  die 
Schwelle    zu    heben    und    im    gleichen  Augenblick,    wo    der  Schatten    des  Kindes 
darüber    ist,    den  Schlussstein    dort    einzumauern.     Was    die  Gebräuche    des  Ein- 
keilens  von  Krankheiten  in  Bäume  betreffe,    so    sind  seiner  Ansicht  nach  im  vor- 
liegenden Eichenscheit  Bohrgänge  wahrscheinlich  von  Lucanus  cervus  oder  Cerambyx 
heros  vorhanden,  die  mittels  Nachbohrens  von  Menschenhand  zu  dem  besprochenen 
Zwecke  benutzt  sind.      Hr.  Rektor  Monke    wies    auf   seine   Beobachtungen    über 
volkstümliche  Heilbriiuche  in  der  Mark  hin.    Vielleicht  seien  auch  die  öfter  unter 
den    Fundamenten    von   Gebäuden    vorkommenden    Funde    von    Schweinegerippen 
als  Bauopfer  zu  deuten.      Hr.  Oberrevisor  Maurer    ist  der  Ansicht,    dass  es  sich 
bei  so  vergrabenen  Tieren  nicht  notwendig    um  Bauopfer    handele,    sondern    dass 
vielfach  vom  Volke  Haustiere    unter    der  Schwelle    des    Stalles  vergraben  worden 
seien,  von  denen  man  annahm,  dass  sie  durch  Behexung  zugrunde  gegangen.    Hr. 
Geheimrat  Roediger  wies  mit  Bezug  auf  den  vorgelegten    Stab   mit  Schwurhand 
auf  die  alte  Wendung  hin:  'Den  Eid  staben",  d.  h.  den  Wortlaut  des  Eides  feststellen. 
Hr.  Dr.  Michel  sprach  dann  über  die  ältesten  Berliner  Weihnachtsspiele. 
Grundlegend    für    das  Studium    des  Volksschauspieles    und  des  Weihnachtsspieles 
sind  die  Arbeiten  von  Karl  Weinhold.    Das  spätere  mittelalterliche  Drama  ist  das 
Handiungsdrama  par  excellence;    alle  Vorgänge   werden    höchst    anschaulich    aus- 
geführt und  nicht  nur  angedeutet,    wie  es  auf   der  Humanistenbühne  der  Fall  ist. 
Diese  besteht  in  der  Regel  nur  aus  einem  einfachen  Podium,  an  dessen  Rückseite 


LI -2 


Brunner:    Protokolle. 


sich  eine  oder  mehrere  Türen  befinden.  Für  eine  solche  Bühne  ist  das  älteste 
Berliner  Weihnachtsspiel  um  1540  von  Knaust  (Chnustinus)  geschrieben.  Mit 
starkem  Gefühl  für  wirksame  Stoffe  begabt,  hat  er  ein  nicht  dem  Inhalt,  wohl 
aber  der  Form  nach  originelles  Spiel  den  Berlinern  dargeboten.  Der  zweite 
Berliner  Dramatiker,  den  wir  genauer  kennen,  Pfund  (Pondo),  lebte  etwa  gleich- 
zeitig mit  Shakespeare.  Auch  er  war  vorwiegend  für  die  Humanistenbühne  tätig 
und  hatte  wie  Knaust  Sinn  für  interessante  Stoffe.  158!»  wurde  am  Berliner  Hofe 
ein  Weihnachtsspiel  aufgeführt,  das  im  allgemeinen  Pondo  zugeschrieben  wird, 
ohne  dass  die  Sache  bisher  genügend  untersucht  wäre.  Es  wird  in  dem  Spiele 
auffallend  viel  musiziert,  sicherlich,  weil  Kurfürst  Johann  Georg  sehr  musikliebend 
war,  worüber  man  in  dem  neuen  Buch  von  Curt  Sachs  'Musik  und  Oper  am 
Kurbrandenburgischen  Hofe'  (Berlin.  Bard  1910)  eingehende  Auskunft  findet.  Im 
Verlauf  des  Spieles  tritt  ein  gewisser  Zwiespalt  zwischen  der  mittelalterlichen  und 
modernen  humanistischen  Bühneneinrichtung  hervor.  Bolte  hat  nachgewiesen, 
dass  der  Verfasser  des  Spiels  ganz  ungeniert  ältere  Dramen  ausgeschrieben  hat. 
Hr.  Prof.  Dr.  Bolte  bemerkte  im  Anschluss  an  den  Vortrag  noch,  dass  vor  einer 
Reihe  von  Jahren  das  Pondosche  Weihnachtsspiel  von  den  Milchjungen  der 
Meierei  Bolle  in  Berlin  recht  gut  aufgeführt  worden  ist. .  —  Die  statutenmässige 
Neuwahl  des  Vereinsvorstandes  ergab  Wiederwahl  der  bisherigen  Mitglieder  auch 
für  das  Jahr  1911.  —  Hr.  Geheimrat  Roediger  teilte  mit,  dass  die  nächste  Sitzung 
am  '20.  Januar  1911  zugleich  der  Erinnerung  an  das  zwanzigjährige  Bestehen  des 
Vereins  gewidmet  sein  solle.  Mit  der  Vorbereitung  einer  kleinen  Feier  wurden 
die  Herren  Friedel,  Fiebelkorn.  Maurer  und  Edler  beauftragt. 


Berlin. 


Karl   Brunner. 


,3 


I 


fieoojciHKa  Kyflapuua  c*a 
Ka*'iapK0M  ua  Bpxy. 

(CKuiicKit  Hpiia  Popa). 


Abbildung  zu  dem  Aufsalz  von  Rhamni,  oben  S.  48. 


Katholische  Überlebsel  beim  evangelischen  Volke. 

Von  Richard  Andree. 


Regel  ist,  dass  jede  neu  zur  Herrschaft  gelangende  Religion  von 
ihrer  durch  sie  unterdrückten  Vorgängerin  mehr  oder  minder  auch  im 
Kultus  beibehält.  Sie  schleppt  diese  Elemente  durch  die  Zeiten  mit  sich 
fort,  ändert  sie,  passt  sie  ihren  Zwecken  an  und  macht  sie  dabei  öfter  so 
unkenntlich,  dass  nur  ein  sorgfältiges  Studium  den  Ursprung  wieder  er- 
kennen lässt. 

So  ist  es  auch  dem  Christentum  ergangen,  das  viel  Jüdisches  und 
Heidnisches  in  sich  aufgenommen  hat.  Von  den  Juden  hat  es  die  Woche 
und  deren  Einteilung;  das  christliche  Osterfest  ist  aus  dem  jüdischen 
Passahfeste  hervorgewachsen  usw.,  so  dass  man  sagen  kann,  die  christliche 
Kultusordnung  sei  jüdischer  Herkunft.  Und  ebenso  entstammt  vieles  dem 
Heidentum.  Die  wichtigste  Ergänzung  des  christlichen  Pestkalenders  aus 
dem  Heidentum  ist  das  Weihnachtsfest,  auch  Bitt-  und  Sühngänge  und 
Heiligenfeste  sind  von  der  Kirche  nach  Massgabe  heidnischer  Feste  fixiert 
worden,  Kerzen  und  Weihrauch  entstammen  dem  Heidentum,  und  wenn 
der  Heiligenkult  auch  aus  der  Verehrung  der  Märtyrer  herauswuchs,  so 
nahm  er  doch  immer  mehr  die  Formen  des  Heroenkults  an.  Auch  Weih- 
geschenke und  Amulette  entlehnte  die  Kirche  aus  dem  Heidentum.  Dass 
der  Übergang  von  einer  Religion  in  die  andere  sich  nur  stufenweise  voll- 
ziehen konnte,  liegt  auf  der  Hand.  Manches,  was  noch  heidnisch  war, 
wurde  von  den  Bekehrern  in  politischer  Weise  anfangs  noch  geduldet,  um 
es  dann  später  zu  unterdrücken,  während  anderes  durch  die  Jahrhunderte 
mitgeschleppt  wurde  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Und  darüber  sind  anderthalb 
Jahrtausende  vergangen. 

Ist  es  da  zu  verwundern,  dass  bis  zur  Gegenwart  im  Volke  bei  den 
Bekennern  der  evangelischen  Kirche,  die  doch  kaum  400  Jahre  alt  ist, 
sich  noch  echt  katholische  Gebräuche  und  Anschauungen  erhalten  haben, 
die  von  jener  verworfen  werden?  Zähe  hält  das  Aolk  an  mancherlei  auf 
diesem  Gebiete  fest,  zumal  in  jenen  Gegenden,  wo  die  Konfessionen 
gemischt  oder  einander  benachbart  sind  und  das  katholische  Beispiel  den 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.   1911.   Heft  2.  8 


]]4  Andree: 

Evangelischen  stets  vor  Augen  schwebt.  Die  vielen  Äusserlichkeiten  des 
katholischen  Kultus,  die  im  evangelischen  fortfielen,  trugen  dazu  bei,  dass 
das  Volk  darin  etwas  Besonderes  und  kräftiger  Wirkendes,  als  im  ein- 
fachen, nüchternen  protestantischen  Kultus  erblickte.  Die  von  den 
Protestanten  mit  der  Zeit  nicht  mehr  verstandenen  katholischen  Kult- 
handlungen erschienen  als  etwas  Geheimnisvolles,  regten  die  Einbildungs- 
kraft an,  und  das  Volk  schrieb  ihnen  eine  besondere  Kraft  zu.  Und  diese 
Kraft  übertrug  man  auf  die  katholischen  Geistlichen,  die  man  vielfach 
mit  Zauberkräften  ausgestattet  wähnte  und  nach  dieser  Richtung  hin  den 
protestantischen  als  überlegen  ansah. 

Ich  habe  das  im  Hildesheimschen,  wo  die  Konfessionen  dureheiuander- 
o-ehen,  erfahren.  Alles,  was  sich  auf  Zauberei  und  abergläubige  Handlungen 
bezieht,  kann  dort  weit  wirkungsvoller  von  einem  katholischen  Geistlichen 
als  von  einem  evangelischen  ausgeführt  werden,  wozu  manche  katholische 
Handlung,  wie  das  Weihen  neuer  Häuser,  das  Ausräuchern  von  Ställen  usw., 
Anlass  gegeben  haben  kann.  Allen  Ernstes  erzählte  mir  noch  ein  'Alt- 
vater' namens  Brandes,  dass,  als  in  ölsburg  ein  Verstorbener  namens 
Rittmeyer  spukend  in  seiner  Wohnung  umging  und  die  Überlebenden 
belästigte,  man  einen  katholischen  Geistlichen  gerufen  habe,  um  den  Geist 
zu  bannen,  'denn  ein  lutherischer  kann  so  was  nicht'1).  Im  Oldenburgischen 
haben  wir  die  gleiche  Volksmeinimg.  Man  erzählt:  Zu  Vechta  stritten 
sich  ein  evangelischer  und  ein  katholischer  Geistlicher  darüber,  welche 
von  beiden  Religionen  die  stärkere  sei  und  ihren  Priestern  die  meiste 
Gewalt  über  die  bösen  Geister  gebe.  Um  das  auszuproben,  holte  man 
einen  'bösen  Geist'  aus  der  Heide  und  setzte  ihn  auf  einen  Tisch,  da 
wurde  er  zu  einem  schwarzen  Hund.  Der  katholische  Geistliche  steckte 
ihm  zum  Zeichen  seiner  Gewalt  den  Arm  bis  an  die  Schulter  in  den 
creöffneten  Rachen  und  zog  ihn  wieder  unversehrt  heraus.  Als  aber  sein 
protestantischer  Kollege  das  gleiche  tun  wollte,  schnappte  der  Hund  zu, 
so  dass  jener  eiligst  zurückfuhr.  Da  ward  offenbar,  bei  wem  die  grössere 
Kraft  zu  finden  war2). 

In  Ostpreussen  bitten  Evangelische  bei  schwerem  Unglück,  besonders 
auch,  wenn  Verstorbene  umgehen,  um  die  Fürbitte  katholischer  Priester 
als  besonders  wirksam  und  machen  Geschenke  au  deren  Kirchen.  Das 
protestantische  Landvolk  Ost-  und  Westpreussens  wendet  sich,  wenn  es 
durch  unmittelbare  Vermittlung  des  Himmels  etwas  erreichen  will,  z.  B. 
die  Entdeckung  eines  Diebstahls,  nicht  an  seinen  eigenen,  sondern  an 
einen  katholischen  Geistlichen,  und  wenn  dort  katholische  Prozessionen 
nach  Wallfahrtsorten  ziehen,  so  geben  viele  evangelische  Leute  den  Wall- 
fahrern Geld,  um  dort  für  sie  zur  Heilung  von  Krankheiten  beten  zu  lassen3). 


1)  R.  Audree,  Braunschweiger  Volkskunde2  S.  377. 

2)  Strackerjan,  Aberglaube  aus  Oldenburg  2,  4  (1867). 

3)  Wuttkc,  Der  deutsche  Volksaberglaube8  §207. 


Katholische  l'berlebsel  beim  evangelischen  Volke.  115 

Im  Beginne  der  Reformation  herrschte  selbstverständlich  eine  Art 
Verwirrung-  in  der  Kirche,  und  die  Besucher  richteten  sich  noch  nach  den 
alten  längst  gewohnten  Bräuchen,  die  erst  allmählich  abgestellt  wurden. 
Ich  will  diese  Übergangsverhältnisse  an  dem  Beispiele  der  Kirchen- 
ordnung Joachims  II.  von  Brandenburg  im  Jahre  1540  erläutern,  in  welcher 
viele  katholische  Elemente  erhalten  blieben.  Bei  der  Taufe  wurden  der 
Exorzismus,  die  Salbung  mit  Chrysam,  das  Kreuzmachen  beibehalten. 
Auch  die  Beichte  beliess  Joachim  II.,  lateinische  Lieder,  Chorröcke  und 
Kasein  blieben.  Prozessionen  am  Markustage,  zu  Ostern  und  am  Palm- 
sonntage, die  katholischen  Feste  Circumcisio  domini  und  Fronleichnam 
blieben,  ebenso  die  Feste  der  Heiligen  Stephan,  Lorenz,  Martin,  Katharina 
und  Fasttage  wurden  mit  der  Begründung  beibehalten,  „weil  Brandenburg 
f  berfluss  an  Fischen  habe."  Diese  aus  der  katholischen  Kirche  herüber- 
oenommenen  Bestandteile  der  Kirchenordnung  Joachims  II.  verschwanden 
erst  nach  und  nach  nicht  ohne  erbitterte  Kämpfe1). 

Auch  in  der  Beurteilung  des  Weihwassers  herrschte  Verwirrung. 
Luther  war  in  dieser  Beziehung  anfangs  schwankend  und  unentschieden. 
Dem  katholischen  Begriffe  des  benedizierten  Wassers  nachgebend  (im 
kleinen  und  grossen  Katechismus)  erklärte  er  das  Taufwasser  als  göttlich, 
himmlisch,  heilig  und  selig  Wasser,  während  die  evangelische  Kirche  dann 
die  besondere  Konsekration  des  Taufwassers  abschaffte2). 

Aber  noch  jetzt  wird  die  dem  Weihwasser  innewohnende  Kraft  in 
evangelischen  Teilen  Oldenburgs  gewürdigt.  Man  besprengt  damit  die 
Stuben,  um  bösen  Zauber  von  diesen  oder  den  Menschen  abzuhalten.  In 
der  oldenburgischen  protestantischen  Geest  werden  katholische  Geistliche 
zu  diesem  Zwecke  aufgesucht3). 

Die  heilkräftigen  heiligen  Quellen  und  Wässer,  die  in  un- 
gemessener Zahl  heute  noch  in  katholischen  Kapellen  und  an  Wallfahrts- 
orten sprudeln,  von  Hunderttausenden  von  Pilgern  benutzt  werden  und 
ein  reinliches  Erbstück  des  Heidentums  sind,  haben  noch  vielfach  ihre 
Bedeutung  auch  bei  Evangelischen  behalten  und  werden  von  diesen,  wie 
von  den  Katholiken  benutzt,  wiewohl  die  evangelische  Geistlichkeit  dagegen 
kämpfte.  In  der  Übergangszeit  war  die  Quellenverehrung  natürlich  noch 
weit  stärker,  während  sie  heute  nur  noch  sporadisch  bei  J]vangelischen 
nachweisbar  ist.  Eine  Wolfenbüttler  Handschrift  vom  Jahre  1584,  also 
bald  nach  der  Durchführung  der  Reformation  im  Braunschweigischen, 
berichtet  von  einer  solchen  Quelle  bei  Adersheim,  aus  der  die  Leute 
Heilung  tranken  und  bei  der  sie  noch  ganz  in  alter  Art  opferten,  indem 
sie  an  die  benachbarten  Sträucher  Lumpen,  Ilosenbänder,  Nesteln,  Kränze, 


1)  J.  Sonneck,  Die  Beibehaltung  katholischer  Formen  in  der  Reformation  Joachims  1 1. 
von  Brandenburg.     Rostocker  Dissertation  1903,  S.  11. 

2)  H.  Pfannenschmid,  Das  Weihwasser  1869,  S.  104. 

3)  Strackerjan  a.  a.  0.  2,  10. 

8* 


]_]_(;  Andree: 

Kerbhölzer  und  andere  Dinge  anknüpften1),  ein  vielfach  auch  anderwärts 
bekannter  Brauch. 

Kirchliche  Verbote  von  protestantischer  Seite  gegen  die  ursprünglich 
heidnische  und  durch  den  Katholizismus  überkommene  Quellenverehrung 
sind  nicht  immer  befolgt  worden,  und  so  wuchert  sie  noch  hier  und  da 
fort.  Die  St.  Veitskapelle  zu  Wieseht  in  Mittelfranken  war  in  katholischer 
Zeit  ein  berühmter  Wallfahrtsort,  der  15.">9  evangelisch  wurde.  Bis  zum 
Jahre  1671  befand  sich  noch  unter  der  Kanzel  ein  vergittertes,  mit  Wasser 
gefülltes  Loch,  das  man  in  Töpfen  heraufzog  und  gegen  Augenschmerzen 
nach  alter  Art  benutzte.  Der  evangelische  Pfarrer  schrieb  damals  an  das 
Konsistorium  zu  Ansbach:  „Ich  habe  dieses  Unwesen  zwar  insoweit 
abgestellt,  dass  es  in  meinem  Beisein  nicht  mehr  verrichtet  wird,  aber 
wenn  ich  hinweg  bin,  geht  es  gleichwohl  vor"2).  —  Schon  im  18.  Jahr- 
hundert kämpfte  das  evangelische  Konsistorium  zu  Lauterbach  in  Hessen 
gegen  ein  ähnliches  Augenwasser,  drohte  selbst  mit  harten  Geldstrafen, 
aber  ohne  Erfolg.  Noch  jetzt  wird  das  Regenwasser,  das  sich  in  einem 
alten  gotischen  Taufstein  bei  der  evangelischen  Totenkapelle  von  Meiches, 
hessisches  Amt  Schotten,  sammelt,  als  heilkräftiges  Augenwasser,  wie  in  katho- 
lischer Zeit,  benutzt,  in  Flaschen  geholt  und  sogar  bis  Amerika  verschickt3). 

Und  im  protestantischen  Dänemark  ist  es  gerade  so,  auch  von  dort 
finde  ich  ein  Zeugnis,  dass  gerade  heilige  Quellen  und  deren  Wirkungen 
sich  ungewöhnlich  zähe  erhalten.  Hans  Christian  Andersen  hat  uns  in 
seinem  Roman  'Nur  ein  Geiger'  eine  genaue  Schilderung  von  dem  Kult 
hinterlassen,  der  bei  der  St.  Regissenquelle  in  der  Gegend  von  Nyborg 
zwischen  den  Dörfern  Oerebäk  und  Frörup  betrieben  wird.  Die  Quelle 
hat  den  Namen  nach  einer  gottesfürchtigen  Frau,  deren  Kinder  ermordet 
wurden.  An  der  Stelle  aber,  wo  dieses  geschah,  entsprang  eine  herrliche 
Quelle,  über  welcher  fromme  Pilger  eine  Kapelle  erbauten.  Jedes  Jahr, 
an  St.  Boelmessentag,  wurde  bis  zur  Reformationszeit  hier  gepredigt  und 
erwies  sich  die  Quelle  als  heilkräftig.  Und  das  ist  sie  in  der  Meinung 
des  evangelischen  Volkes  bis  jetzt  geblieben.  Nur  treten  die  Wirkungen 
in  der  Johannisnacht  auf.  Dann  bringt  man  die  im  Freien  lagernden 
Kranken  dorthin  und  wäscht  sie  mit  dem  Quellwasser.  Die  Quelle  ist 
von  hohen  Bäumen  umschattet,  an  denen  das  Volk  noch  heutigen  Tages  nach 
katholischer  Sitte  seine  Opfer  befestigt,  die  in  einigen  Lichtern  bestehen. 

Sehen  wir  so  schon  nach  diesen  Beispielen,  dass  die  alte  Quellen- 
verehruug  sich  aus  dem  Katholizismus  in  die  protestantische  Zeit  hinüber- 
gerettet hat,  so  ist  dieses  in  noch  weit  gesteigertem  Masse  bei  den  Wall- 
fahrten und  der  Darbringung  von  Votiven  der  Fall.    Luther  hatte  gegen 


1)  Braunschweigisches  Magazin  190"),  S.  5<». 

2)  Beiträge    zur    Bayerischen  Kircheugeschichte,    Band  9,    Heft  G.      Erlangen  190:5. 
Nach  Hess.  Blätter  f.  Volkskunde  3,  93. 

3)  Hessische  Blätter  für  Volkskunde  3,  92. 


Katholische  Überlebsei  beim  evangelischen  Volke.  1 1  7 

die  Wallfahrten  geeifert  und  in  einer  Predigt  gesagt:  „Wenn  der  Geist 
des  Wallfahrens  in  dein  Weib  oder  deinen  Knecht  fährt,  so  höre  meinen 
Rat,  nimm  einen  Kreuzstock  von  Eichenholz  und  heilige  ihren  Rücken 
tapfer  mit  einigen  Schlägen,  und  du  wirst  sehen,  wie  durch  diesen  Finger 
(iottes  jener  Dämon  ausgetrieben  wird"1).  Indessen  ganz  ist  dieser  Dämon 
doch  nicht  bei  Evangelischen  bis  auf  den  heutigen  Tag  ausgetrieben, 
und  auch  hier  erfolgte  die  Abschaffung  nur  allmählich.  Sehr  schwer  ist 
das  z.  B.  in  dem  berühmten  holsteinischen  Wallfahrtsorte  Buchen  geworden, 
wo  heiliges  Blut,  eine  wundertätige  Hostie  und  ein  wundertätiges  Marien- 
bild verehrt  wurden.  Um  die  Wallfahrt  auszurotteu,  vernichtete  man  die 
Hostie,  aber  noch  im  Jahre  1581  kamen  die  „Bedefahrer"  dorthin  und 
nun  verbot  man  bei  schwerer  Strafe  die  Kirche  zu  öffnen  und  Opfer  an- 
zunehmen. 1590  berichtet  der  dortige  Pastor,  der  Aberglaube  daure 
trotzdem  heimlich  fort,  und  um  ihn  gänzlich  auszurotten,  liess  man  die 
Kapelle  zerstören  und  das  Kirchensilber  verkaufen2). 

Für  den  Fortbestand  evangelischer  Wallfahrten  in  der  Gegenwart 
liegen  Beispiele  vor.  „Wie  vor  der  Reformation  so  ist  heute  noch 
die  Margarethenkapelle  zu  Rennhofen  (bei  Neustadt  a.  d.  Aisch)  für 
Protestanten  ein  Wallfahrtsort,  wo  Gelübde  gelöst,  Linderung  leiblicher 
und  geistiger  Gebrechen  für  Menschen  und  Vieh  gesucht  und  reiche  Opfer 
gespendet  werden"  schreibt  Dr.  G.  Lammert3). 

Reichlich  sind  die  katholischen  Überlebsei  bei  den  evangelischen 
Masuren  in  Ostpreussen  vorhanden.  Noch  im  Beginne  des  18.  Jahrhunderts 
wallfahrteten  sie  zu  den  Ruinen  der  Kapelle,  welche  an  der  Stelle  der 
Schlacht  von  Tannenberg  (1410)  errichtet  war.  In  einer  Eingabe  an  die 
Regierung  zu  Königsberg  von  1719  wird  über  das  'abergläubische  Unwesen1 
geklagt,  welches  dort,  sowohl  von  lutherischem  als  päpstlichem  Volke 
getrieben  wird.  Man  opfere  dort  „ein  gewisses  Geld,  auch  von  Wachs 
gemachte  Figuren  in  Form  von  Hand,  Fuss  oder,  wenn  das  Kopfweh 
durch  die  AVallfahrt  gehoben  werden  solle,  in  Form  eines  wächsernen 
Kranzes"4). 

Wo  sich,  in  Anknüpfung  an  katholische  Wallfahrten,  dem  evangelischen 
Masuren  Gelegenheit  bot  und  noch  bietet,  da  ist  er  dabei,  wofür  bei 
Toppen  sich  Belege  finden5),  so  die  Wallfahrten  nach  der  heiligen  Linde 
bei  Rössel  im  Saarburger  Kreise  und  nach  Dietrichswalde.  WTie  zahlreich 
einst  die  protestantische  Bevölkerung  nach  Zluttowo  bei  Löbau  pilgerte, 
lässt  sich  daraus  ermessen,  dass  einmal  die  Kirchenvisitation  in  Mühlen, 
welche  auf  den  6.  August  festgesetzt  war,  verschoben  werden  musste,  weil 


1)  A.  Hausrath,  Luthers  Leben  1,  115. 

2)  Zeitschrift  „Niedersachsen"  13,  327  (11)08). 

3)  Lammert,  Volksmedizin  in  Bayern  18(i9,  S.  •_':'>. 

4)  Mitteilungen  der  literarischen  Gesellschaft  Masovia  190G,  S.  73. 

5)  Aberglauben  aus  Masuren  -  S.  lOf. 


11£  Andree: 

an  diesem  Tage  ein  grosser  Teil  der  Schulkinder  mit  ihren  Eltern  sich 
auf  dem  Ablassmarkte  zu  Zluttowo  befand.  Dort  liess  man  sich  Wein 
segnen  oder  gar  Ablass  geben. 

Für  Wallfahrten  Evangelischer  in  Hessen  gibt  uns  das  schon  er- 
wähnte 'TotenkippeF  beim  Dorfe  Meiches  den  Beleg.  Am  zweiten  Pfingst- 
tage  wallfahrten  aus  den  evangelischen  Dörfern  Helpershein,  Dirlammen, 
Engelrod,  Hörgenau  und  Eichelhain  kraDke  Leute  dorthin,  um  im  Opfer- 
stock  dort  zu  opfern,  in  der  Voraussetzung,  dass  sie  dadurch  gesunden1). 
Diese  Wallfahrten  sind  einfache  Fortsetzungen  der  alten  katholischen,  da 
das  Totenkippel  eine  alte  St.  Georgskapelle  und  Wallfahrtsort  war,  zu 
dem,  schon  als  es  evangelisch  war,  noch  im  19.  Jahrhundert  einzelne 
Katholiken  wallfahrteten. 

Dazu  noch  ein  Beispiel  aus  Norwegen.  In  der  Kirche  zu  Köldal 
befand  sich  in  katholischer  Zeit  ein  wundertätiges  Christusbild,  zu  dem 
in  der  Johannisnacht  die  Leute  wallfahrteten,  um  mit  dem  Schweisse,  den 
das  Bild  von  sich  gab,  Krankheiten,  namentlich  Blindheit  zu  heilen. 
Zahlreiche  zurückgelassene  Yotive  legten  von  den  Heilerfolgen  Zeugnis 
ab.  Die  Wallfahrt  nach  Röldal  wird  zuerst  im  17.  Jahrhundert  erwähnt, 
also  in  protestantischer  Zeit,  wiewohl  sie  natürlich  älter  ist.  Professor 
B.  Kahle,  der  dort  war  und  dem  wir  obiges  entnehmen,  schreibt:  „Höchst 
merkwürdig  ist  es,  wie  lange  sie  sich  in  diesem  protestantischen  Lande 
erhalten  hat:  Sie  wurde  erst  im  Jahre  1840  infolge  eines  Berichtes  der 
Propstei  von  Ryfylke  durch  den  (protestantischen)  Bischof  von  Kristians- 
sand  abgeschafft.  Wie  mir  der  Pfarrer  von  Röldal  erzählte,  seien  in  den 
letzten  Jahren  der  Wallfahrt  die  Leute  vom  Ort  freilich  nicht  mehr 
ü'läubiir  o-ewesen,  aber  von  weither  sei  mau  noch  gekommen1'2). 

Auch  bei  den  heut  noch  so  vielfach  in  katholischen  Landen  vor- 
kommenden Pferde-  und  Viehsegnungen  beteiligen  sich  gern  Evangelische. 
So  z.  B.  bei  der  Pferdesegnung  von  Gaualgesheim  im  Rheingau  am 
Laurenzitage3). 

Ziemlich  verbreitet  ist  auch  die  öfter  mit  Wallfahrten  zusammen- 
hängende Darbringung  von  Opfern  in  Geld  und  Naturalien  und  von 
\\  eihegeschenken,  Wachsvotiven  usw.,  ganz  nach  alter  katholischer  Art  in 
evangelischen  Kirchen  bis  auf  unsere  Tage.  Am  stärksten  musste  natürlich 
diese  Fortdauer  noch  in  der  Zeit  gleich  nach  der  Reformation  sein,  und 
die  ersten  evangelischen  Geistlichen  hatten  genug  damit  zu  tun,  die  alten 
katholischen  Gewohnheiten  auszurotten.  So  berichtet  am  Ende  des 
IC).  Jahrhunderts  der  erste  evangelische  Superintendent  vom  braun-, 
schweigischen  Dorfe  Engerode:  „Es  geschieht  aber  noch  bisweilen  an 
diesem    Orte  Abgötterey,    dieweil    im    Babstthumb    daselbst    gross  Ablass 

1)  Hessische  Blätter  für  Volkskunde  3,  89. 

•_')  Archiv  für  Religionswissenschaft  12,  147. 

3)  Mitt.  d.  Ver.  f.  Nassauische  Altertuniskunde,  Juli  1909,  S.  73.    Globus  (.)7,  133. 


Katholische  Überlebsel  beim  evangelischen  Volke.  IT.» 

gewesen,  die  Leute  oft  noch  kommen  und  was  sie  in  ihren  Nöten  gelobt, 
darbringen,  als  Arme,  Beine,  Hände,  Füsse,  Kreuze,  Kinder  u.  dgl.  von 
Wachs  aufhängen  in  die  Ehre  unsrer  Lieben  Frauen"1). 

Das  hielt  aber,  trotzdem  dagegen  gewirkt  wurde,  in  jenen  Gegenden 
noch  lange  an,  worüber  der  Harzburger  Superintendent  Andreas  Krieg 
uns  ausführliche  Schilderungen  hinterlassen  hat2).  Wir  müssen  da  eine 
Abhandlung  über  den  sagenhaften  Harzgötzen  Krodo  samt  vier  'Salz- 
predigten" des  frommen  Superintendenten  über  uns  ergehen  lassen,  bis  er 
Seite  24  darauf  kommt,  dass  in  Harzburg  Abgötterei  und  Aberglauben, 
welche  tiefe  Wurzel  zu  schlagen  pflegen,  nicht  gänzlich  ausgerottet  werden 
können.  Und  nun  klagt  Krieg  darüber,  dass  in  der  damals  noch  vor- 
handenen alten,  ehemals  katholischen  Kapelle  auf  dem  Burgberge  noch 
katholische  Kulthandlungen  vorkamen,  indem  nicht  allein  in  der  Nähe, 
sondern  auch  aus  weit  abgelegenen  Orten  viel  presshafte  Kranke  und  an 
Händen  und  Füssen  Lahme,  auch  blinde  Leute,  sich  durch  Mittel  auf  die 
Harzburg,  durch  Konivenz  des  Pförtners,  gemacht,  ihr  Gebet  vor  dem 
Altar  verrichtet,  ein  wenig  Geld  in  den  'Armen  Sack'  geleget  und  dann 
<las  ungesunde  Leibesglied  in  Wachs  abgebildet  in  der  Kirchen  auff  und 
an  die  Wand  nebst  den  Krücken,  worauff  sie  hinauff  gekrochen,  gehenckt, 
und  sich  alsdann  gesund  davon  gemacht. 

„Es  wird  auch  beständig  berichtet,  dass  an  der  Mutter  Maria  Rock, 
welches  Bildnis  auff  dem  Altar  gestanden —  Krücken  und  ab- 
gebildete Wachsbilder  der  menschlichen  Glieder  von  der  Kirchen  ab- 
genommen und  also  diesem  neuen  Greuel  durch  die  hohe  christliche 
Obrigkeit  das  Final  gemacht  worden." 

Im  Jahre  1654  wurde  dann  dieses  Kirchlein  auf  der  Harzburg  auf 
Befehl  des  Herzogs  August  'gänzlich  demoliert'.  Mit  den  'von  press- 
haften Leuten  zurückgelassenen  Krücken'  ist  man  aber  ganz  besonders 
verfahren.  Der  über  die  katholischen  Überlebsel  empörte  evangelische 
Superintendent,  der  indessen  kaum  aufgeklärter  als  die  armen,  zur  Mutter 
Maria  pilgernden  Kranken  gewesen  sein  wird,  erzählt  nämlich  auf  S.  '2b 
von  den  geopferten  Krücken,  „dass  selbige  der  damahlige  Ambt-Mann, 
•Caspar  Wiedemann,  herüber  auffs  Ambt  (in  Harzburg)  fahren  lassen  und 
intendiert  ein  Gebrau  Breyhan  damit  brauen  zu  lassen.  Als  aber  die- 
selben unter  die  Pfanne  gestecket  worden,  ist  ein  solcher  Lärm  im  Brau- 
hause entstanden,  dass  nicht  allein  kein  Mensch  darinnen  verbleiben 
können,  sondern  das  Bier  dergestalt  missrathen,  dass  auch  die  Schweine 
selbiges  nicht  gemessen  mögen.  So  gibt  der  Höllen-Geist  seinen  Unmuth 
zu  erkennen,  wenn  sein  Reich  zerstöret  wird." 


1)  Braunschweigisches  Magazin  1898,  S.  67. 

■2)  Andreas   Krieg,    Hartzburgscher   Mahl -Stein   usw.      Goslar   bey    Joh.    Christoph 
Koni?  1709. 


120  Andree: 

Ein  anderes  Beispiel  ans  der  Übergangszeit,  wobei  es  sich  um  die 
Fortdauer  des  lebenden  Tier  Opfers  nach  noch  heute  in  Süddeutschland 
üblicher  Art  in  der  protestantischen  schon  erwähnten  St.  Veitskapelle  bei 
Wiescht  in  Mittelfranken  handelt.  Zu  Zeiten  des  evangelischen  Pfarrers 
Hörn  (1632  —  1(561)  wurde  dort  eine  lebende  Kuh  geopfert  und  an  den 
Kirchthurm  gebunden.  1671  berichtet  der  evangelische  Pfarrer  an  das 
Konsistorium  zu  Ausbach:  „Von  jungen  Hühnern  geht  wenig  ein,  welche 
man  sonst  häufig  geliefert  und  in  einem  gewissen  Behälter  in  der  Kapelle 
gesperrt.  Weil  ich  aber  dieses  wegen  des  Krähens  unter  der  Predigt 
nicht  leiden  wollen,  so  unterlässt  man's.  Doch  bringt  man  manchmal  etwas 
von  Hühnern  in  mein  Haus"1). 

Auch  bei  dem  schon  erwähnten  evangelischen  Totenkippel  von 
Meiches  in  Hessen  werden  —  wenigstens  noch  in  der  zweiten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts  -  Naturalopfer  von  Evangelischen  auf  dem  alten  Stein- 
altar niedergelegt,  Mehl,  Früchte,  Kleider,  Hemden  und  ein  Mann,  der  an  einer 
Salzfluss  genannten  Flechte  litt,  liess  dort  einen  Zentner  Salz  hinschaffen2). 

Von  den  Masuren  Ostpreussens  wissen  wir,  dass  sie  noch  im  16.  Jahr- 
hundert trotz  der  Wirksamkeit  der  katholischen  Geistlichkeit  die  alten 
heidnischen  Götter  anriefen  und  ihnen  Opfer  brachten.  Es  ist  daher  auch 
nicht  zu  verwundern,  wenn  wir  bei  diesem  slawischen  Volksstamme, 
trotzdem  er  schon  lange  (nach  1525)  die  Reformation  angenommen  hat, 
noch  eine  ganze  Anzahl  katholischer  Überlebsel  finden,  von  denen  er  sich 
nicht  losmachen  kann,  weil  er  mit  ihnen  eine  wundertätige  Kraft  ver- 
bunden glaubt3).  Opfer  in  Kirchen  niederzulegen  ist  bei  ihnen  etwas 
ganz  Gewöhnliches.  Wenn  für  die  Genesung  einer  Epileptischen  geopfert 
wird,  so  geschieht  dieses  gleichzeitig  in  drei  Kirchen,  von  denen  aber 
eine  eine  katholische  sein  muss.  Am  6.  August  (Tag  der  Verklärung 
Jesu)  werden  von  den  Masuren  Opfer  in  katholischen  Kirchen  nieder- 
gelegt, und  sie  strömen  dann  scharenweise  zum  katholischen  Gottesdienst. 
Das  hat  nach  einem  Synodalberichte  des  Superintendenten  Schelling  in 
Marggrabowa  vom  Jahre  1882  in  letzter  Linie  einen  sprachlichen  Grund. 
„Weil  das  Wort  Verklärung  in  der  polnischen  Sprache  mit  dem  Worte 
'Umwandlung'  wiedergegeben  wird,  so  hat  sich  in  der  katholischen  Kirche 
und  von  dorther  auch  bei  den. Masuren  die  Vorstellung  ausgebildet,  dass 
die  Feier  dieses  Tages  den  Teilnehmern  eine  Umwandlung  ihrer  be- 
sonderen Übel  und  Leiden  einbringt,  besonders  wenn  sie  ihre  Gebete  mit 
Altargeschenken  begleiten" 4). 

Durch  Opfergaben  können  auch  die  armen  Seelen  bei  den  evan- 
gelischen Masuren  erlöst  werden.     Eine  Frau  opferte    fünf  Silbergroschen 


1)  Beiträge  zur  bayerischen  Kircheugeschichte,  Band  9,  Heft  6.     Erlangen  100."!. 

2)  Hessische  Blätter  für  Volkskunde  3,  88. 

3)  Vgl.  dazu  A.  Zweck,  Masuren.    Stuttgart  1900,  S.  215. 

4)  P.  Hensel,  Die  evangelischen  Masuren.    Königsberg  1908,  S.  43. 


Katholische  Überlehsel  beim  evangelischen  Volke.  121 

für  den  Mann,  dessen  Seele  keine  Ruhe  finde,  und  sprach  dabei  die 
Hoffnung  aus,  dass  eine  glückliehe  Seele  diese  fünf  Silbergroschen  finde 
und  durch  Gebet  die  arme  Seele  erlösen  möchte.  Wenn  das  Opfer  an 
eine  katholische  Kirche  käme,  wäre  es  wirksamer,  als  an  eine  evangelische, 
glaubte  sie1).  Selbst  Naturalopfer,  Mehl  und  Wachs,  an  katholische 
Kirchen  kommen  noch  vor. 

Dass  auch  heimlich  in  evangelischen  Kirchen  in  versteckter  Form 
Geldopfer  dargebracht  werden,  dafür  liegt  ein  Beispiel  vor;  es  handelt 
sich  um  den  heiligen  Ort,  im  Glauben  dadurch  eine  Wirkung  zu  erzielen. 
Als  im  Jahre  1900  mit  dem  Abbruche  der  alten  baufälligen  Kirche  zu 
Bukow  bei  Lübbenau  in  der  Niederlausitz  begonnen  wurde,  fand  man  in 
den  Spalten  der  alten  Holzsäulen  und  Balken  viele  Taler  und  Zweitaler- 
stücke aus  dem  18.,  weniger  aus  dem  19.  Jahrhundert  versteckt.  Jedes 
einzelne  Geldstück  war  in  Papier  eingeschlagen.  Als  Grund  wurde  an- 
gegeben, dass  man  auf  diese  Weise  opfere,  wenn  ein  Kind  gestorben  sei 
und  man  die  übrigen  vor  dem  gleichen  Schicksale  bewahren  wolle" 2). 

Eine  besondere  Art  der  Weihgeschenke  stellen  die  Schiff svotive 
dar,  die  bei  den  Seefahrern  katholischer  Länder  oft  in  grosser  Anzahl  in 
den  Kirchen  aufgehängt  werden  von  Schiffern,  welche  Seenot  glücklich 
überstanden  haben  und  nun  zum  Danke  in  den  Kirchen  des  h.  Nikolaus, 
des  Patrons  der  Seefahrer,  oder  in  den  Marienkirchen  von  der  Decke 
herabhängen  oder  an  den  Pfeilern  befestigt  werden.  Reich  an  solchen 
Schiffsmodellen  sind  z.  B.  die  Heiligtümer  der  Notre  Dame  de  Roc-Amadour 
(französische  Nordküste),  die  Kirche  der  Maria  d'Annuuziata  auf  der 
dalmatinischen  Insel  Lussin  piccolo;  ein  kleines  Museum  solcher  Schiffs- 
votive  fand  ich  in  der  Kirche  der  Madonna  del  Soccorso  zu  Forio  auf 
Ischia,  wo  die  Votive  vom  18.  Jahrhundert  an  bis  auf  die  Gegenwart 
reichen. 

Schon  früher3)  habe  ich  darauf  hingewiesen,  dass  bei  unseren  nord- 
deutschen evangelischen  Schiffern  sich  dieser  katholische  Brauch,  ein 
Zeichen  der  Dankbarkeit  an  die  himmlischen  Mächte  für  Errettung  aus 
Seenot,  forterhalten  hat.  Und  wenn  es  auch  nicht  immer  sich  um  die 
Aufstellung  eines  Modells  des  dem  Untergange  entrissenen  Schiffes  handelt, 
so  findet  doch  eine  einfachere  Form  der  Dankbezeugung  statt.  Auf  den 
schleswigschen  Halligen  bittet  ein  von  langer  Fahrt  glücklich  zurück- 
gekehrter Seemann  den  Pastor,  am  nächsten  Sonntag  nach  der  Predigt 
ein  öffentliches  Dankgebet  für  ihn  zu  sprechen,  wofür  er  eine  kleine 
Summe  zu  zahlen  pflegt4).    Noch  heute  sind  Schiffsmodelle  in  den  Kirchen 


1)  Toppen,  Aberglauben  aus  Masuren  -  S.  7. 

2)  Nach    einem     Berichte     aus    Lübbenau    in    der    Frankfurter    Oderzcitung     vom 
10.  April  1900. 

3)  Korrespondenzblatt  der  deutschen  Anthropolog.  Gesellschaft  190."),  Nr.  1". 

4)  E.  Traeger,  Die  Halligen  der  Nordsee  1892,  S.  50. 


122  Andree: 

an  der  Ost-  und  Nordsee  nicht  selten,  und  sie  reichen  zum  Teil,  wie  die 
Formen  der  Fahrzeuge  beweisen,  in  alte  Zeiten,  aber  kaum  in  die  vor- 
reformatorische  zurück.  Auch  in  der  Sage  spielen  diese  Schiffsmodelle 
eine  Rolle,  so  das  noch  heute  in  der  evangelischen  Pfarrkirche  zu  Rambin 
■auf  Rügen  aufgehängte1).  Von  dem  bewährten  Kenner  der  pommerschen 
Volkskunde,  Herrn  Professor  A.  Haas  in  Stettin,  an  den  ich  mich  um 
Auskunft  wendete,  erhielt  ich  noch  eine  Anzahl  auf  Schiffsvotive  in  evan- 
gelischen Kirchen  bezügliche  Angaben,  die  auch  nach  seinen  Beobachtungen 
erst  in  evangelischer  Zeit  gestiftet  wurden,  einmal  zum  Andenken  solcher 
Schiffer,  die  auf  See  blieben  oder  aus  dankbarer  Erinnerung  an  eine  er- 
folgte Rettung  aus  Seenot.  Als  Beispiele  führt  mir  Herr  Professor  Haas 
an  ein  Schiffsmodell  von  1777  in  der  Kirche  zu  Lübzin  am  Dammschen 
See  und  mehrere  aus  evangelischen  Kirchen  in  das  Pommersche  Altertums- 
museum zu  Stettin  gelangte  Schiffsmodelle,  die  teilweise  auf  das  16.  bis 
17.  Jahrhundert  zurückgehen.  Eines  stellt  ein  Vollschiff  aus  der  ersten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts,  unter  Kapitän  Wilhelm  Bödow  aus  Stepenitz, 
dar.  Er  verlor  im  Sturme  bei  Kap  Hörn  seinen  Steuermann.  Ihm  zum 
Andenken  wurde  das  Modell  angefertigt  und  seinerzeit  in  der  Köpitzer 
Kirche  aufgehängt.  Auch  in  Schweden  haben  sich  solche  Votivschiffe 
lange  in  der  evangelischen  Zeit  erhalten,  wie  die  Exemplare  im  Nordischen 
Museum  in  Stockholm  beweisen.  Sie  hingen  vordem  in  den  Kirchen 
norwegischer  und  schwedischer  Küstenstädte,  als  Zeichen  der  Dankbarkeit 
für  Errettung  aus  Seenot2). 

Und  nicht  nur  die  Votivschiffe  in  alter  Weise  lassen  sich  nachweisen, 
sondern  auch,  wenigstens  an  die  Schiffahrt  anknüpfend,  auch  Votiv- 
bilder.  Die  Chorfenster  der  Kirche  zu  Gross-Zicker  auf  der  Halbinsel 
Mönchgut  enthalten  Glasmalereien,  wahrscheinlich  Erzeugnisse  nieder- 
ländischer Künstler  aus  dem  16.  bis  17.  Jahrhundert,  die  ältesten  von  1595, 
welche  vielfach  Schiffe  darstellen.  Eines  dieser  Bilder  zeigt  einen  vom 
.Mäste  in  die  See  stürzenden  Mann,  also  wohl  die  Darstellung  eines  wirk- 
lichen Vorganges3).  Die  Übereinstimmung  mit  der  Darstellung  von 
Unglücksfällen,  wie  sie  so  vielfach  auf  den  Votivtafeln  der  katholischen 
Kirchen  erscheinen,  liegt  hier  klar  vor,  wenn  auch  ein  Gelöbnis,  wie  es 
sich  bei  den  Katholiken  in  solchen  Fällen  findet,  hier  sich  nicht  nach- 
weisen lässt.  sondern  mehr  der  historische  Vorgang  betont  zu  sein  scheint, 

In  der  Übergangszeit  der  Reformation  herrschte  bezüglich  des  Kultus 
häutig  Verwirrung.  Es  gab  Geistliche,  die  nach  Belieben  ihrer  Pfarr- 
kinder diese  auf  katholische  oder  evangelische  Weise  bedienten.  Das 
drückte  sich  auch  bei  Luther  aus,  der  manchen  katholischen  Brauch    erst 


1)  Jahn,  Volkssagen  aus  Pommern  1886,  S.  43.     Haas,  Rügensche  Sagen2  S.  139. 
2J  Hazelius,  Guide  to  tlie  Collections  of  ttae  Northern  Museum  1889,  S.  50. 
3)  Baltische   Studien   15,   2,    S.  KJ6.     Haas   und   Worm,    Die   Halbinsel   Mönchgut 
1909,  S.  40. 


Katholische  Überlebsei  beim  evangelischen  Volke.  123 

nach  und  nach  abstreifte.  Im  Kleinen  Katechismus,  der  die  "Eierschalen 
der  Papstkirche  an  sich  trug',  wie  die  Zwinglianer  sagten,  empfiehlt  er 
noch  das  Segnen  mit  dem  Kreuzschlagen1).  Und  was  tut  heute  der 
evangelische  Masure?  Er  verneigt  sich  beim  Ein-  und  Austritte  aus  der 
Kirche  vor  dem  Altar  und  macht  dabei  das  Zeichen  des  Kreuzes2).  Früher 
war  die  Bekreuzigung  bei  den  Masuren  noch  weit  häufiger;  die  auf- 
o-etrao-enen  Sneisen  wurden  vor  der  Mahlzeit  mit  dem  Zeichen  des  Kreuzes 
versehen,  und  selbst  der  Fuhrmann  machte  mit  der  Peitsche  vor  seinen 
Pferden  dieses  Zeichen,  wenn  er  eine  Reise  antrat3). 

Auch  das  katholische  Fasten  hat  sich  in  Überlebseln  bei  Protestanten 
erhalten.  Es  war  ja  als  ein  der  Orottheit  wohlgefälliges  Werk  der  Selbst- 
verleugnung; bei  vielen  Völkern  des  Altertums  üblich.  Da  Luther  es  für 
eine  'feine  äusserliche  Zucht'  erklärte,  erhielt  es  sich  bei  den  Evangelischen 
noch  lange,  und  die  Reste  sind  auf  unsere  Tage  gekommen.  Wenigstens 
am  Karfreitag  fastet  man  im  protestantischen  Ostpreussen  noch  vielfach*), 
und  im  Zürcherischen  Oberlande  werden,  nach  vorreformatorischer  Über- 
lieferung, noch  jetzt  am  Freitage  von  Protestanten  nur  Fastenspeisen  ge- 
nossen.    Man  isst    'Wäfen'    aus  Äpfeln  oder  Birnen,    'Nidel1    (Rahm)  und 

Bollen5)- 

Eine  unmittelbare  Beibehaltung  der  katholischen  Feiertage 
finden  wir  wieder  bei  den  evangelischen  Masuren.  Man  findet  bei  ihnen 
Gelöbnisse  am  Jakobitage,  an  Christi  Verklärung,  an  den  Marientagen  u.  a. 
nicht  auf  dem  Felde  zu  arbeiten.  Als  ein  evangelischer  Pfarrer  an  einem 
solchen  Tage  dieses  doch  tun  liess  und  unerwartet  ein  Hagelwetter 
eintrat,  sammelten  die  Bauern  einige  Metzen  Hagelkörner,  brachten  sie 
zum  Landrate  nach  Neidenburg  und  verklagten  den  Pfarrer,  dessen 
Gottlosigkeit  sie  durch  die  Hagelkörner  zu  beweisen  meinten.  Die  Rück- 
wirkung der  katholischen  Anschauungen  zeigte  sich  bei  den  Masuren  auch 
dadurch,  dass,  nach  katholischer  Art,  der  Karfreitag  nicht,  wie  bei  den 
Evangelischen,  als  rechter  Festtag  gefeiert  und  bei  vielen  der  Grün- 
donnerstag höher  gestellt  wird6). 

Sehr  stark  sind  die  Niederschläge,  die  sich  auf  die  katholische  Ver- 
ehrung der  Heiligen  beziehen,  und  sich  wenigstens  im  Sprachgebrauche 
und  auch  in  Sitten  bei  den  Protestanten  erhalten  haben.  Während  bei 
der  Reformation  nur  jene  Feste  erhalten  blieben,  die  sich  auf  das 
Leben  Jesu  bezogen,  wurden  die  Feste  der  Heiligen  und  Fronleichnam 
abgeschafft.     Aber  die  Kalenderbezeichnungen  nach  den  Heiligen  sind  bis 


1)  A.  Hausrath,  Luthers  Leben  2,  113. 

2)  P.  Heusei,  Die  evangelischen  Masuren  S.  42. 

3)  Toppen,  Aberglauben  aus  Masuren-  S.  <>. 

4)  E.  Lemke.  Volkstümliches  aus  Ostpreussen  1,  13  (1884 

5)  H.  Messikommer,  Aus  alter  Zeit  1,  43  (Zürich  1909). 

6)  Toppen  a.  a.  0.  S.  7.  9. 


124  Andree: 

auf  diesen  Tag  in  evangelischen  Landen  geblieben;  wir  rechnen  nach 
Michaelis,  erinnern  uns  an  den  heiligen  Martin,  dessen  Tag  im  Deutschen 
Reiche  allgemeiner  Termintag  war,  an  dem  das  Gesinde  an-  und  abzog. 
So  kann  man  denn  im  protestantischen  Niederdeutschland  noch  die 
Redensart  hören  für  einen  Knecht,  der  zu  früh  seinen  Dienst  verlässt: 
he  maket  Martinich.  Erst  in  neuer  Zeit  werden  die  neugebauten  pro- 
testantischen Kirchen  nach  Luther,  der  Dreifaltigkeit,  den  Evangelisten  u.  dgl. 
benannt,  während  bei  den  in  der  Vorreformationszeit  erbauten  die  alten 
katholischen  Heiligennamen  fortbestehen.  Und  so  gelten  diese  auch  bei 
Festen  in  evangelischen  Gegenden.  Wenn  in  Hamburg  ein  Schulfest 
gefeiert  wurde,  bei  dem  man  die  Kinder  ins  Grüne  führte,  so  sagte  man: 
Se  gät  in't  Pantaljohn1),  wobei  man  natürlich  nicht  mehr  an  den  heiligen 
Pantaleon  von  Nicomedien  dachte,  der  im  vierten  Jahrhundert  lebte  und 
Schutzpatron  der  Ammen  und  gut  gegen  Heuschrecken  ist.  Und  wie 
beliebt  ist  nicht  auch  bei  protestantischen  Kindern  St.  Nikolaus,  der  ein 
Bischof  von  Myra  in  Lykien  war!  Dieser  am  6.  Dezember  bei  unsern 
Kindern  wegen  seiner  Rute  ebenso  gefürchtete  als  wegen  seiner  Äpfel 
und  Nüsse  beliebte  Heilige  ist  ja  bei  Evangelischen  noch  ebenso  ver- 
breitet, wie  bei  den  Katholiken.  Auch  in  Kinderspielen  klingen  bei 
Evangelischen  katholische  Heilige  nach.  Das  von  der  Kirche  gesegnete 
Agathenbrot,  welches  ins  Feuer  geworfen,  dieses  hemmt,  ist  in  evan- 
gelischen Kantonen  der  Schweiz  in  Abzählreimen  erhalten  geblieben, 
wobei  neben  richtigen  Yersen  'Agathenbrot  in  der  Not'  auch  allerlei  un- 
sinnige Namenentstelluugen  vorkommen2). 

Selbst  zur  Bezeichnung  der  Bilderbücher  schlechthin  ist  der  Name 
der  Heiligen  geworden  und  hat  sich  so  nach  der  Reformation  erhalten. 
In  den  Büchern,  die  in  den  frühesten  Zeiten  nach  der  Erfindung  der 
Buchdruckerkunst  in  die  Hände  des  gemeinen  Mannes  gelangten,  waren 
es  zumeist  die  erbaulichen,  welche  Bilder  enthielten,  unter  denen  die 
Heiligen  die  erste  Rolle  spielten,  und  daher  kam  der  noch  im  18.  Jahr- 
hundert übliche  plattdeutsche  Ausdruck  Hilligen  für  Bilderbücher3).  Auch 
die  Weidmannssprache  hat  die  Heiligen  überall  bewahrt.  Sie  redet  von 
der  Hubertusjagd  und  sagt,  dass  der  Hirsch  Ägydi  auf  die  Brunft  tritt. 

AVährend  so  die  Heiligen  unter  dem  evangelischen  Volke  immerhin 
noch  in  Überlebseln  vertreten  sind,  vermag  man  von  der  Reliquien- 
verehrung nur  noch  schwache  Spuren  nachzuweisen.  Ausserordentlich 
scharf  sind  die  Reformatoren  gegen  diese  vorgegangen,  und  wie  heute 
von  christlichen  Missionaren  noch  afrikanische  Götzenbilder  verbrannt 
wurden,  so   zerstörte    man  vielfach  Reliquien,    die    aber    auch    von  guten 


1)  Richey,  Idioticon  Hamburgense  1755,  S.  180. 

•J)  Rochholz,    Alemannisches  Kinderlied  S.  14.     (Fritz  Staub),    Das    Brot    im    Spiegel 
scbweizer-deutscher  Volkssprache  1868,  S.  115. 
3)  Richey  a.  a.  0.  S.  95. 


Katholische  Überlebsel  beim  evangelischen  Volke.  125 

Katholiken  wiederholt  vor  Zerstörung-  bewahrt  und  gerettet  wurden,  wie 
jene  St.  Bennos  von  Meissen,  die  Herzog  Albrecht  V.  von  Bayern  nach 
München  brachte.  Bei  der  nachdrücklichen  Reliquienbeseitigung  in 
protestantischen  Ländern  konnte  natürlich  eine  unmittelbare  Anknüpfung 
an  solche  dort  nicht  mehr  erfolgen.  Wo  aber  die  Vorstellung  herrschte, 
solche  Reliquien  könnten  in  irgend  einer  Beziehung  helfen,  da  suchte 
man  bei  auswärtigen  Hilfe.  Dafür  wenigstens  ein  Beispiel.  Noch  heute 
verkauft  die  Kirche  in  Augsburg  in  kleinen  Tüten  St.  Ulrichserde,  die 
wirksam  für  die  Vertreibung  von  Ratten  und  Mäusen  sein  soll.  „Der 
Umstand,  dass  St.  Ulrich  ursprünglich  auf  blosser  Erde  bestattet  wurde, 
war  die  Veranlassung,  dass  man  Jahrhunderte  lang  die  Erde,  die  man  im 
Jahre  1183  dem  Grabe  entnahm,  als  eine  Art  Reliquie  ansah  und  sie 
besonders  zur  Vertreibung  der  Ratten  und  Mäuse  verwendete.  Im  Pfarr- 
archiv St.  Ulrich  befindet  sich  ein  von  dem  (protestantischen)  Herzog 
Friedrich  von  Schleswig-Holstein  selbstgeschriebener  Brief,  datiert  24.  März 
1700  an  das  Kloster  St.  Ulrich,  in  welchem  er  seine  Bitte  um  Verabreichung 
von  Ulrichserde  zur  Vertreibung  der  Ratten  und  Mäuse  auf  seinen  Feldern 
und  in  seinen  Schlössern  erneuert  und  verspricht,  dass  mit  derselben 
kein  Missbrau ch  getrieben,  sondern  sie  nur  im  Vertrauen  zum  h.  Ulrich 
gebraucht  werde"1).  Es  ist  nicht  ausgeschlossen,  dass  einzelne  Reliquien 
sich  in  evangelischen  Kirchen  erhielten  und  der  Zerstörung  entgingen. 
Darauf  deuten  die  mehrfach  erhaltenen  sagenumwebten  Mumienhände, 
wohl  ursprünglich  Reliquienhände,  hin.  Hinter  dem  Altar  der  Kirche  zu 
Mellentin  in  Pommern  liegt  eine  solche  Hand,  von  der  die  Sage  berichtet, 
sie  hätte  einem  Mädchen  angehört,  das  seine  Mutter  geschlagen  und  sei 
aus  dem  Grabe  herausgewachsen2).  Und  so  verhält  es  sich  mit  der 
mumifizierten  Menschenhand,  die  an  eiserner  Kette  in  der  Dorfkirche  zu 
Gross-Redensleben  in  der  Altmark  hängt,  dabei  eine  Tafel,  welche  in 
Versen  die  Geschichte  von  dem  Sohne  erzählt,  der  den  Vater  schlug3). 
Auch  in  der  Sakristei  der  Petri-Paul-Kirche  zu  Stettin  sollen  zwei  mumi- 
fizierte Kinderhände  gehangen  haben,  die  aus  dem  Grabe  gewachsen 
waren.  Überall  erscheint  mir  die  echte  Reliquienhand  als  das  ursprüng- 
liche, au  das  dann  später  sich  die  so  weitverbreitete  Sage  von  dem 
undankbaren  Kinde  anschloss,  dem  die  Hand  aus  dem  Grabe  wuchs. 

Das  sind  nur  einige  Beispiele  von  der  zähen  Ausdauer,  die  alt- 
katholische Bräuche  und  Anschauungen  heute  noch  im  evangelischen 
Volke  besitzen,  und  ein  Beleg  dafür,  wie  neue  Religionen  von  ihren  Vor- 
gängerinnen immer  noch  einzelnes  übernehmen  und  weiter  gebrauchen. 

München. 


1)  Friesenegger,  Die  St.  Ulrichskirche  zu  Augsburg  1900,  S.  59. 

2)  Kuhn  und  Schwartz,  Norddeutsche  Sagen  1848,  Nr.  28.   16. 

3)  Temme,  Volkssagen  der  Altmark  1839,  S.  48  Nr.  56. 


126  Loewe: 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben. 

Von  Richard  Loewe. 

(Vgl.  oben  18,  1.  151.  21,  31.) 

I.  Der  Südosten. 

Aus  dem  Riesengrund  (Riesenhain)  berichtete  mir  noch  der  daselbst  1838 
geborene  und  jetzt  noch  wohnhafte  Feldgärtner  Stefan  Buchberger,  der  selbst 
nicht  mehr  wundergläubig  ist,  folgendes: 

„Die  alten  Leute  haben  viel  von  Rübezahl  gesprochen,  wenig  vom  Nacht- 
jäger, nichts  vom  Feuermann. 

Rübezahl  lebte  in  Teufels  Lustgärtchen.  Doch  war  er  auch  öfters  in  der 
Blauhölle  und  in  Rübezahls  Garten.  Im  Riesengrund  ist  er  oft  auf-  und  ab- 
gegangen. Neben  einem  Wassergraben  hatte  er  seinen  Weg  von  Teufels  Lust- 
gärtchen in  das  Tal  (den  Riesengrund);  der  Weg  führte  über  eine  felsige  Klippe. 
Jetzt  ist  der  Weg  überwachsen;  es  ist  nur  noch  mühsam  hindurchzukommen. 
Der  Teufelsgrat  führt  vom  Teufelsgärtchen  aus  sowohl  abwärts  als  auch  nach 
rechts  und  links;  er  erreicht  auch  noch  die  Blauhölle.  In  Teufels  Lustgärtchen 
wuchs  auch  ein  Apfelbaum. 

Rübezahl  hat  so  ausgesehen,  wie  man  ihn  darstellt.  Er  hat  sich  auch  ver- 
wandeln können,  z.  B.  in  einen  Jäger  oder  einen  feinen  Herrn. 

Rübezahl  hatte  auch  eine  Frau  namens  Emma,  die  hübsch  war.  Sie  hat  sich 
öfters  entfernt,  er  hat  sie  aber  immer  wiedergeholt. 

Rübezahl  holte  sich  oft  Wasserrüben  aus  dem  Riesengrund;  die  Leute  waren 
froh,  wenn  er  sich  wieder  entfernt  hatte;  beschwert  hat  sich  niemand  darüber 
aus  Angst.  Die  Leute  haben  auch  gefürchtet,  dass  Rübezahl  ihnen  auf  Zauber- 
art schaden  könnte.  Sie  hielten  ihn  für  einen  bösen  Geist  und  sagten  auch, 
er  sei  der  Teufel.  Wenn  Rübezahl  jemandem  etwas  in  den  Weg  legen  wollte, 
so  stieg  ein  Gewitter  auf.  Oft  ging  er  auch  mit  den  Leuten  und  zeigte  sich 
anfangs  dabei  freundlich,  ärgerte  sie  aber  nachher.  Öfters  hat  er  auch  Leute  irre 
geführt." 

Gutes  wusste  Stefan  Buchberger  über  Rübezahl  überhaupt  nicht  zu  be- 
richten, auch  nicht,  dass  er  die  Äpfel  seines  Apfelbaumes  irgend  jemandem  ge- 
schenkt hätte. 

Aus  dem  vom  Riesengrund  aus  zunächst  talwärts  gelegenen  Stumpengrund 
erhielt  ich  folgende  Auskunft  von  der  dort  1836  geborenen  und  jetzt  noch  wohn- 
haften Schneidermeisterswitwe  Katharina  Boensch,  geb.  Mitlöhner: 

„Rübezahl  lief  immer  von  der  Schneekoppe  auf  die  gegenüberliegende  Koppe 
(schwarze  Koppe  oder  Brunnberg)  durch  den  Riesengrund.  Er  ist  ein  Geist  und 
schickt  noch  jetzt  Gewitter  und  plötzliche  Unwetter,  führt  auch  noch  jetzt  die 
Menschen  irre.  In  Rübezahls  Lustgarten  gibt  es  noch  allerlei  Obstbäume,  braune 
Nelken,  rote  Nelken  und  andere  schöne  Blumen.  Getanzt  hat  Rübezahl  oft  mit 
jungen  Mädchen." 

Dazu  erzählt  Katharina  Boensch  noch  folgende  Geschichten,  davon  die  erste 
nach  Erzählung  ihrer  Grossmutter  (Vaters  Mutter)  aus  Klein-Aupa: 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  127 

1.  „Der  Grossvater  (meines  Vaters  Vater  aus  dem  Stumpengrunde)  ging  ein- 
mal um  die  zwölfte  Stunde  nachts  durch  den  Riesengrund  über  das  Wasser,  da 
kam  Rübezahl  mit  spitziger  Kappe  und  mit  einer  Pfeife  im  Mund,  mit  einer 
Schüssel  in  der  Hand  und  sagte,  er  sollte  sie  nehmen,  es  wären  Dukaten  darin. 
Er  musste  sie  nehmen,  obgleich  er  sah,  dass  nur  Kartoffelschalen  darin  waren. 
Als  Rübezahl  fort  war,  schüttete  er  die  Schüssel  aus,  nahm  sie  aber  selbst  noch 
mit,  um  sie  zu  Hause  zu  gebrauchen.  Da  fand  er  aber  noch  einen  Dukaten 
darin. 

2.  Mein  Mann  und  meine  beiden  Söhne  wollten  zum  heiligen  Abend  von 
Krummhübel  nach  Hause  gehen.  In  der  Nähe  der  Riesenbaude  aber  verirrten 
sie  sich  im  Nebel  und  kamen  immer  wieder  an  den  alten  Ort  zurück.  Das 
machte  Rübezahl.  Ein  paarmal  wären  sie  beinahe  in  den  Melzer  Grund  gestürzt, 
aber  die  Schutzgeister  sagten:  'Jesses,  ihr  verunglückt'.  Sie  sind  statt  mittags, 
wie  sie  wollten,  erst  am  Abend  nach  Hause  gekommen. 

3.  Alte  Leute,  die  bei  der  jetzigen  Riesenbaude  Gras  mähten,  haben  gesehen, 
wie  Rübezahl  von  der  Schneekoppe  zum  Brunnberg  lief.  Ein  Mann  kam  einmal 
von  der  Stelle,  wo  jetzt  (seit  1847)  die  Riesenbaude  steht,  herunter  in  den  Riesen- 
grund mit  einer  Hucke  voll  Heu  und  ass  sein  Frühstück.  Da  sah  er,  wie  jemand 
von  der  Schneekoppe  auf  den  Brunnberg  durch  die  Luft  hinschwärmte.  Erdachte: 
•Du  Rübezahl-Aas,  du  willst  gewiss  ein  Gewitter  machen'.  In  demselben  Augen- 
blicke bekam  er  eine  furchtbare  Ohrfeige.     Da  lief  er  davon." 

Meine  Frage,  ob  Rübezahl  mehr  gut  oder  schlecht  gewesen  wäre,  beant- 
wortete Katharia  Boensch  dahin,  dass  er  wohl  mehr  ein  böser  Geist  war. 

Die  Anschauungen  über  Rübezahl  aus  dem  auf  der  Rückseite  des  Brunn- 
berges gelegenen  Blaugrund  erfuhr  ich  von  dem  dort  184<i  geborenen,  seit  1905 
aber  in  Dunkeltal  wohnhaften  Feldgärtner  Ignaz  Mergans: 

„Meist  hielt  sich  Rübezahl  im  Teufelsgärtchen  auf,  das  eigentlich  Rübezahls 
Lustgarten  heisst,  zuweilen  auch  in  der  Blauhölle.  Im  Blaugrund  selbst  wurde 
er  nicht  gesehen;  dagegen  erzählten  die  Ureltern,  dass  man  ihn  öfters  im  Riesen- 
grund gesehen  hätte. 

Um  das  Teufelsgärtchen  herum  hatte  Rübezahl  Goldblätter  ausgestreut,  die 
er  sich  aus  Enzianblättern  gemacht  hatte.  Im  Garten  hatte  er  einen  Apfelbaum,  der 
vielleicht  jetzt  noch  zu  finden  ist.  Es  ist  ein  Zwergapfelbaum.  Die  Äpfel  waren 
nicht  grösser  als  etwa  Ebereschenbeeren.  Einmal,  Ende  der  1870  er  oder  Anfang 
der  1880er  Jahre,  sind  sie  reif  geworden;  der  Vater  des  jetzigen  Ortsvorstehers 
von  Petzer  hat  sie  nach  Prag  als  Delikatesse  geschickt.  Piübezahl  pflegte  viele 
Blumen,  besonders  Enzian,  Habmichlieb,  Almonie  (weisse  Blume,  wovon  8 — 10 
auf  einem  Stengel),  auch  Teufelsbart.  Alle  seltenen  Pflanzen  im  Gebirge  sollen 
von  Rübezahl  stammen. 

Eltern  und  Ureltern  schilderten  Rübezahl  als  einen  Mann  im  grauen  Anzug 
mit  langem  Bart.  Getanzt  hat  Rübezahl  öfters  für  sich  allein  auf  einem  ebenen 
Fleck,  aber  nicht  in  Gesellschaft.     Seine  Frau  hiess  Emma. 

Einmal  in  meinem  Leben,  als  ich  etwa  15  Jahr  alt  war,  sah  ich  zusammen 
mit  meinem  Bruder  und  meiner  Schwester  einen  grossen  Mann  (anderthalbmal  so 
gross  als  ein  gewöhnlicher  Mann)  mit  grauem  Anzug  und  tüchtigem  grossem 
Hut  mit  gewaltig  grosser  Krampe  in  der  Blauhölle,  wo  kein  Mensch  und  kein 
Wild  hingelangen  kann.  Von  Simmalehnich  ging  er  über  eine  grosse  Kluft  mit 
einem  Schritt  zur  Blauhölle,  wie  ein  Mensch  es  nicht  fertig  bekommt.  Er  blieb 
sodann  mindestens  eine  Viertelstunde  ganz  still  stehen,  die  Hände  gegen  die 
Seiten  gestützt.     Dann  wurde  er  immer  undeutlicher  zu  sehen,    bis    er    ganz  zer- 


128  Loewe: 

gangen  war.  Wir  dachten  uns  gleich,  dass  es  Rübezahl  wäre.  Als  wir  es 
unserem  Vater  erzählten,  sagte  er  auch,  es  wäre  Rübezahl  gewesen;  nun  würde 
es  bald  Winter.     Am  Nachmittag  desselben  Tages  schneite  es  schon. 

Etwa  1887  sah  ich  Rübezahl  noch  einmal,  als  ich  auf  meiner  Heuung  auf 
dem  Steinboden  beschäftigt  war.  Er  war  gross,  trug  grauen  Rock  und  graue 
Hose,  aber  eine  grüne  Weste  wie  ein  Tiroler.  Er  erschien  über  einer  Kniescheibe, 
verschwand  aber  sehr  schnell  wieder.  Das  war  morgens  9  Uhr;  am  Nachmittag 
gab  es  ein  furchtbares  Gewitter  mit  Schlössen.  Rübezahl  wollte  mir  wohl  an 
deuten,  dass  ich  mich  von  dort  entfernen  sollte." 

Meine  Fragen,  ob  Rübezahl  die  Leute  irre  geführt  und  geneckt  sowie  Eulen- 
spiegelstreiche gemacht  hätte,  verneinte  Ignaz  Mergans:  Rübezahl  sei  ein  guter 
Geist  gewesen,  der  niemandem  etwas  zuleide  getan  hätte.  Auch  war  Mergans 
nicht  bekannt,  dass  Rübezahl  Mädchen  gern  gehabt  hätte. 

Auch  die  Ehefrau  von  Ignaz  Mergans,  die  in  den  oberhalb  des  Blaugrundes 
stehenden  Brunnbergbauden  1843  geborene  Juliane  Mergans,  geb.  Richter,  be- 
zeichnete Rübezahl  (Ribenzäl)  als  einen  guten  Geist,  der  niemandem  etwas  zuleide 
getan  hätte.  Bemerkenswert  ist  auch  ihre  Antwort:  'Rübezahl  wird  auch  heute 
noch  leben'.     Weiteres  konnte  ich  nicht  von  ihr  erfahren. 

Aus  den  Richterbauden  erfuhr  ich  einiges  von  dem  dort  seit  1847  befind- 
lichen, 1*41  in  Gross-Aupa  geborenen  Stefan  Taseler  (Spitzname  Leischner).  Sein 
Wissen  über  Rübezahl  hat  er  meist  aus  den  Richterbauden,  weniger  von  seinem 
Vater.     Er  berichtete  folgendes: 

„Rübezahl  (Ribenzfil)  war  ein  sehr  grosser  Mann  mit  langem  Bart  und 
langer  Nase. 

Er  hat  sich  oft  lange  mit  einem  Mädchen  beschäftigt,  dann  wieder  mit  einem 
anderen.  Oft  hat  er  ein  Mädchen  auf  lange  Zeit  verlassen;  dann  kam  er  wieder 
und  tat  ihr  Gutes.  Er  hat  den  Leuten  überhaupt  oft  Gutes  getan,  niemals  aber 
etwas  Büses.  Er  war  vermögend  und  hat  immer  Geld  bei  sich  gehabt;  auch 
Bergwerke  hat  er  besessen.  Auch  mit  Kräutern  hat  er  sich  viel  abgegeben. 
Öfters  hat  er  auch  prophezeit. 

Rübezahl  war  ein  Geist.  Er  lässt  sich  aber  jetzt  nicht  mehr  spüren.  Es 
muss  ihn  irgendwer  bezwungen  haben.  Ebenso  den  Nachtjäger,  der  sich  heute 
auch  nicht  mehr  spüren  lässt. 

Gewitter  hat  Rübezahl  nicht  gemacht.  Das  tat  vielmehr  die  Kröllmaid 
(Krälmüt)  auf  dem  Kröllberg,  wo  jetzt  die  Kröllbaude  steht.  Sie  war  klein  wie 
ein  Kind,  trug  weibliche  Kleider  und  hatte  ein  altes  Gesicht.  Mein  Vater  hat  sie 
einmal  gesehen,  wie  sie  im  Knieholz  herumsprang:  darauf  entstand  ein  Ge- 
witter." 

Aus  Gross-Aupa  erhielt  ich  von  dem  daselbst  1833  geborenen  Feldgärtner 
Stefan  Mitlöhn  er,  dessen  Eltern  gleichfalls  aus  Gross-Aupa  waren,  folgende 
Auskunft: 

„Rübezahl  (Ribenzäl)  sah  verschieden  aus:  er  konnte  sich  in  einen  grossen 
Herrn  oder  einen  Forstmann  verwandeln,  auch  in  einen  Hund  oder  eine  Katze, 
in  einen  Raben  oder  einen  Habicht;  am  Brunnberg  gibt  es  Habichte.  Zeitweilig 
hat  er  einen  langen  weissen  Bart  gehabt,  auch  langes  weisses  Haar. 

Gewohnt  hat  Rübezahl  meist  in  seinem  Garten  und  in  seinen  Bergwerken 
am  Kiesberg.  Der  Garten  befindet  sich  im  Knieholz,  darin  soll  ein  Birnbaum 
stehen.  Einmal  wollten  Leute  Rübezahls  Garten  berauben;  da  machte  er  ein 
Gewitter,  dass  sie  nicht  dazu  konnten. 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  129 

Wenn  man  zu  Rübezahl  sagte  'Herr  Johannes',  dann  war  er  freundlich; 
wenn  man  aber  sagte  'Rübezahl',  dann  spielte  er  einem  einen  Possen.  Man 
nannte  ihn  auch  den  Berggeist. 

Rübezahl  hat  im  Gebirge  auch  Gewitter  gemacht.  Er  ist  auch  als  Wurzel- 
hacker gegangen,  hat  die  Kräuter  in  der  Apotheke  verkauft  und  das  Geld  weg- 
geschenkt. Auch  sonst  hat  er  Leuten  geholfen.  Er  hat  aber  auch  viel  Streiche 
gemacht.  Wenn  die  Leute  tanzten,  hat  er  mitgetanzt;  er  war  dabei  immer  An- 
führer; die  Mädchen  haben  sich  mit  ihm  unterhalten.  Wenn  ihn  Leute  geärgert 
haben,  so  hat  er  sie  irre  geführt,  zuletzt  aber  doch  wieder  auf  den  richtigen 
Weg  gebracht. 

Rübezahl  kam  einmal  oben  auf  dem  Gebirge  zu  einem  armen  Mann,  der 
ihm  seine  Not  klagte.  Da  gab  Rübezahl  ihm  Gras,  das  er  seiner  Ziege  zu  fressen 
geben  sollte.  Die  Ziege  aber  krepierte  davon.  Als  der  Mann  nun  die  Ziege 
aufschnitt,  hatte  sie  so  viel  Dukaten  im  Leib,  dass  er  davon  reich  wurde. 

Von  Rübezahl  wurde  mehr  gesprochen  als  vom  Nachtjäger.  Wenn  sich 
jemand  gesetzt  hat,  wo  der  Nachtjäger  in  der  Nähe  war,  so  hat  er  sich  ver- 
laufen. Der  Feuermann  brannte  wie  eine  Garbe  Stroh,  brachte  aber  keine 
Gefahr." 

In  Marschendorf  erfuhr  ich  von  dem  daselbst  1850  geborenen  Landwirt 
Johann  Demuth  folgendes: 

„Von  Rübezahl  wird  noch  viel  erzählt.  Er  war  Botaniker  und  ist  mit  den 
Kräutern,  die  er  gepflückt  hat,  in  die  Städte  gefahren  und  hat  sie  dort  verkauft. 
Er  hat  auch  viel  Neckereien  getrieben." 

Aus  Marschendorf  berichtete  mir  ferner  der  dort  1853  geborene  und  jetzt 
noch  wohnhafte  Schlossermeister  Anton  Renner: 

„Der  Nachtjäger  soll  mit  kleinen  Hunden  des  Nachts  gejagt  und  dabei  die 
Leute  irre  geführt  haben;  Rübezahl  dagegen  soll  bei  Tage,  besonders  bei  Nebel, 
diejenigen  irre  geführt  haben,  die  ihn  geneckt  hätten.  Auch  soll  er  öfters  Hoch- 
wasser prophezeit  haben,  das  dann  auch  gekommen  sei." 

Endlich  erhielt  ich  in  Marschendorf  von  dem  daselbst  1848  geborenen 
Schneidermeister  Franz  Boensch  folgende  Auskunft: 

„  Von  Rübezahl  wurde  mehr  als  vom  Nachtjäger  und  vom  Feuermann  er- 
zählt. Er  war  der  Berggeist.  Manchen  Leuten  tat  er  Gutes,  manchen  Böses. 
Manche  Leute  führte  er  auch  irre.  Bald  sah  er  aus  wie  ein  Greis  mit  langem 
Bart,  bald  wie  ein  Jäger,  bald  wie  ein  zerlumpter  Bettler. 

Auf  Hochzeiten  erschien  Rübezahl  öfters  und  machte  Geschenke;  machte 
man  ihm  dabei  etwas  nicht  recht,  so  machte  er  am  anderen  Tage  einen  Spuk.  — 
Er  gab  auch  den  Leuten  Kräuter  und  Blätter,  die  zu  Goldmünzen  wurden,  am 
anderen  Tage  aber  wieder  verschwanden. 

Wenn  die  Kräuterweiber  Rübezahls  Garten  zu  nahe  kamen,  so  hat  er  sie 
davongejagt. 

Rübezahl  soll  auch  den  Leuten  die  Meisterwurzel  gegen  Viehkrankheit  ge- 
geben haben.  Die  Wurzel,  welche  stinken  soll,  wurde  zerrieben  und  dem  Vieh 
eingegeben." 

In  den  zu  Klein-Aupa  gehörigen  Grenzbauden  gab  mir  der  1S29  dort  ge- 
borene Feldgärtner  Johann  Rose  folgende  Auskunft: 

„El.  wird  noch  jetzt  viel  von  Rübezahl  gesprochen,  mehr  als  vom  Nachtjäger. 

Rübezahl  hielt  sich  meist  auf  den  Bergen  nach  der  Schneekoppe  zu  auf. 
Armen  Leuten  hat  er  oft  geholfen.  Er  hat  auch  den  Leuten  gesagt,  welches 
Kraut  für  jede  Krankheit  gut  ist. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1911.    Heft  2.  o 


130 


Loewe: 


Rübezahl  hat  auch  prophezeit.  So  hat  er  zum  Beispiel  prophezeit,  dass  die 
Welt  mit  Brettern  verschlagen  wird.  Das  geht  jetzt  in  Erfüllung;  ein  Holzzaun 
ist  jetzt  die  preussisch-österreichische  Grenze  entlang  von  Marschendorf  bis  Ober- 
Klein-Aupa  gezogen.  Er  hat  auch  prophezeit,  dass  die  Kuh,  die  auf  die  Hutweide 
getrieben  würde,  eine  goldene  Schelle  tragen  wird.  Es  wird  jetzt  aber  gar 
keine  Kuh  mehr  auf  die  Hutweide  getrieben.  Die  Prophezeiung  ist  also  nicht 
falsch.     Genarrt  hat  Rübezahl  die  Leute  nicht;  er  war  ein  wahrhaftiger  Prophet."- 

Weiter  berichtete  mir  der  in  den  Grenzbauden  1845  geborene  und  jetzt  in  den 
gleichfalls    zu    Ober-Klein-Aupa    gehörigen  Neuhäusern    wohnhafte    Florian    Klein 

folgendes: 

„Es    wird    heute    noch    vom  Nachtjäger    gesprochen,    noch    mehr    aber    von 

Rübezahl. 

Rübezahl  hat  sich  meist  auf  dem  Kamm  zwischen  Peterbaude  und  Schnee- 
grubenbaude aufgehalten. 

Sein  ganzer  Körper  war  mit  Graubart  überwachsen,  so  wie  er  an  den  Bäumen 
hängt;  nur  die  Stirn  war  weiss.     Genährt  hat  er  sich  nur  von  Kräutern. 

Armen  Leuten  hat  Rübezahl  oft  geholfen,  indem  er  sie  beschenkte.  Doch 
hat  er  auch  die  Menschen  oft  in  die  Irre  geführt;  der  Nachtjäger  tat  das  nicht. 
Wenn  jemand  sagte,  dass  Rübezahl  nichts  tauge,  so  machte  er  ein  furchtbares 
Unwetter,  dass  man  nicht  von  der  Stelle  gehen  konnte. 

Mein  Vater  erzählte  auch,  wie  sein  Grossvater,  der  gleichfalls  schon  aus 
Klein-Aupa  war,  einmal  von  der  Peterbaude  nach  Schreiberhau  ging,  indem  er 
zwei  Herren  über  das  Gebirge  geleitete.  Auf  dem  Wege  sahen  sie  immer  je- 
manden vor  sich  gehen,  der  ganz  grau  aussah  und  einen  grünen  Hut  mit  Federn 
darauf  trug.  Sie  wollten  ihn  gern  einholen.  Wenn  sie  aber  schnell  liefen,  dann 
lief  er  um  so  schneller.  Es  war  in  der  Nähe  der  Schneegruben.  Als  sie  ihm 
ganz  nahe  kamen,  verschwand  er  in  einem  Knieholzstrauch;  sie  konnten  dort  aber 
nichts  mehr  finden.     Da  dachten  sie,  es  wäre  Rübezahl." 

Zu  dieser  Erzählung  fügte  Florian  Klein  noch  zwei  bekannte,  die  ich  hier 
in  der  Form,  wie  er  sie  vortrug,  wiedergebe  (die  zweite  mit  Berufung  wieder 
auf  seinen  Vater): 

„1.  Rübezahl  hat  sich  von  weit  her  eine  Frau  namens  Emma  gestohlen.  Er 
schaffte  sie  in  seinen  Garten  auf  der  grossen  Sturmhaube  nahe  bei  der  Peter- 
baude und  den  Schneegruben.  Emma  hat  immer  geweint,  weil  er  so  hässlich 
war.  Da  pflanzte  er  Wasserrüben;  sie  konnte  daraus  machen,  was  sie  wollte. 
Sie  machte  sich  Gesellschaft  daraus.  Wenn  aber  Rübezahl  wollte,  war  die  Ge- 
sellschaft wieder  fort.  Zuletzt  raubte  ein  Mann  die  Emma;  sie  slarb  aber  in. 
seinen  Armen,  bevor  er  sie  in  seine  Heimat  brachte." 

„2.  Eine  Frau  ging  in  den  Wald  und  holte  sich  Gras  für  die  Ziegen.  Sie 
nahm  ihre  drei  Kinder  mit;  das  kleinste  hatte  sie  auf  dem  Rücken  in  einem 
Korbe.  Als  sie  das  Gras  mähte,  schrie  der  Junge  sehr.  Da  sagte  sie:  'Wenn. 
du  nicht  ruhig  wirst,  so  gebe  ich  dich  Rübezahl'.  Als  er  eingeschlafen  war, 
mähte  sie  weiter.  Der  Kleine  erwachte  wieder  und  schrie  noch  schärfer.  Da. 
sagte  sie:  'Wenn  du  jetzt  nicht  ruhig  bist,  so  gebe  ich  dich  Rübezahl  wirklich'. 
Da  erschien  Rübezahl  und  wollte  den  Kleinen  haben;  sie  wollte  ihn  aber  nicht 
geben.  Als  sie  nach  Hause  ging,  setzte  sie  den  Jungen  auf  das  Gras,  das  sie  im. 
Korb  auf  dem  Rücken  trug.  Der  Korb  wurde  schwer;  da  warf  sie  etwas  Gras 
fort.  Als  sie  nach  Hause  kam,  gab  sie  das  Gras  ihren  Ziegen.  Als  sie  die 
Ziegen  abends  wieder  füttern  wollte,  lagen  diese  tot  im  Stall.  Ihr  Mann 
schlachtete  darauf  die  Ziegen  aus;    da    hatten    sie    Goldklumpen   im    Leibe.     Ein 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  131 

klein    wenig  Gras    war    noch    im  Korb    geblieben;     das    war    auch    zu    Gold    ge- 
worden." 

In  Johannisbad  erfuhr  ich  von  dem  daselbst  1837  geborenen  früheren  Weber 
und  jetzigen  Villenbesitzer  Johann  Zippel  folgendes: 

„Es  wurde  früher  vom  Nachtjäger  und  von  Rübezahl  erzählt;  ersterer  sollte 
auf  den  Bergen  bei  Freiheit,  letzterer  im  Knieholz  um  die  Schneekoppe  sein. 
Rübezahl  soll  die  Leute  im  Gebirge  irre  geführt  haben.  Einmal  soll  er  in  eine 
Stadt  zu  einem  Barbier  als  Gehilfe  gegangen  sein." 

In  Schwarzenberg  berichtete  mir  der  dort  1849  geborene  Tagarbeiter  Johann 
Kihnel: 

„Erzählt  wurde  vom  Wassermann,  der  eine  rote  Kappe  trug  und  klein  war. 
Er  wohnte  in  Seiffenbach  unterhalb  Schwarzenbergs  und  im  Aupatale.  Den  Nacht- 
jäger habe  ich  stets  des  Nachts  gehört,  als  ich  noch  jung  war;  jetzt  lässt  er  sich 
nicht  mehr  hören.  Er  wohnte  auf  dem  Schwarzenberg.  Einmal  sah  ich,  als  ich 
16  Jahr  alt  war,  vom  Schwarzenberg  ein  grosses  blaues  Wesen  mit  ungeheuer 
langem  Schweif  nach  unten  ziehen.  Als  ich  es  am  nächsten  Tage  meinem  Vater 
erzählte,  sagte  er:  'Das  war  der  Geier;  wenn  du  ihn  blau  gesehen  hast,  hat  er  den 
Leuten  unten  Getreide  gebracht;  wenn  er  aber  rot  ist,  dann  bringt  er  Feuer  und 
zündet  Häuser  an.'  Dass  Rübezahl  durch  den  Wald  gegangen  ist  und  mit  Leuten 
gesprochen  hat,  hört  man  bisweilen  jetzt  noch  von  alten  Leuten;  Rübezahl 
(Rlbenzäl)  war  hald  hier,  bald  dort. 

Rübezahl  hat  die  Leute  sehr  viel  irre  geführt.  Oft  verkleidete  er  sich  als 
Förster  oder  auf  andere  Weise,  gesellte  sich  so  zu  Leuten,  verschwand  aber  bald 
wieder. 

Rübezahl  hat  prophezeit,  dass  die  Menschen  immer  elender  werden  und  in 
einigen  tausend  Jahren  aussterben  würden.  Dann  würde  die  Welt  wieder  so  öde 
werden  wie  vor  Hunderttausenden  von  Jahren,  dann  aber  wieder  neu  angepflanzt. 

Eine  Truppe  Musikanten  zog  einmal  durch  den  Wald  und  spielte  ein  Stück. 
Da  kam  ein  gewaltig  grosser  Mann  (es  war  Rübezahl,  aber  sie  erkannten  ihn 
nicht)  und  sagte:  'Ihr  macht  mir  wirklich  schöne  Musik;  was  bin  ich  euch  dafür 
schuldig?'  Die  Musikanten  antworteten:  'Wir  verlangen  dafür  nichts.'  Der  Mann 
aber  sagte:  'Ich  will  euch  für  das  schöne  Stück  doch  etwas  geben;  zeigt  einmal 
eure  Mützen  her.'  Darauf  tat  er  jedem  etwas  in  seine  Mütze.  Als  der  Mann  sich 
entfernt  hatte,  erkannten  sie,  dass  es  Pferdemist  war,  und  warfen  es  fort.  Am 
nächsten  Morgen  bürstete  einer  von  ihnen  seine  Mütze  ab  und  fand  dabei  plötzlich 
noch  ein  Goldstück.  Mehr  konnte  er  nicht  finden,  die  anderen  aber  fanden 
gar  nichts." 

II.   Der  Nordosten. 

Sagen  aus  Wolfshau  berichtete  mir  der  dort  1839  geborene,  seit  1869  in 
Brückenberg  wohnhafte  Benjamin  Wolf: 

„In  der  Schlingelbaude  soll  Rübezahl  gehaust  und  teilweis  dort  mit  den 
Fremden  yerkehrt  haben.  —  Als  Rübezahls  Kegelkugel  wurde  ein  grosser  runder 
Stein  auf  dem  Wege  von  Rübezahls  Kegelbahn  nach  Seidorf  gezeigt." 

Zwei  auch  sonst  bekannte  Erzählungen  gab  Benjamin  Wolf  in  besonderer 
Gestalt: 

1.  „Vor  uralter  Zeit  siedelten  sich  hier  (im  Riesengebirge)  vertriebene  Be- 
wohner an.  Rings  umher  war  alles  Urwald.  Den  Berggeist  Rübezahl,  der  da- 
mals, wie  auch  heute  noch,  seine  Existenz  hier  hatte,  ärgerte  dies  furchtbar;  er 
wollte  die  Ansiedler  vertreiben.  Er  sann  auf  Mittel  und  kam  auf  den  Einfall, 
einen  grossen  Felsblock  in  den  grossen  Teich  zu  werfen,  um  dadurch  eine  Über- 


132  Loewe: 

schwemmung  der  Gegend  zu  verursachen.  Zu  diesem  Zweck  ging  er  über  den 
Silberkamm  und  holte  sich  von  den  Dreisteinen  einen  grossen  Fels,  welchen  er 
auf  dem  Rücken  trug.  Zuletzt  wurde  ihm  der  Stein  zu  schwer.  Da  begegnete 
ihm  eine  Hexe,  welche  zu  ihm  sagte,  er  sollte  doch  den  Stein  ein  wenig  absetzen 
und  sich  ausruhen.  Er  sagte,  er  könnte  das  nicht:  setzte  er  den  Stein  ab,  so 
könnte  er  ihn  nicht  mehr  erheben;  er  müsste  ihn  dann  stehen  lassen.  Da  meinte 
die  Hexe,  sie  würde  ihm  helfen.  Darauf  setzte  er  den  Stein  ab.  Nachdem  er  sich 
etwas  ausgeruht  hatte,  wollte  er  mit  dem  Stein  weitergehen,  aber  er  konnte  ihn 
nicht  mehr  erheben,  und  die  Hexe  half  ihm  nicht.  Darauf  wurde  er  zornig,  griff 
die  Hexe  und  warf  sie  an  den  Stein.  So  sieht  man  heute  noch  die  zu  Stein  ge- 
wordene Hexe  am  Mittagstein  kleben. 

2.  Einstens  begegnete  Rübezahl  auf  seiner  Wanderung  einem  armen  Weibe, 
die  Heilkräuter  suchte.  Er  forderte  sie  auf,  ihre  Kräuter  wegzuwerfen;  er  wollte 
ihr  andere  geben  und  füllte  ihren  Korb  mit  Laub.  Als  die  Frau  aus  seinem  Ge- 
sichtskreise war,  warf  sie  das  Laub  aus  dem  Korbe.  Als  sie  die  letzten  Blätter 
herauswerfen  wollte,  war  es  Gold.  Nun  suchte  sie  nach  dem  Weggeworfenen, 
konnte  aber  nichts  mehr  finden." 

In  Krummhübel  erhielt  ich  von  dem  1844  dort  geborenen  Heinrich  Linke, 
der  zuerst  Träger  für  die  Schneekoppe  und  dann  von  1866 — Ls96  Bergführer  ge- 
wesen war,  folgende  Auskunft: 

„Rübezahls  Garten  lag  auf  dem  Brunnberg.  Am  Gehänge  wurde  ein  grosser 
Stein  Rübezahls  Kaffeemühle  genannt.  Im  Lomnitztal  befindet  sich  über  dem 
Gasthof  'Waldhaus'  in  Krummhübel  seitlich  vom  Lomnitzkessel  ein  rundes  Loch, 
das  Rübezahls  Badewanne  hiess.  Rübezahls  Würfel  liegt  unter  der  Neuen 
Schlesischen  Baude;  er  wurde  auch  Rübezahls  Schlummerkissen  genannt.  Über 
der  Peterbaude  hatte  Rübezahl  seine  Gruft;  er  war  aber  immer  wieder  da.  Wenn 
die  Witterung  schlecht  war,  sagte  man,  dass  Rübezahl  auf  seiner  Kegelbahn  über 
der  Kirche  Wang  Kegel  schübe,  nachdem  er  ein  grosses  Stück  vom  Gebirge 
herabgekommen  wäre. 

Rübezahl  war  ein  grosser  Mann  mit  grossem  grauem  Bart  und  grossem  Stock. 
Er  trug  einen  grauen  Rock  mit  Moos.  Das  Haar  trug  er  lang;  es  war  moosgrün. 
Sein  Hut  war  hoch,  zerknittert  und  moosfarbig. 

Rübezahl  wurde  ärgerlich,  wenn  man  oben  auf  dem  Gebirge  weissen  Enzian 
pflückte.  Auch  ärgerte  er  sich,  wenn  sein  Bart,  der  Teufelsbart,  abgepflückt  wurde. 
In  solchen  Fällen  machte  er  Gewitter. 

Von  Rübezahl  wurde  immer  erzählt,  wenig  vom  Nachtjäger  und  vom  grossen 
Leuchter." 

In  Krummhübel  erfuhr  ich  weiteres  von  dem  Briefträger  Robert  Fleiss,  der 
1847  in  den  Baberhäusern  geboren  wurde,  aber  schon  1855  nach  Krummhübel  kam, 
von  wo  er  grösstenteils  sein  Wissen  über  Rübezahl  hat.  Er  war  eine  Zeitlang 
gleichfalls  Gebirgsführer.     Er  berichtete  mir  folgendes: 

„Rübezahls  Lustgarten  lag  am  Brunnberg.  Auf  seiner  Kegelbahn0  hat  Rübe- 
zahl so  stark  gekegelt,  dass  die  Kugeln  bis  Ober-Arnsdorf  geflogen  sind,  wo  sie 
noch  liegen. 

Rübezahls  Name  kommt  daher,  dass  er  Rüben  zählen  musste,  als  er  die 
Emma  erhalten  wollte;  da  er  richtig  zählte,  so  nahm  sie  ihn  zum  Mann.  Vorher 
hatte  Rübezahl  die  Emma  gestohlen  und  in  einem  Ranzen  fortgeschafft." 

Ausführlicher  als  die  Geschichte  von  Emma  gab  Robert  Fleiss  zwei  andere 
Erzählungen,  von  denen  die  erste  weniger  bekannt  ist: 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  133 

1.  „Rübezahls  Schnurrbartbaude.  Ein  Hirt,  der  seine  Kühe  über  das 
Gehänge  trieb,  verliebte  sich  in  ein  Mädchen.  Die  aber  wollte  lieber  den  Förster 
heiraten.  Der  Hirt  klagte  Rübezahl  sein  Leid.  Dieser  erschien  bald  als  Seifen- 
händler und  verkaufte  dem  Mädchen  ein  Stück  Seife.  Als  sie  die  Seife  ge- 
brauchte, wuchs  ihr  ein  Schnurrbart.  Nun  mochte  sie  der  Förster  nicht  mehr; 
der  Hirt  aber  nahm  sie.  Vierzehn  Tage  nach  der  Hochzeit  aber  war  der  Schnurr- 
bart wieder  verschwunden.  Die  Baude,  in  der  das  Mädchen  wohnte,  erhielt  den 
Namen  'Rübezahls  Schnurrbartbaude';  so  heisst  noch  jetzt  ein  Gasthaus  oberhalb 

Krummhübeis. " 

2.  „Rübezahl  will  Schlesien  überschwemmen.  Rübezahl  wollte 
Schlesien  ersäufen,  weil  es  zu  Preussen  und  nicht  zu  Österreich  gehörte.  Sein 
Revier  war  auf  dem  Kamm.  Er  brachte  von  dort  einen  grossen  Stein  geschleppt 
und  wollte  ihn  in  den  grossen  Teich  werfen.  Da  begegnete  ihm  eine  Frau,  die 
zu  ihm  sagte,  er  solle  ruhen.  Als  er  nach  dem  Ruhen  weiter  gehen  wollte, 
brachte  er  den  Stein  nicht  mehr  von  der  Stelle.  An  dem  Stein  sind  noch  die 
Glieder  der  Kette  zu  sehen,  mit  der  er  sich  ihn  angebunden  hatte.  Auch  das 
Gesicht  der  alten  Frau  ist  daran  zu  sehen.  Mit  der  Kette  hat  er  der  Frau  alles 
verschlossen.     Er  sagte:  'Schön  steht's  nicht,  aber  halten  wird's'." 

Vieles  über  Rübezahl  wusste  der  1861  in  Krummhübel  geborene  und  dort 
jetzt  noch  wohnhafte  Briefträger  Stefan  Trömer  nach  den  Erzählungen  seines 
Vaters,  des  Bergführers  Trömer  aus  Krummhübel  (1822— 1904),  zu  berichten.  Von 
ihm  erfuhr  ich  folgendes: 

„Aufgehalten  hat  sich  Rübezahl  meist  auf  dem  Kamm.  Bei  schlechtem  Wetter 
kam  er  bisweilen  herunter,  so  nach  Warmbrunn  und  nach  Krummhübel.  Seine 
Heimat  war  eigentlich  Spindelmühle.  Seine  Gruft  hatte  er  über  der  Peterbaude 
am  Manstein.  Bei  den  Mädelsteinen  liegt  sein  Sarg.  Zwischen  dem  Pantsche- 
falle und  dem  Krekonosch  ist  eine  Felspartie,  die  'Rübezahls  Schloss'  heisst. 

Bei  der  Neuen  Schlesischen  Baude  hatte  Rübezahl  seinen  Würfel;  oft  bot  er 
Touristen  an,  dass  sie  mit  ihm  würfeln  sollten;  denen  aber  war  der  Stein,  der 
wohl  zwanzig  Zentner  wiegt,  zu  schwer.  —  Hinter  der  Kirche  Wang  hatte  Rübe- 
zahl seine  Kegelbahn;  dort  hat  er  oft  andere  Leute  im  Kegelspie]  übertölpelt. 

Auf  der  kleinen  Koppe  war  Rübezahls  Kaffeemühle.  Für  die  Beerensucher 
und  die  Förster  hat  er  dort  Kaffee  gekocht:  dann  sah  man  eine  Wolkenbildung, 
als  wenn  Rauch  emporstieg.  Ärgerte  man  ihn  aber,  so  lief  er  mit  der  Kurbel  fort, 
so  dass  sich  niemand  mehr  Kaffee  kochen  konnte.  Er  ging  dann  auf  den  Ziegen- 
rücken, zuweilen  auch  herunter  nach  Spindelmühle. 

Rübezahl  war  öfters  auch  auf  dem  Luderfelsen  an  der  schwarzen  Koppe;  sah 
er  von  dort  Leute,  die  ihn  ärgerten,  so  liess  er  Steine  herabrollen.  —  An  be- 
stimmten Stellen  bei  Krummhübel  durfte  man  Rübezahl  nicht  rufen;  sonst  liess 
er  entweder  ein  grosses  Unwetter  kommen  oder  donnerartiges  Gestein  von  oben. 
Das  waren  Stellen,  die  zu  seinem  Reiche  gehörten. 

Bei  der  Bergschmiede  hatte  Rübezahl  ein  Erzbergwerk1).  In  seinem  Garten 
hatte  er  allerhand  Früchte  für  Gemüse,  besonders  Wasserrüben;  alle  Tage  bis  zu 
seinem  Tode  ass  er  einen  Teller  Rübensuppe. 

Rübezahl  hatte  einen  langen  Bart,  war  kräftig  und  gross  und  trug  einen 
Spitzhut  und  einen  Stock,  wie  man  ihn  im  Busch  abschneidet.    Wenn  ihn  jemand 

1)  Meine  Frage,  ob  Rübezahl  auch  im  Melzergrund  ein  Bergwerk  gehabt  habe,  be- 
jahte Trömer  mit  dem  Zusätze  'dort  sieht  man  noch  Löcher';  gleichwohl  ist  die  Angabe 
vielleicht  nur  durch  meine  Frage  veranlasst  worden. 


134  Loewe: 

ärgerte,  nahm  er  plötzlich  eine  andere  Gestalt  an,  um  zu  foppen.  Er  erschien 
dann  als  Bummler  oder  als  Tourist,  ging-  dann  mit  den  Leuten,  die  ihn  gekränkt 
hatten,  ein  Stück  und  gab  ihnen  dann  eine  falsche  Wegrichtung  an.  Doch  hat  er 
auch  viel  Gutes  getan. 

Bei  guter  Laune  ging  Rübezahl  unter  die  Leute  und  tanzte.  Die  Mädchen  hat 
er  sehr  gern  gehabt  und  viele  verführt. 

Rübezahl  hat  gesagt,  wenn  der  feurige  Hund  ins  Land  kommen  würde,  dann 
käme  eine  schlimme  Zeit;    mit  dem  feurigen  Hund    war  die  Eisenbahn    gemeint." 

Ausserdem  erzählte  mir  Stefan  Trümer  auch  drei  Geschichten  von  Rübezahl, 
darunter  die  erste  vom  Mittagsstein,  aber  in  sehr  abweichender  Gestalt. 

1..  Rübezahl  will  Schlesien  überschwemmen.  Rübezahl  zog  einmal 
von  Spindelmühle  zur  Teufelswiese;  da  traf  er  eine  alte  Preiselbeeren  suchende 
Frau,  mit  der  er  früher  einmal  einen  Streit  gehabt  hatte.  Sie  erkannte  ihn  nicht; 
er  aber  half  ihr  suchen.  Zuletzt  lud  sie  sich  einen  grossen  Sack  voll  Preisel- 
beeren auf  ihre  Hucke,  die  sie  dann  abwechselnd  mit  Rübezahl  trug.  Rübezahl 
wollte  mit  den  Preiselbeeren  Schlesien  überschwemmen,  dadurch,  dass  er  sie  in 
den  grossen  Teich  warf,  weil  die  Frau  aus  Schlesien  herübergekommen  war.  Doch 
tat  es  ihm  schliesslich  leid,  Schlesien  Böses  zuzufügen.  Er  sagte  vielmehr  zu  der 
Frau,  als  sie  die  Preiselbeeren  trug,  sie  solle  einmal  ausruhen.  Als  sie  ausruhte,  ver- 
steinerte er  sie;  man  sieht  sie  noch  am  Mittagstein. 

2.  Die  Steine  auf  der  Schneekoppe.  Schuljungen  aus  Spindelmühle 
hatten  einmal  Rübezahl  geärgert.  Er  nahm  sie  nun  hinauf  bis  zum  Koppenkegel, 
wo  sie  zur  Strafe  die  Steine  klein  klopfen  mussten.  Dafür  aber  bekamen  sie 
jeder  einen  Teller  Rübensuppe.  An  einem  Tage  hatten  sie  die  Steine  klein  ge- 
klopft. Davon  sind  die  Steine  auf  der  Koppe  meist  nicht  grösser  als  ein  Tassen- 
kopf. Rübezahl  begleitete  die  Jungen  bis  zum  Ziegenrücken  und  schickte  sie 
dann  nach  Hause  mit  der  Drohung,  dass  sie,  wenn  sie  ihn  noch  einmal  ärgerten,  die 
Steine  an  der  Eisenkoppe  klein  klopfen  müssten.  Dort  liegen  nämlich  grössere  Steine. 

3.  Das  Seiffenloch.  Rübezahl  wollte  einmal  vom  Seiffenloch  aus  (woher 
der  SeifTen  kommt)  zur  Hampelbaude  gehen.  Ein  Förster,  der  ihn  nicht  erkannte, 
hielt  ihn  jedoch  schon  im  Seiffenloch  an  und  sagte,  er  solle  auf  dem  Wege  bleiben. 
Wütend  darüber  riss  Rübezahl  über  vier  Morgen  junger  Schonung  heraus  und 
schleuderte  sie  hinab:  daher  jetzt  noch  der  kahle  Fleck  im  Seiffenloch." 

In  Steinseiffen  teilte  mir  der  dort  1840  geborene  Albert  Baumert  folgendes  mit: 

„Es  wurde  erzählt,  dass  einmal  ein  Mann  von  Steinseiffen  nach  Warmbrunn 
ging;  unterwegs  gesellte  sich  ein  anderer  Mann  zu  ihm,  der  sich  als  Rübezahl 
entpuppte.  Sie  kamen  beide  auf  Heilkräuter  zu  sprechen  und  Rübezahl  lehrte  den 
Mann  ein  darauf  bezügliches  Sprüchlein;  die  Worte  des  Sprüchleins  habe  ich  vergessen. 

Im  Juli  LSG4  ging  ich  mit  dem  Knecht  meines  Schwiegervaters  aus  Brücken- 
berg einen  Weg  hinter  der  Hampelbaude;  da  brach  ein  furchtbarer  Sturm  aus; 
der  Knecht  aber  sagte,  das  machte  Rübezahl." 

In  Steinseiffen  erfuhr  ich  auch  noch  einiges  von  Beate  Ende,  geb.  Mai,  die 
1835  in  Saalberg  geboren  wurde,  18G6  nach  Krummhübel,  1868  aber  nach  Stein- 
seiffen kam.  Sie  will  von  Rübezahl  hauptsächlich  erst  in  Steinseiffen  gehört  haben, 
wo  von  dem  Mann,  dem  Rübezahl  Geld  borgte  und  zu  einem  bestimmten  Termin 
zurückverlangte,  sowie  von  der  Frau,  der  er  Blätter  in  Gold  verwandelte,  erzählt 
worden  sei;  alten  Kräuterweibern  und  Holzhackern  habe  Rübezahl  geholfen,  indem 
er  in  verwandelter  Gestalt  zu  ihnen  getreten  wäre1). 


1)  Nicht   ganz    sicher  bin  ich,    ob    die    allerdings    zuversichtliche  Angabe    der  Frau 


Weiteres  über  Eübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  135 

In  Fischbach  erzähte  mir  die  dort  183<>  geborene  Christiane  Fichtner,  geb. 
Deunert,  nach  dem  Bericht  ihrer  Grosseltern  nachstehende  Geschichte: 

„Ein  Ehepaar  setzte  sich  auf  der  Schneekoppe  nieder.  Der  Mann  sagte: 
'Ich  möchte  noch  einmal  jung  sein,  aber  den  Verstand  haben  wie  jetzt'.  Die 
Frau  dagegen  meinte:  'Ich  möchte  noch  einmal  jung  sein,  aber  so,  wie  ich  als 
Kind  war'.  Da  trat  Rübezahl  hinter  sie  als  graues  Männlein  und  sagte:  'Was  ihr 
euch  gewünscht  habt,  soll  euch  werden'.  Darauf  schliefen  Mann  und  Frau  ein. 
Dem  Manne  träumte,  er  wäre  wieder  ein  Kind,  aber  viel  verständiger  als  andere 
Kinder.  Alle  waren  ihm  feindlich,  weil  er  als  Kind  so  vorwitzig  war.  Er  kam 
in  die  Lehre,  musste  aber  viele  Meister  haben,  weil  er  mehr  verstehen  wollte  als 
diese.  Endlich  verheiratete  er  sich;  aber  es  ging  ihm  noch  weiter  schlecht  wegen 
seines  Vorwitzes.  Der  Frau  träumte,  sie  wäre  wieder  ein  Kind  bei  ihren  Eltern 
und  so  glücklich,  wie  nur  ein  Kind  sein  kann.  Dann  wurde  sie  Jungfrau,  und 
alle  waren  freundlich  gegen  sie,  weil  sie  so  vernünftig  war.  Sie  verheiratete  sich 
darauf  und  fühlte  sich  in  ihrer  Ehe  glücklich.  Da  wachten  Mann  und  Frau  auf. 
Der  Mann  sagte:  'Gott  sei  Dank,  dass  ich  aufgewacht  bin;  ich  habe  ein  schreck- 
liches Leben  gehabt'.  Die  Frau  aber  versetzte:  'Ich  hätte  gern  noch  weiter 
geträumt,  denn  ich  bin  so  glücklich  gewesen'." 

Einige  Bemerkungen  über  Rübezahl  machte  mir  auch  die  in  Fischbach  1836 
geborene  und  noch  wohnhafte  Marie  Deunert,  die  Schwester  der  oben  genannten 
Christiane  Fichtner: 

„Die  Grosseltern  haben  vom  Nachtjäger  und  von  Rübezahl  gesprochen. 
Letzterer  sollte  aber  nicht  in  Fischbach,  sondern  im  Gebirge  sein  [Fischbach 
liegt  im  Vorgebirge].  —  Ein  armes  Brautpaar  klagte  sich  einmal  seine  Not.  Da 
kam  Rübezahl  und  machte  beide  Brautleute  reich,  so  dass  sie  sich  heiraten  konnten." 

In  Fischbach    berichtete    mir  weiter  der  dort  1861  geborene  Wilhelm  Kuhnt: 

„Die  alten  Leute  in  Fischbach  glaubten  früher,  dass  Rübezahl  im  Gebirge 
wäre,  sprachen  aber  weniger  von  ihm  als  von  anderen  Geistern.  Doch  erzählte 
die  jetzt  etwa  GO  Jahre  alte,  in  Fischbach  geborene,  jetzt  aber  in  Lomnitz 
wohnende  Frau  Ernestine  Krügel,  dass  sie,  als  sie  zusammen  mit  Beate  Ende  aus 
Fischbach  am  Forstberge  Beeren  suchte,  plötzlich  Rübezahl  vor  ihr  gestanden 
habe;  er  habe  so  ausgesehen,  wie  man  ihn  darstellt;  sie  sei  sehr  erschrocken 
gewesen,  aber  Rübezahl  sei  sogleich  wieder  verschwunden." 

Von  den  mir  von  Kuhnt  genannten  Frauen  konnte  ich  wenigstens  Frau  Beate 
Ende,  geb.  Haertel,  sprechen,  die  1843  in  Erdmannsdorf  geboren  war,  vom  fünften 
Jahre  ab  in  Waltersdorf  bei  Kupferberg  lebte  und  jetzt  auch  in  Fischbach  wohnt. 
Sie  berichtete  mir: 

„Ich  habe  einmal  die  weisse  Frau  gesehen,  die  sich  als  Braut  vom  Schloss 
in  den  Wallgraben  gestürzt  hat  und  nun  umgeht.  Von  dieser  wird  in  Fischbach 
erzählt.  In  der  Nähe  unseres  Hauses  sieht  man  an  einer  bestimmten  Stelle  ein 
Licht  brennen,  das  nichts  Natürliches  ist;  man  nennt  es  den  goldenen  Esel. 

Rübezahl  ist  oben  im  Gebirge;  aber  auch  in  Fischbach  wurde  viel  über  ihn 
gesprochen.  Gesehen  habe  ich  ihn  nicht.  Rübezahl  machte  Dummheiten  wie 
Eulenspiegel."1) 


Ende,  dass  Rübezahl  seinen  Sitz  am  Rabenstein  zwischen  Steinseiffen  und  Wolfshau  ge- 
habt haben  soll,  nicht  durch  meine  Frage,  ob  der  Berggeist  sich  nicht  in  der  Nähe  von 
Krummhübel  und  Wolfshau  aufgehalten  habe,  hervorgerufen  war. 

1)  An  letztere  Bemerkung  knüpfte  sie  noch  die  Erzählung  mit  der  Pointe:  'Wenn 
sich  auf  einer  Feder  so  schlecht  liegt,  wie  wird  sich  erst  auf  vielen  liegen'  (vgl.  oben 
18,  19). 


13(i  Loewe: 

Einiges  berichtete  mir  in  dieser  Gegend  noch  die  1830  in  Quirl  geborene, 
jetzt  in  der  zu  Erdmannsdorf  gehörigen  Kolonie  Scheibe  wohnhafte  Auguste  Fels- 
mann, geb.  Lorenz: 

„Die  alten  Leute  haben  viel  von  Rübezahl  erzählt.  Er  war  oben  auf  dem 
Gebirge,  kam  von  dort  öfters  ein  Stück  herunter,  ging  dann  mit  irgend  jemandem 
eine  Strecke  und  entfernte  sich  dann  wieder." 

Weiteres  erfuhr  ich  von  dem  1848  in  Stonsdorf  geborenen  Wilhelm  Baumgart, 
der  seit  1873  in  Steinseiffen  wohnt: 

„Den  Kräutersuchern,  die  nichts  gefunden  hatten,  hat  Rübezahl  die  Säcke 
gefüllt.  Wenn  jemand  im  Winter  beim  Holzfahren  den  Schlitten  nicht  vorwärts 
brachte,  so  half  ihm  Rübezahl. 

Zwei  Touristen  zogen  einmal  durch  das  Gebirge.  Der  eine  rief:  'Rübezahl, 
wo  bist  du?'     Da  wurde  es  finster  und  regnete  furchtbar." 

Dazu  erzählte  mir  Wilhelm  Baumgart  noch  folgendes  Märchen,  das  er  von 
seiner  Mutter  in  Stonsdorf  gehört  hatte: 

„Rübezahl  kam  einmal  nach  Agnetendorf  zu  einem  Bauern  und  wollte  dort 
ein  Mädchen  heiraten.  Sie  sagte  darauf:  'Wenn  du  die  Runkelrüben  richtig 
zählst,  die  wir  heute  gepflanzt  haben,  so  will  ich  dich  nehmen'.  Er  zählte  ein- 
mal; um  richtig  gezählt  zu  haben,  zählte  er  noch  einmal;  es  stimmte  nicht.  Da 
zählte  er  zum  dritten  Mal,  aber  es  stimmte  wieder  nicht.  Da  wollte  ihn  das 
Mädchen  nicht  nehmen.  Da  zog  er  in  die  Berge  und  kam  nach  langem  Hin-  und 
Herwandern  in  eine  unterirdische  Burg.  Nachdem  er  dort  lange  herumgegangen 
war,  sah  er  ein  schönes  Mädchen  sitzen,  das  ihn  fragte,  was  er  suchte.  Als  er 
das  erklärte,  sagte  sie,  er  solle  dort  bleiben,  sie  brauche  einen  Gefährten.  So 
blieb  er  viele  hundert  Jahre  dort.  Endlich  wollte  er  sich  die  Welt  wieder  an- 
sehen und  ging  wieder  nach  Agnetendorf  und  fragte,  wo  der  betreffende  Bauer 
und  das  Mädchen  wären:  er  hatte  nicht  gemerkt,  dass  er  viele  hundert  Jahre  im 
unterirdischen  Reiche  gewesen  war.  Die  Leute  im  Dorfe  wunderten  sich,  dass 
er  dort  bekannt  sein  wollte.  Es  gefiel  ihm  auch  jetzt  nicht  mehr  dort,  und  er  ging 
wieder  in  die  Berge". 

In  Arnsdorf  traf  ich  noch  einen  von  den  im  Riesengebirge  einst  häufigeren 
passionierten  Rübezahl-Erzählern,  den  dort  1844  geborenen  Schuhmacher  August 
Hertrampf.  Die  Geschichten  hatte  er,  wie  er  sagte,  teils  von  seinen  Vorfahren 
gehört,  teils,  als  er  in  seiner  Jugend  als  Kuhhirt  in  Brückenberg  war,  dort  von 
einem  anderen  Hirten,  der  damals  schon  einige  dreissig  Jahre  zählte.  Er  gab  mir 
folgende,  zum  Teil  allgemeiner  bekannte  Erzählungen: 

1.  Rübezahl  als  Gläubiger.  Ein  Mann  in  den  Raschkenhäusern  hatte 
Not  und  wollte  sich  deshalb  an  Rübezahl  wenden.  Er  ging  zu  diesem  Zweck  auf 
Rübezahls  Kegelbahn.  Bald  gesellte  sich  auch  ein  Herr  in  grüner  Kleidung  zu 
ihm  und  fragte  ihn,  was  ihn  dorthin  führte;  früher  war  nämlich  das  Gebirge  weit 
schwerer  zu  begehen.  Der  Mann  aus  den  Raschkenhäusern  sagte  nun,  was  ihn 
dorthin  führte.  Der  Herr  fragte,  ob  er  volles  Vertrauen  hätte.  Der  Mann  sagte 
ja.  Da  führte  ihn  Rübezahl  —  denn  das  war  der  Herr  —  in  den  Melzer  Grund, 
wo  man  den  Eingang  zu  seiner  Schatzkammer  noch  sieht.  Er  nahm  einen 
Schlüssel  heraus,  und  eine  Tür  sprang  mit  einem  Knall  auf:  da  waren  sie  in 
seinem  unterirdischen  Reich.  Da  standen  viele  Geldtonnen.  Rübezahl  fragte  den 
Mann,  wie  viel  er  brauchte.  Der  Mann  nannte  die  Summe,  und  Rübezahl  gab  sie 
ihm,  sagte  aber,  dass  er  nach  einer  bestimmten  Zeit  (es  waren  wohl  dreizehn 
Jahre)  das  Kapital  zurückzahlen  sollte;  wenn  er  das  Kapital  nicht  hätte,  sollte  er 
wenigstens    die  Zinsen   bringen.  —  Der  Mann  kam  aus  der  Not  und  ging  zur  be- 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  l;;7 

stimmten  Zeit  mit  dem  Kapital  wieder  zu  Rübezahls  Kegelbahn.  Da  kam  ein 
Hauch,  und  Rübezahl  erschien.  Er  sagte,  ilass  der  Mann,  weil  er  so  pünktlich 
wäre,  das  Geld  behalten  sollte. 

•2.  Rübezahl  und  die  Bauern.  Rübezahl  kam  einmal  auf  einer  Reise  zu 
einem  Bauern  und  fragte  ihn,  wie  es  ihm  ginge.  Der  Bauer  klagte  ihm  seine 
Not.  Da  lachte  Rübezahl  und  sagte:  'Ich  werde  Ihnen  den  Ofen  abkaufen'.  Er 
kaufte  darauf  auch  den  Ofen  für  vieles  Geld.  Darauf  Hess  er  denselben  ab- 
reissen  und  die  Kacheln  zu  Pulver  stossen.  Das  Pulver  Hess  er  in  kleine 
Schächtelchen  tun  und  verkaufte  es  auf  dem  Markt  als  Safran.  Er  löste  dafür 
eine  ungeheure  Menge  Geld.  Als  die  anderen  Bauern  das  sahen,  staunten  sie  und 
rissen  zu  Hause  auch  ihre  Öfen  ab.  Aber  sie  konnten  das  Pulver  aus  den 
Kacheln  nicht  so  gut  herstellen.  Durch  Rübezahls  Betrug  hatten  die  Bauern  das 
Nachsehen:  sie  hatten  nun  keine  Öfen  und  auch  kein  Geld.  Sie  gingen  ihm  nach 
und  kamen  auch  in  ein  Wirtshaus,  wo  er  sass,  erkannten  ihn  aber  nicht.  Da 
sagte  er:  'Ich  bin  ein  Pferdehändler.  Wenn  ihr  Pferde  verkaufen  wollt,  so  bringt 
sie  nur  her  oder  ich  gehe  mit  euch.  Habt  ihr  schöne  Pferde?'  Die  Bauern 
erwiderten:  'Ja;  wir  möchten  sie  auch  verkaufen,  weil  wir  Geld  gebrauchen7.  Da 
sagte  er,  sie  sollten  ihre  Pferde  holen,  aber  nicht  die  schlechtesten  Gäule.  Als 
die  Bauern  fort  waren,  ging  Rübezahl  zu  ihren  Frauen  und  bot  ihnen  als 
Handelsmann  seine  Ware  an.  Die  Frauen  wollten  ein  Mittel  gegen  zu  viele 
Kinder.  Da  verkaufte  ihnen  Rübezahl  ein  Pulver,  wovon  sie  drei  Messerspitzen 
voll  vor  Sonnenaufgang  nehmen  sollten  und  ebensoviel  vor  dem  Schlafengehen. 
Er  machte  ein  grosses  Geschäft  und  entfernte  sich.  Im  Wirtshaus  hatten  die 
Bauern  ihn  nicht  wiedergefunden.  Durch  das  Pulver  aber  haben  die  Frauen  das  ganze 
Bett  beschmutzt,  als  sie  bei  ihren  Männern  schliefen.  [Vgl.  R.  Köhler,  Kl.  Sehr.  1,  2-iö.] 

3.  Rübezahl  und  die  Studenten.  Mehrere  Studenten  bereisten  das  Ge- 
birge. Unterwegs  bekamen  sie  Hunger  und  Durst  und  wünschten  sich  in  der 
Xähe  ein  Gasthaus.  Als  sie  ein  Stück  Weges  zurückgelegt  hatten,  sahen  sie  ein 
Gasthaus  mit  der  Aufschrift  'Einkehr  zum  Rübezahl'.  Da  traten  sie  ein  und 
Hessen  sich  Speise  und  Trank  geben.  Einer  fragte,  wo  hier  Rübezahl  zu  finden 
wäre.  Der  Wirt,  der  Rübezahl  selbst  war,  ärgerte  sich  über  den  Namen  Rübe- 
zahl. Er  bewirkte  es,  dass  derselbe  Student  später  schläfrig  wurde.  Aus  diesem 
Grunde  mussten  alle  Studenten  dort  Quartier  bis  zum  nächsten  Tage  nehmen. 
Am  nächsten  Tage  erkundigten  sie  sich,  wo  sie  den  Berggeist  finden  würden. 
Der  Wirt  sagte  ihnen  eine  Stelle,  wo  sie  denselben  vielleicht  treffen  könnten. 
•Was  hat  der  Berggeist  für  ein  Abzeichen,  dass  wir  ihn  erkennen?'  fragten  die 
Studenten.  'Er  trägt  eine  Rübe  unterm  Arm,'  lautete  die  Antwort.  Am  nächsten 
Tage  trafen  sie  denn  auch  einen  solchen  Mann.  Sie  baten  ihn,  er  möchte  sie 
doch  in  sein  Reich  führen.  Da  nahm  er  sie  mit  in  sein  bekanntes  unterirdisches 
Reich  am  Melzer  Grund.  Dort  fanden  sie  Schätze,  wie  sie  noch  keine  gesehen 
hatten.  Da  fragte  er  sie  nach  ihren  Wünschen.  Der  eine  wünschte  sich  viel 
Geld,  der  andere,  dass  Rübezahl  ihm  über  seine  Zukunft  wahrsagen  sollte:  der 
dritte  wollte  wissen,  ob  er  eine  reiche  Heirat  machen  würde.  Rübezahl  wahr- 
sagte allen  Gutes,  und  alles  hat  sich  später  auch  so  erfüllt.  Zum  Dank  dafür 
wird  das  Riesengebirge  auch  heute  noch  von  den  Nachkommen  der  Studenten 
viel  besucht.  Als  die  Studenten  das  unterirdische  Reich  verliessen,  wurden  sie 
gewahr,  dass  der  vierte  von  ihnen  -  derselbe,  der  im  Wirtshaus  schläfrig  ge- 
worden war  —  fehlte.  Sie  fragten  den  Berggeist,  wo  er  geblieben  wäre.  Der 
aber  sagte:  'Meine  Zeit  ist  um;  ich  darf  jetzt  dorthin  nicht  zurückkehren.'  Er 
bestimmte  eine  Zeit,  wann  sie  wieder  da  sein  sollten,  um  den  Studenten  zu  holen. 


138  Loewe: 

Als  die  Zeit  um  war  und  sie  kamen,  fanden  sie  den  Studenten  unten  in  Rübe- 
zahls Reich  auf  einer  Tafel  sitzen,  gesund  und  mit  einem  goldenen  Apfel  in 
der  Hand.  Die  Studenten  nahmen  ihn  nun  wieder  mit;  er  aber  starb  bald 
darauf. 

4.  Rübezahl  als  Schneidergesell.  Rübezahl  verdingte  sich  einmal  als 
Schneidergesell.  Als  der  Meister  eines  Sonntag  morgens  in  die  Kirche  ging,  gab 
er  Rübezahl  einen  Rock,  an  den  die  Ärmel  noch  nicht  angesetzt  waren,  und 
sagte:  'Schmeisse  Hink  einmal  die  Ärmel  heran.'  Als  der  Meister  wiederkam, 
schmiss  der  Gesell  fortwährend  mit  den  Ärmeln  nach  den  Armlöchern  hin.  Der 
Meister  sagte:  'Kerl,  was  machst  du  da'?'  Der  Gesell  erwiderte:  'Sie  haben 
ja  gesagt,  ich  solle  die  Ärmel  geschwind  an  den  Rock  schmeissen;  ich  finde 
freilich,  dass  sie  nicht  hängen  bleiben.'  Da  liess  der  Meister  den  Rübezahl  gehen 
und  sagte:  'Solchen  Gesellen  habe  ich  noch  nicht  gehabt.'  Rübezahl  aber  sagte: 
Solchen  Meister  habe  ich   noch  nicht  gehabt.'     [Vgl.  Eulenspiegel  1515,   Hist.  48.] 

5.  Die  Geburt  des  Kalbes.  Ein  Mann  aus  Porst  wurde  krank.  Seine 
Frau  ging  darauf  mit  seinem  Wasser  ins  Gebirge,  um  es  besehen  zu  lassen. 
Rübezahl  gesellte  sich  zu  ihr  und  gab  sich  für  einen  Arzt  aus.  Er  untersuchte 
das  Wasser  und  sagte,  ihr  Mann  wäre  in  anderen  Umständen.  Als  der  Mann 
das  erfuhr,  wollte  er  sich  erhängen.  Er  ging  in  den  Wald  nach  den  Grenzbauden 
zu.  Auf  dem  Wege  fand  er  schon  einen  Gehangenen;  da  wurde  er  anderen 
Sinnes.  Der  Gehangene  hatte  ein  Paar  neue  Stiefel  an.  Die  wollte  der  Mann 
sich  aneignen;  als  er  sie  nicht  ausziehen  konnte,  schnitt  er  die  Gelenke  durch 
und  steckte  die  Beine  mitsamt  den  Stiefeln  in  einen  Sack.  Er  irrte  nun  umher, 
bis  er  spät  abends  nach  Schildau  kam.  Dort  fand  er  Aufnahme  in  einem  Bauern- 
haus. Der  Bauer  konnte  ihm  als  Nachtlager  nur  Streu  in  der  Stube  bieten.  Die 
Kuh  der  Bauersleute  warf  in  der  Nacht  ein  Kalb;  da  es  sehr  kalt  war,  legte  der 
Bauer  das  Kalb  mit  auf  die  Streu.  Als  der  Mann  früh  erwachte,  glaubte  er,  er 
hätte  das  Kalb  geboren,  und  ging  mit  dem  Bewusstsein,  von  seinem  Leiden  frei 
zu  sein,  schnell  von  dannen.  Mit  den  Beinen  und  Stiefeln  aber  wollte  er  sich 
nicht  weiter  schleppen,  sondern  schüttete  sie  aus  dem  Sack  auf  die  Streu.  Als 
die  Bauersleute  in  die  Stube  kamen,  war  ihr  Gast  verschwunden.  Sie  fragten 
sich,  was  hier  passiert  wäre.  Endlich  sagte  der  Bauer:  'Das  Kalb  hat  den  Mann 
gefressen:  hier  siehst  du  noch  die  Stiefel  an  den  Beinen.  Sprich  nur  ja  nicht 
davon,  damit  wir  es  nicht  noch  mit  den  Gerichten  zu  tun  bekommen.'  Als  der 
Mann  aus  Forst  nach  Hause  kam,  erzählte  er  seiner  Frau  auf  ihre  Frage,  wie  es 
ihm  ergangen  war.  Da  sagte  die  Frau:  'Du  hättest  doch  lieber  das  Kalb  mit- 
bringen sollen;  das  wäre  mir  lieber  als  du.'    [Vgl.  H.  Sachs,  Fabeln  2,  13(i.  5,  11*2.] 

ti.  Rübezahl  im  grossen  Teich.  Ein  Mann  namens  Kahl  aus  Brücken- 
berg suchte  einmal  Enzian  oben  beim  grossen  Teich.  Er  hatte  schon  so  viel 
gepflückt,  dass  er  dachte,  nun  hätte  er  eine  richtige  Trage,  und  war  schon  im 
Begriff,  den  Enzian  auf  seine  Hucke  zu  laden,  da  sah  er  auf  einmal  von  weitem 
einen  Reiter  auf  einem  Schimmel  kommen.  Der  Reiter  ritt  direkt  auf  ihn  zu. 
Kahl  dachte,  es  wäre  der  Graf  von  Warmbrunn,  und  wollte  Reissaus  nehmen, 
weil  es  nicht  erlaubt  war,  Wurzeln  zu  hacken.  Der  Reiter  aber  gab  ihm  einen 
Wink,  er  solle  stehen  bleiben,  stieg  ab,  zog  unter  seinem  grossen  Mantel  eine 
Wünschelrute  hervor  und  sagte:  „Hier,  halten  Sie  mein  Pferd.  Ich  bin  nämlich 
der  Wassermann  aus  Breslau;  ich  habe  meine  Tochter  hier  im  grossen  Teich 
verheiratet  und  will  sie  besuchen.  Wrenn  ich  jetzt  die  Wünschelrute  gebrauche, 
so  wird  sich  das  Wasser  teilen,  und  ich  werde  hinabsteigen.  Wirft  das  Wasser 
sodann  weisse  Wellen,    so  komme  ich  wieder;    wirft    es    aber  rote  Wellen,    dann 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  139 

können  Sie  mein  Pferd  nehmen."  Darauf  stieg  er  hinab.  Das  Wasser  warf 
weisse  Wellen,  aber  es  dauerte  eine  lange  Zeit,  bis  der  Herr  zurückkam.  Dem 
Kahl  war  indessen  die  Zeit  lang  geworden,  während  das  Pferd  Mist  hatte  fallen 
lassen.  Als  der  Herr  plötzlich  hervorkam,  nahm  er  die  Zügel  in  die  Hand, 
schwang  sich  auf  das  Pferd  und  sagte  zu  Kahl:  „Zur  Belohnung  können  Sie  sich 
den  Pferdemist  nehmen;  werfen  Sie  ihn  nicht  fort;  Sie  werden  später  an  mich 
denken.''  Kahl  legte  darauf  den  Pferdemist  in  einen  Sack,  den  er  auf  der  Hucke 
trug.  Bald  aber  konnte  er  die  Hucke  nicht  mehr  tragen,  weil  sie  zu  schwer 
wurde.  Es  schleppte  sich  damit  noch  bis  zum  dürren  Hübel  unweit  der  Schlingel- 
baude und  warf  dann  den  Mist  fort.  Den  Sack  aber  nahm  er  weiter  mit.  Seine 
Frau  kam  ihm  entgegen,  weil  es  schon  finster  war.  Als  er  ihr  sein  Erlebnis 
erzählte,  schüttete  sie  den  Sack  aus  und  fand  darin  noch  ein  paar  Goldklumpen. 
Als  sie  darauf  beide  nach  den  übrigen  suchten,  fanden  sie  nichts  mehr. 

Der  'Wassermann  aus  Breslau'  war  in  Wirklichkeit  Rübezahl  gewesen. 
Unter  den  Bewohnern  des  Gebirges  hatte  sich  nämlich  eine  gewisse  Furcht  vor 
Rübezahl  eingestellt,  da  dieser  oft  Schandtaten  ausgeführt  hatte.  Um  sich  nun 
unerkannt  nähern  zu  können,  nahm  Rübezahl  oft  eine  andere  Gestalt  und  einen 
anderen  Namen  an.  —  Der  Kahl  aus  Brückenberg  war  der  Urgrossvater  eines 
Kahl,  der  vor  kurzem  in  Arnsdorf  gestorben  ist." 

Im  allgemeinen  bemerkte  Hertrampf  sonst  nur  noch: 

„Rübezahl  war  ein  Freund  der  Leute,  die  seine  Kräuter  zu  Arzneien  be- 
nutzten, aber  ärgerlich  auf  die,  welche  sie  abpflückten  und  fortwarfen." 

Von  dem  Vetter  des  Schuhmachers  Hertrampf,  dem  1820  in  Arnsdorf  ge- 
borenen früheren  Waldwärter  August  Hertrampf,  erfuhr  ich  mehr  über  die  übrigen 
Geister  als  über  Rübezahl.     Doch  mag  auch  das  hier  wiedergegeben  sein: 

„An  den  Spinnabenden  traute  man  sich  nicht  heraus  aus  Furcht  vor  den 
Geistern;    auch  wenn  die  Laute  austreten  wollten,    gingen    sie  nicht  allein  heraus. 

Der  grosse  Leuchter  kam  bis  zur  Loranitzbrücke,  ging  wieder  zurück  bis  zum 
Kalkofen  und  verlosch  dort. 

Der  Drache  hat  einen  brennenden  grossen  Schweif  gehabt  und  zog  über  die 
Häuser;  beim  Laboranten  Riesenberger  setzte  er  sich  aufs  Dach  und  schüttete 
Gold  aus.  Wenn  er  schweres  Gold  hatte,  kam  er  niedrig;  hatte  er  ausgeschüttet, 
so  zog  er  hoch,  dass  man  ihn  nicht  mehr  sah. 

Der  Nachtjäger  hatte  Hunde,  die  viel  bellten;  er  machte  die  Leute  furchtsam. 

Rübezahl  (Rlbazäl)  hat  die  Leute  irre  geführt." 

Dagegen  erfuhr  ich  noch  einiges  in  Arnsdorf  von  der  Tochter  des  eben  ge- 
nannten August  Hertrampf,  der  Frau  Marie  Bönsch,  die  dort  1851  geboren  ist  und 
mir  erzählte,  was  sie  einst  von  ihrer  Mutter  gehört  hatte: 

„Von  Rübezahl  wurde  am  meisten  gesprochen;  doch  vergisst  man  alles. 
Rübezahl  hatte  seinen  Sitz  oben  auf  dem  Gebirge.  Er  half  oft  den  Kräuter- 
suchern, aber  nur  wenn  sie  taten,  was  er  ihnen  sagte.  Wenn  die  Leute  etwas 
anderes  pflückten,  als  er  ihnen  angab,  so  hatten  sie  später  nichts  im  Sack.  Rübe- 
zahl hat  viel  Wunder  gewirkt." 

In  Brückenberg  erhielt  ich  von  der  dort  LS3li  geborenen  Christiane  Linke,  geb. 
Schmidt,  folgende  Auskunft: 

„Bei  den  Dreisteinen  soll  Rübezahl  zu  Hause  gewesen  sein  und  dort  Kräuter 
gesucht  haben.    Armen  Leuten,  die  ihn  um  etwas  baten,  machte  er  grosse  Geschenke. 

Rübezahl  und  der  Teufel  haben  einmal,  auf  einem  Dache  sitzend,  zusammen 
geschustert.  Dem  Teufel  ist  sein  Ort  heruntergekugelt,  weil  das  Dach  so  sehnig 
war;  Rübezahl  dagegen  sein  Ort  im  Dach  festgestockt." 


140  Loewe: 

Ferner  gab  mir  über  Sagen  dieser  Gegend  Hermann  Haase  (jetzt  in  Krumm- 
hübel)  zu  seinen  Mitteilungen  aus  dem  Jahre  1907  (vgl.  oben  18,  12  f.)  nach  Er- 
zählungeu  seines  Vaters  und  alter  Brückenberger  noch  folgende  Ergänzungen: 

„Einen  Garten  Rübezahls,  den  ich  aber  nicht  gesehen  habe,  gab  es  auch  am 
Brunnberg.  Wenn  jemand  Teufelsbart  und  Habmichlieb  ausriss,  wurde  Rübezahl 
ärgerlich. 

Das  Gespräch  mit  dem  Nieswurzhacker  fand  am  Rande  des  grossen  Teichs 
statt.  Der  Mann  bekam  einen  Kuhfladen  von  Rübezahl  zum  Lohn,  liess  ihn  aber 
liegen;  als  er  ein  Stück  gegangen  war,  bemerkte  er,  dass  am  Sack  ein  Dukaten  hing, 
der  von  einem  Stück  des  Kuhfladens  herrührte;  als  er  darauf  zurückging,  fand  er 
jedoch  nichts  mehr1). 

III.   Der  Nordwesten. 

In  den  Baberhäusern  gab  mir  der  183G  dort  geborene  Waldarbeiter  Johann 
Karl  Marksteiner  folgende  Auskunft: 

,,Es  wurde  früher  viel  von  Rübezahl  erzählt.  Er  soll  sein  Gebiet  '2l/2  Meile 
von  der  böhmischen  Grenze  gehabt  haben.  Seinen  Keller,  in  dem  man  unter  der 
Erde  laufen  kann,  und  seine  Sommerlaube  hatte  er  zwischen  Peterbaude  und 
Schneegruben.  Kegel  hat  er  vom  Sommerplan  aus  über  der  Kirche  Wang  ge- 
schoben. Die  Kugeln  sind  bis  zum  grünen  Plan  geflogen,  wo  noch  eine  von 
ihnen  liegt.     In  der  Nähe  ist  das  Goldloch. 

Es  wurde  auch  gesagt,  dass,  wenn  man  Rübezahl  nicht  richtig  grüsse,  er 
einem  ins  Auge  spucke:  das  war  der  Regen  aus  der  Wolke. 

Wenn  die  Leute  Beeren  pflückten,  so  hat  Rübezahl  ihnen  Geld  gebracht, 
auch  Anzüge,  wenn  sie  zu  schlecht  gekleidet  waren.  Auch  hat  er  geholfen,  wenn 
die  Leute  Sympathiemittel  aus  Kräutern  machten. 

Der  Teufel  hat  den  Mittagsstein  gebracht;  ein  altes  Weib  redete  ihm  zu,  den 
Stein  niedersetzen;  da  konnte  er  nicht  weiter." 

Weiteres  erfuhr  ich  in  den  Baberhäusern  von  der  dort  1836  geborenen 
Christiane  Wolf,  geb.  Häkel,  die  ihr  Wissen  über  den  Berggeist  von  ihrer  1855 
gestorbenen  Grossmutter  Johanna  Marksteiner,  geb.  Liebig  hat: 

„Rübezahl  hat  bei  den  Dreisteinen  gewohnt  und  ist  oft  im  Wald  bei  den 
Baberhäusern  erschienen,    wo  er  die  Holzfäller    beschenkt  hat.      Am  Seifenwasser 


1)  Einen  'herrschaftlichen  Garten'  (vgl.  oben  18,  13)  kennt  Herrn.  Haase  in  der 
Gegend  von  Brückenberg  nicht,  wohl  aber  einen  'Herrengarten',  d.  h.  ..ein  ebenes  Stück 
Weges;  weiter  herunter  stauden  Häuser,  wovon  noch  Spuren  von  Mauern  sind:  man  nennt 
sie  Herrenhäuser:  weiter  unterhalb  lag  das  Heideschloss.  Das  Ganze  hiess  der  Türken- 
liübel.  Man  sagt,  dass  es  die  Tataren  zerstört  haben  sollen.  Mit  Rübezahl  hat  das 
Ganze  nichts  zu  tun."  —  Heinrich  Linke  aus  Krummhübel  (vgl.  S.  132)  kennt  noch  den 
'herrschaftlichen  Garten';  „dort  soll  das  Heideschloss  gestanden  haben:  dort  sollen  alte 
lütter  früher  gewesen  sein.  Man  hat  auch  nachgegraben;  dabei  sind  die  Mauern  ein- 
gerissen.'- Mein  Führer  aus  Krummhübel  hatte  mir  also  als  'herrschaftlichen  Garten' 
etwas  anderes  gezeigt,  als  was  mit  diesem  Namen  wirklich  bezeichnet  wurde.  Seine  Un- 
zuverlässigkeit  hatte  sich  auch  besonders  darin  gezeigt,  dass  er  mir  gesagt  hatte,  von 
Rübezahl  erzähle  niemand  im  Gebirge;  wenn  es  'Rübezahls  Kegelbahn  usw.'  heisse,  so 
komme  das  daher,  weil  jeder  Punkt  doch  seinen  Namen  haben  müsse.  Aus  seinen  An- 
gaben lassen  sich  also  keine  Schlussfolgerungen  ziehen.  Nichtsdestoweniger  ist  auch  heute 
noch  der  Name  'Herr  Johannes'  für  Rübezahl  stellenweise  im  Riesengebirge  bekannt 
(vgl.  S.  129). 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  141 

bei  den  Baberhiiusern  hat  er  Holz  sägen  helfen,  so  dass  die  Arbeiter  oft  in  einem 
Tag  so  viel  schafften  wie  sonst  in  vier  Wochen. 

Kübezahl  hatte  einen  tief  hinabreichenden  weissen  Hart,  ein  vernarbtes  Ge- 
sicht, struppige  Haare  auf  den  Kopf,  die  hinten  weit  herunter  hingen.  Sein  Hut 
Avar  grün  mit  Moos  und  Tannenzweigen. 

Rübezahl  hat  den  Leuten  Geld  geschenkt.  Während  einmal  eine  Frau  im 
Walde  Holz  las,  spielte  ihr  Junge  und  raffte  eine  Schürze  voll  trockener  Buchen- 
blätter zusammen;  Rübezahl  verwandelte  sie  in  Gold.  Kindern  gab  er  Zapfen  von 
Fichten,  woraus  Gold  wurde. 

Rübezahl  gab  den  Leuten  Liebstöckel  undTormentille,  damit  sie  gesund  würden, 
und    das  Kraut    des  Lebens,    damit    sie   nicht    stürben.      Als    die   Pest    herrschte, 

sagte  er: 

Kocht  Bibernell  und  Baldrian, 
Wird  Pestilenz  ein  Ende  han." 

Von  dem  1*53  in  den  Baberhäusern  geborenen  und  dort  noch  wohnhaften 
Landwirt  Johann  Karl  Heinrich  Marksteiner  erfuhr  ich  noch  folgendes: 

„Beim  alten  Schloss  und  bei  Tumpsahütte  hat  sich  Rübezahl  aufgehalten  und 
dort  die  Hexen  fortgejagt,  die  dort  Steine  ausgesessen  hatten.  Die  Kräuter  hat 
er  bei  den  Teichen  gesucht." 

In  Seidorf  erhielt  ich  von  dem  dort  1832  geborenen  früheren  Gebirgsführer 
und  jetzigen  Steuereinnehmer  Louis  Heinrich  Auskunft.  Auf  mein  Befragen  be- 
merkte derselbe,  dass  er  als  Gebirgsführer  nichts  anderes  erzählt  habe,  als  was 
allgemein  erzählt  wurde.     Er  berichtete  mir: 

„Von  Rübezahl  wurde  so  gut  erzählt  wie  vom  Nachtjäger,  dem  Wassermann, 
den  Holzweibern  und  dem  grossen  Leuchter.  Rübezahl  wohnte  in  den  höheren 
Wäldern  des  Gebirges,  kam  aber  bisweilen  ins  Tal.  Man  dachte  sich  ihn  als 
neckischen  Kobold,  aber  meist  gross;  doch  soll  er  verschiedene  Gestalten  an- 
genommen haben. 

Rübezahl  hat  viele  Leute  geneckt,  manchen  aber  auch  Gutes  getan.  Er  hat 
auch  Leute  gestraft,  die  sich  ungebührlich  gegen  andere  benahmen.  Öfters  hat 
er  den  Leuten  medizinische  Kräuter  weggenommen,  wofür  sie  später  ein  schönes 
Geldgeschenk  gefundeu  haben. 

Ein  Bauer  ging  einmal  nach  Hirschberg,  um  sich  einen  Ofentopf  zu  kaufen. 
Unterwegs  gesellte  sich  Rübezahl  zu  ihm.  Beide  gingen  darauf  zu  einem  Kupfer- 
schmied, bei  dem  der  Bauer  sich  einen  passenden  Ofentopf  aussuchte.  Rübezahl 
bezweifelte,  dass  der  Ofentopf  gross  genug  wäre;  er  sagte,  er  könnte  ihn  voll- 
machen. Der  Kupferschmied  erklärte,  dass,  wenn  Rübezahl  das  imstande  wäre, 
er  den  Ofentopf  umsonst  bekommen  sollte.  Da  machte  Rübezahl  den  Ofentopf 
voll  und  bekam  ihn  dafür. u 

In  Seidorf  teilte  mir  ferner  der  1845  daselbst  geborene  frühere  Schuh- 
macher und  Gebirgsführer  und  jetzige  Landwirt  Heinrich  Ritter  folgendes  mit: 

„Die  alten  Leute  erzählten,  Rübezahl  wäre  ein  Berggeist,  der  in  den  Klüften 
des  Riesengebirges  wohnte  und  bisweilen  daraus  hervorkäme.  Er  hat  den  Leuten 
oft  Schabernack  getan.     Einer  Frau  verwandelte  er  ihr  Laub  in  Goldblätter. " 

Hauptsächlich  auch  aus  Seidorf,  wo  er  1863  bis  18^4  wohnte,  wollte  sein 
Wissen  über  Rübezahl  der  in  Gotschdorf  1835  geborene  und  jetzt  in  Rotergrund 
wohnende  Schäfer  Heinrich  Breit  haben,  der  mir  folgendes  erzählte: 

„Die  Leute  sagten,  Rübezahl  wäre  ein  Berggeist.  Jetzt  wird  nicht  mehr  viel 
von  Rübezahl  gesprochen.     Rübezahl  war  bald  hier,  bald  dort. 


1 42  Loewe  : 

Ein  Mädchen  mähte  einmal  Gras,  als  ein  Herr  zu  ihr  trat.  Sie  sagte  ihm, 
dass  sie  sich  vor  Rübezahl  fürchte.  Der  Herr  fasste  sie  darauf  an  das  Kinn, 
da  wuchs  ihr  ein  Ziegenbart.     In  Wirklichkeit  war  der  Herr  Rübezahl  selbst.'- 

In  Saalberg  erzählte  mir  der  dort  18S3  geborene  frühere  Waldarbeiter,  Stein- 
metz und  Fremdenführer  Heinrich  Fromberg  folgendes: 

„Vom  Nachtjäger,  vom  grossen  Leuchter,  von  den  Irrlichtern  und  vom 
Drachen  wurde  weniger  gesprochen  als  von  Rübezahl.  Der  Nachtjäger  war  in 
Wirklichkeit  ein  Mensch,  auch  Rübezahl  war  es.  Auch  der  grosse  Leuchter  war 
kein  Geist,  sondern  eine  feurige  Kugel  mit  langem  Schweif.  Auch  der  Drache 
war  ein  Aberglaube.  Von  den  Buschweibern  sagt  man,  dass  sie  Steine  aus- 
gesessen hätten. 

Rübezahl  ist  überall  gewandert.  Sein  Backofen  ist  auf  dem  Wege  von  Saal- 
berg zum  Kynast;  vom  Backofen  wurde  wirklich  unter  den  Leuten  erzählt;  da- 
gegen war  es  nur  ein  Scherz  der  Führer,  wenn  sie  bei  Nebel  sagten,  dass  Rübe- 
zahl jetzt  backe.  Rübezahl  hatte  sein  Wappen  auf  verschiedene  Steine  gesetzt, 
bisweilen  eine  Hand,  bisweilen  einen  Fuss.  Auf  dem  Wege  vom  Saalberg  zum 
Kynast  liegt  ein  Stein,  so  hoch  wie  ein  Stuhlsitz,  an  dem  Hand  und  Fuss  zu- 
gleich zu  sehen  ist.  Rübezahl  hatte  drei  Würfel  mit  Augen  darauf;  der  erste 
liegt  am  Kochelfall,  der  zweite  oberhalb  des  Zackenfalls,  der  dritte  bei  den 
Schneegruben. 

Rübezahl  war  ein  langer  hagerer  Mann  mit  spitzem  Hut  wie  ein  Jude  und 
langem  grauen  Bart." 

Ausserdem  erzählte  mir  Fromberg  noch  zwei  ikonische  Sagen,  von  denen  die 
erste  eine  eigentümliche  Umgestaltung  der  Erzählung  von  der  beabsichtigten 
Überschwemmung  ist: 

„1.  Rübezahl  hatte  eine  Frau,  mit  der  er  unterhalb  des  Eibfalls  wohnte.  Er 
hatte  einmal  Streit  mit  ihr.  Da  nahm  er  sie  auf  den  Rücken,  ging  mit  ihr  über 
den  Kamm  bis  zum  Mittagstein  und  wollte  sie  im  grossen  Teich  ersäufen.  Sie 
bat  ihn,  er  solle  das  nicht  tun;  da  setzte  er  sie  ab  und  verwandelte  sie  in  einen 
Stein.  Sie  steht  dicht  unterhalb  des  Mittagsteins;  Gesicht  und  Körper  ist  deutlich 
zu  sehen." 

„2.  Rübezahl  hatte  im  Eibtal  einmal  ein  Bein  gebrochen  und  benutzte  des- 
halb eine  Krücke.  Als  er  sie  nicht  mehr  brauchte,  sagte  er:  'Hier  stecke  ich 
dich  hin,  und  hier  sollst  du  weiter  wachsen'.  Es  wurde  ein  Baum  daraus,  der 
aber  wie  eine  Krücke  gestaltet  ist." 

Der  in  Saalberg  1849  geborene  frühere  Spanverfertiger  und  Bergführer  und 
jetzige  Landwirt  August  Resel,  der  seit  1894  in  Giersdorf  ansässig  ist,  berichtete 
mir  folgendes: 

„Unter  dem  Brunnberg  hatte  Rübezahl  seine  Schatzkammer,  am  Brunnberg 
seinen  Garten.  Einer  von  seinen  Würfeln  liegt  beim  Kochelfall,  der  zweite  über 
dem  Zackenfall,  der  dritte  auf  dem  Kamm.  Bei  den  Mädelsteinen  liegt  er  zwischen 
zwei  Mädeln  begraben;  er  war  ein  grosser  Damenfreund. 

Rübezahl  ist  in  verschiedenen  Gestalten  gekommen,  zuweilen  sehr  gross, 
zuweilen  auch  klein  wie  ein  graues  Männlein.  Er  hatte  einen  tüchtigen  Bart. 
Als  er  alt  war,  ist  er  sehr  krumm  gegangen." 

Resel  erzählte  mir  ausserdem  zwei  Geschichten,  von  denen  die  eine 
wiederum  eine  eigentümliche  Umgestaltung  der  Überschwemmungssage  ist: 

„1.  Rübezahl  ging  zur  Kirmes  (Peter  und  Paul)  in  St.  Peter.  Dort  beschenkte 
er  die  Mädel,  bis  er  sein  Geld  im  Würfelspiel  verloren  hatte.  Da  ging  er  über 
die  Teufelsbauden  und  durch  den  Teufelsgrund    zum  Mittagstein;    den    wollte    er 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  143' 

in  den  grossen  Teich  werfen,  damit  die  jungen  Leute  aus  den  Baberhäusern. 
Brückenberg  und  Krummhübel,  die  ihm  das  Geld  abgenommen  hatten,  ertränken. 
Da  kam  aber  eine  alte  Frau  aus  Böhmen  und  zwang  ihn,  stehen  zu  bleiben. 

•2.  Eine  Frau  trug  Glas  von  Agnetendorf  nach  Schreiberhau  zur  Schmelze. 
Da  gesellte  sich  Rübezahl  zu  ihr  und  trug  ihr  den  Korb.  Auf  einmal  Hess  er 
ihn  fallen  und  machte  sich  davon.  Die  Frau  musste  das  zerbrochene  Glas  wieder 
nach  Hause  schaffen;  da  waren  es  aber  lauter  Taler." 

Von  geborenen  Giersdorfern  erhielt  ich  keine  Auskunft,  und  aus  Hain  konnte 
ich  nur  von  dem  dort  1869  geborenen  Wilhelm  Gebauer  erfahren,  dass  die  alten 
Leute  dort  auch  von  Rübezahl  erzählt  haben. 

In  Hermsdorf  unterm  Kynast  erhielt  ich  von  dem  dort  1840  geborenen 
früheren  Gebirgsführer  und  späteren  Nachtwächter  Hermann  Liebig  (vgl.  S.  41) 
folgende  Auskunft: 

„Es  wurde  vom  Nachtjäger,  der  weissen  Frau  und  dem  grossen  Leuchter  er- 
zählt, mehr  aber  von  Rübezahl.  Dieser  hatte  seinen  Namen  daher,  dass  er  ein- 
mal ein  Fuder  Rüben  umgeworfen  hatte  und  sie  deswegen  zählen  musste.  Er- 
trug einen  spitzen  Hut,  einen  Pelz  und  einen  langen  Stock  und  hatte  einen  langen 
weissen  Bart  bis  zu  den  Schamteilen1),  ausserdem  eine  rote  Nase." 

In  Wernersdorf  machte  mir  der  dort  1833  geborene  Drechslermeister  Julius 
Vogel  folgende  Angaben: 

„Rübezahl  war  oben  auf  dem  Riesengebirge.  Auf  dem  Kynast  zeigten  die 
Führer   Rübezahls  Kanzel.     Rübezahl    trug    einen  Bart,    so  lang  wie  er  wächst." 

In  Kaiserswaldau  erzählte  mir  der  dort  1857  geborene  Gartenbesitzer  August 
Plischke: 

„Von  Rübezahl  wurde  mehr  gesprochen  als  vom  Nachtjäger  und  vom  grossen 
Leuchter.  Rübezahl  hielt  sich  meist  auf  dem  Gebirge  noch  hinter  dem  Kynast 
auf.     Nach  Kaiserswaldau  soll  er  nicht  gekommen  sein. 

Rübezahl  war  klein;  ein  Fuss  war  ein  Pferdefuss.  Er  ging  meist  als  Jäger, 
konnte  aber  verschiedene  Gestalten  annehmen. 

Leute,  die  gingen,  um  von  Rübezahl  Nutzen  zu  haben,  wurden  von  ihm  ge- 
nasführt und  irre  geführt." 

Dazu  erzählte  August  Plischke  noch  folgende  Geschichten: 

„1.  Rübezahl  kam  einmal  zu  einem  Bauern  und  bot  sich  als  Arbeiter  an. 
Der  Bauer  liess  ihn  Holz  hacken.  Rübezahl  hackte  in  kurzer  Zeit  sehr  viel. 
Der  Bauer  war  sehr  zufrieden  und  fragte  ihn,  was  er  als  Lohn  haben  wolle. 
Rübezahl  sagte:  „Soviel  Holz,  wie  ich  tragen  kann."  Der  Bauer  erklärte  sich 
einverstanden;  da  trug  ihm  Rübezahl  sein  ganzes  Holz  fort. 

2.  Eine  Anzahl  Frauen  sammelte  einmal  im  Walde  Holz.  Rübezahl  über- 
redete sie,  sich  ihre  Körbe  mit  gelben  Laubblättern  zu  füllen.  Die  Frauen  taten 
es.  Als  sie  gingen,  wurden  ihre  Körbe  immer  schwerer,  weswegen  sie  das  Laub 
fortschütteten.  Zu  Hause  bemerkten  sie,  dass  noch  einige  Goldblättchen  in  den 
Körben  waren;  sie  suchten  nun  nach  den  Blättern,  fanden  aber  keine  mehr." 

Der  1844  in  Kaiserswaldau  geborene  und  dort  noch  wohnhafte  Bienenzüchter 
Heinrich  Ulbrich  bemerkte  noch: 

„An  Rübezahl  als  Geist  glaubte  man  früher  auch.  Er  soll  ein  unterirdisches 
Schloss  im  Gebirge  haben,  aus  dem  er  oft  auf  das  Gebirge  hinauf  ging;  es  ist 
mir  nicht  bekannt,  dass  er  auch  ins  Tal  gekommen  wäre." 


1)  So  hatte  mir  auch  Herrn.  Haase  angedeutet  (vgl.  oben  18,  12). 


144  Loewe: 


IV.   Der  Südwesten. 


In  Niederhof  berichtete  mir  der  18-27  dort  geborene  Holzhauer  Johann  Erben, 
dessen  Eltern  auch  schon  von  dort  waren,  folgendes: 

„Der  Nachtjäger  wohnte  am  Kogel  bei  Niederhof;  auch  der  Feuermann  war 
dort  in  der  Nähe;  dagegen  hauste  Rübezahl  im  Riesengrund.  Als  man  sich  im 
Blaugrund  Häuser  baute,  ist  er  fortgezogen,  aber  nach  hundert  Jahren  wieder- 
gekommen. 

Rübezahl  ist  den  Leuten  bald  gross,  bald  klein  erschienen. 

Leute,  die  ihn  verspottet  haben,  hat  Rübezahl  gestraft.  Armen  Leuten  hat  er 
geholfen. 

Rübezahl  hat  eine  Prinzessin  geraubt,  die  nicht  wieder  aus  seinem  Palaste 
kommen  konnte.  Während  er  Rüben  zum  zweiten  Mal  nachzählte,  weil  es  nicht 
stimmte,  ist  sie  geflohen. 

Im  Stalle  der  Hampelbaude  hat  Rübezahl  Kühe  in  Stücke  gerissen.  —  In  der 
Hampelbaude  waren  einmal  Pascher:  da  hat  Rübezahl  mit  dem  stärksten  ge- 
rungen; keiner  aber  hat  gesiegt.  In  der  Stube  war  auch  ein  Kalb;  da  stürzten 
sie  beide  darauf;  Rübezahl  aber  verschwand  sogleich." 

Der  gleichfalls  in  Niederhof  wohnhafte,  dort  1829  geborene  Weber  Alois 
Kraus  erzählte  mir: 

„Rübezahl  (Rlbezäl)  hat  im  Gebirge  gewohnt,  ist  aber  überall  herum- 
gekommen. Zu  allen  Handwerkern  ist  er  als  Gesell  gegangen.  Bei  einem 
Tischler  sagte  er  nach  ein  paar  Tagen,  der  Hobel  wäre  zu  schwer;  da  hat  ihn 
der  Meister  davongejagt.  Bei  einem  Schneider  hat  er  einen  Rock  mit  einem 
Ärmel  gemacht;  da  hat  ihn  der  Meister  auch  davongejagt.  Für  einen  Schuh- 
macher aber  machte  er  Paare  nicht  zusammengehöriger  Schuhe;  die  Leute  haben 
sie  für  das  Vieh  gekauft,  der  Schuhmacher  aber  wurde  davon  reich.  —  Auch 
Kräuter  hat  Rübezahl  verkauft  und  hat  sich  auch  für  einen  Arzt  aus- 
gegeben. —  Er  war  Geist,  aber  auch  Mensch.  Wie  er  gewollt  hat,  so  ist  es  ihm 
ergangen." 

Endlich  erhielt  ich  in  Niederhof  noch  von  der  dort  1824  geborenen  Angela 
Friess,  geb.  Hampel,  deren  beide  Grosselternpaare  bereits  von  dort  waren,  folgende 
Auskunft: 

^Der  Nachtjäger  war  auf  dem  Pommersberg  bei  Niederhof,  Rübezahl  (Rlbe- 
zäl) dagegen  nahe  bei  der  Schneekoppe.  Rübezahl  konnte  verschiedene  Ge- 
stalten annehmen.  In  seinem  Garten  hat  er  Rüben  gebaut,  aber  auch  sonst 
allerlei.  Er  war  ein  Geist.  Jetzt  sollen  alle  Geister  gebannt  sein.  Deshalb  hört 
man  auch  jetzt  nicht  mehr  von  Geistern  sprechen." 

Nach  der  Erzählung  seiner  Mutter  aus  Huttendorf  bei  Hohenelbe  be- 
richtete mir  der  gleichfalls  in  Huttendorf  geborene  Oberlehrer  Josef  Scholz  in 
Witkowitz  die  Geschichte  vom  Mittagstein  folgendermassen  (wobei  er  hinzusetzte, 
dass  man  sie  auch  vom  Teufel  erzählte): 

..Rübezahl  (Rlbezäl)  wollte  durch  eine  Überschwemmung  viele  Leute  töten. 
Er  brachte  deshalb  mit  einer  Kette  einen  grossen  Stein  auf  dem  Rücken  ge- 
schleppt. Da  begegnete  ihm  ein  altes  Weib,  welches  ihn  wegen  seiner  schweren 
Last  bedauerte  und  ihm  den  Stein  niederzusetzen  riet.  Über  vieles  Nötigen  will- 
fahrte Rübezahl.  Als  er  den  Stein  wieder  aufheben  wollte,  war  er  es  nicht  mehr 
imstande.  Auf  diese  Weise  wurde  Schlesien  von  einem  grossen  Unglück  befreit. 
Es  ist  der  Mittagstein,  den  er  in  den  schwarzen  Teich  werfen  wollte.  Auf  der 
Xordseite    des  Mittagsteins    nach    dem    schwarzen  Teich    zu    ist    auch    noch    eine 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  145 

menschliche  Gestalt  zu  erkennen.  Früher  war  auch  noch  eine  Kette  um  den  Stein 
gemalt;  1873  habe  ich  sie  noch  gesehen." 

Aus  dieser  Gegend  erhielt  ich  noch  folgende  Auskunft  von  der  1837  in 
Hackelsdorf  auf  dem  Heidelberg  geborenen  und  seit  11)05  in  Ober-Hohenelbe 
wohnenden  Frau  Josefa  Gottstein,  verwitwete  Möhwald: 

„Viele  Geister  waren  auf  dem  Heidelberg,  wo  einmal  eine  Stadt  untergegangen 
ist;  vor  diesen  Geistern  hat  man  sich  gefürchtet.  Rübezahl  war  nicht  darunter, 
sondern  oben  im  Gebirge;  er  kam  öfters  herunter,  Hess  sich  bald  hier  und  bald 
dort  sehen,  hat  aber  niemandem  etwas  zuleide  getan. 

Rübezahl  war  ganz  hübsch,  hatte  einen  runden  Hut  von  Moos  und  einen 
langen  Bart,  eine  Pfeife  im  Mund  und  einen  Stock  in  der  Hand.  Er  trug  auch 
Wurzeln  umher.  -  Armen  Leuten,  denen  er  im  Busch  begegnete,  schenkte  er 
ein  Silberstück  oder  ein  Goldstück." 

Der  1S50  in  Spindelmühle  geborene,  in  den  Leierbauden  wohnhafte  Hotel- 
besitzer Wenzel  Hollmann  bestätigte  mir  nur,  dass  im  Weisswassergrund  weisse 
Streifen  gezeigt  wurden,  die  von  Rübezahls  Wagen  herrühren  sollten,  sowie 
andere  weisse  Streifen,  wo  er  seine  Peitsche  hingeworfen  haben  soll  (vgl.  oben 
15,  177  f.). 

Der  in  den  Bradlerbauden  1836  geborene  und  dort  noch  wohnhafte  Gastwirt 
Vincenz  Hollmann  erzählte  mir  folgende  Geschichte: 

„Ein  Mann  ging  einmal  mit  dem  Hausmeister  der  Wiesenbaude  zum  grossen 
Teich.  Dort  schlug  derselbe  dreimal  mit  der  Rute  in  das  Wasser.  Dieses  teilte 
sich,  und  er  ging  hinein.  Der  Hausmeister  sollte  indes  sein  Pferd  halten:  wenn 
das  Wasser  schwarze  Wellen  werfen  würde,  so  solle  er  mit  dem  Pferde  davon- 
reiten;  würfe  es  rote  Wellen,  so  solle  er  stehen  bleiben.  Es  warf  rote  Wellen, 
und  nach  drei  Stunden  kam  der  Mann  wieder  hervor  mit  einer  Bürde  im  Schnupf- 
tuch. Aus  seiner  Tasche  gab  er  dem  Hausmeister  eine  Düte.  Dieser  fand  nur 
Pferdemist  darin  und  warf  den  Inhalt  fort;  die  Düte  steckte  er  wieder  ein.  Zu 
Hause  aber  fand  er  noch  drei  Dukaten  darin."1) 

In  den  Schüsselbauden  berichtete  mir  der  dort  1829  geborene  Hausbesitzer 
Johann  Glaser  folgendes: 

„Erzählt  wurde  ausser  vom  Nachtjäger,  der  des  Nachts  schiessen  sollte,  und 
dem  Buschweib,  das  den  Leuten,  die  ihr  Läuse  absuchten,  Laub  gab,  das  sich 
bei  denen,  die  es  nicht  fortwarfen,  in  Gold  verwandelte,  auch  viel  von  Rübezahl. 
Dieser  sollte  ganz  oben  auf  dem  Gebirge  sein.  Neben  dem  Pantschefalle  hat  er 
eine  Schatzkammer,  in  der  viel  Gold  sein  soll.  Wenn  Leute  dort  hineingehen,  so 
gelangen  sie  an  einen  Teich,  den  sie  nicht  passieren  können.  Die  Schätze  aber 
sind  erst  hinter  dem  Teich." 

Aus  Witkowitz  erhielt  ich  meine  hauptsächlichste  Auskunft  von  dem  dort 
1853  geborenen,  selbst  nicht  mehr  wundergläubigen  Gastwirt  Johann  Hollmann. 
Derselbe  hat  als  Kind  über  Rübezahl  besonders  seine  Eltern  und  einen  sehr  alten 
tschechischen  Schneider  aus  Raudnitz,  der  aber  auch  sehr  gut  deutsch  sprechen 
konnte,  erzählen  hören.     Er  berichtete  mir  folgendes: 

„Rübezahl  hat  sich  oben  im  Riesengebirge,  besonders  aber  in  seinem  Garten 
oder  Rosengarten  auf  der  Kesselkoppe  aufgehalten2).  Im  Garten  verschenkte  er 
Blumen,  besonders  Enzian. 

1)  Meine  Frage,  ob  der  „Mann"  eigentlich  Rübezahl  war,  wurde  von  Vincenz  Holl- 
mann bejaht  (vgl.  S.  :>.">). 

2)  Von  Rübezahls  Garten  auf  dem  Brunnberg  und  seinem  Aufenthalt  auf  Brunn- 
berg,  Schneekoppe  und  im  Riesengrund  war  Hollmann  nichts  bekannt. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.   1911.   Heft  2.  In 


146 


Loewc: 


In  Rübezahls  Schatzkammer  am  Pantschefall  sind  tatsächlich  Leute  hinein- 
gegangen, konnten  jedoch  nicht  über  das  Wasser  hinwegkommen.  Hinter  dem 
Wasser  sollten  Rübezahls  Schätze  sein;  er  allein  konnte  hinübergelangen. 

Rübezahl  hatte  Schuhe  und  Strümpfe  mit  Kniehosen  von  Leder.  Er  war  sehr 
gross  und  stark  und  hatte  Kniescheiben  so  gross  und  sonnenverbrannt  schwarz  wie 
Pferdeknie.  Sein  Gesicht  war  überwachsen  bis  auf  die  Stirn;  er  hatte  eine 
hohe,  kahle  Stirn;  hinten  dagegen  war  das  Haar  sehr  lang.  Er  trug  einen 
kolossal  grossen  Hut  mit  sehr  grosser  Krempe,  dazu  eine  lange  Kutte  mit  einem 
Gürtel.  Wenn  das  Wetter  schlecht  war,  so  hat  er  den  Gürtel  geöffnet  und  sich 
in  die  Kutte  gehüllt:  bei  guter  Witterung  dagegen  hat  er  den  Gürtel  zusammen- 
geschnallt und  die  Kutte  wieder    in   die  richtige  Facon  gebracht.     Wenn    er   ganz 

Ö  m 

ohne  Kutte  ging,  dann  war  lange  andauernde  schöne  Witterung. 

Den  armen  Leuten  hat  Rübezahl  viel  geholfen.  Für  Krankheiten,  z.  B. 
Rückenschmerzen,  gab  er  bestimmte  Kräuter  als  Mittel." 

Ausserdem  erzählte  mir  Johann  Hollmann  noch  drei  Geschichten,  von  denen 
freilich  die  beiden  ersten  nur  Variationen  bekannter  Rübezahlgeschichten  sind: 

1.  „Eine  arme  Frau  aus  den  Schüsselbauden  weidete  ihre  Ziegen  in  der  Nähe 
von  Rübezahls  Garten  an  der  Kesselkoppe.  Sie  hatte  auch  einen  Korb  auf  dem 
Rücken,  um  sich  Futter  für  ihre  Ziegen  auch  noch  nach  Hause  mitzunehmen.  Da 
erschien  Rübezahl  und  fragte  sie,  ob  sie  zu  Hause  noch  eine  andere  Beschäftigung 
als  die  mit  den  Ziegen  hätte.  Sie  antwortete,  dass  sie  sich  nur  durch  die  Ziegen 
ernähre.  Rübezahl  sagte  darauf,  sie  solle  mit  dem  Grase  vorsichtig  nach  Hause 
gehen;  sie  würde  im  Korbe  etwas  finden.  Zu  Hause  fand  sie  denn  auch  Dukaten 
zwischen  dem  Grase.  Darauf  gingen  viele  Weiber  hin,  um  bei  Rübezahls  Garten 
Gras  zu  sammeln;  aber  Rübezahl  liess  sich  nun  nicht  mehr  sehen. 

2.  Der  Teufel  wollte  einen  grossen  Stein  in  den  schwarzen  Teich  werfen, 
damit  das  Hirschberger  Tal  überschwemmt  würde.  Da  kam  Rübezahl  und  fasste 
den  Stein  hinten  bei  der  Kette,  so  dass  der  Teufel  ihn  niedersetzen  musste.  Der 
Stein  steht  noch  oberhalb  des  schwarzen  Teiches;  man  sieht  noch  die  Glieder  der 
Kette  an  ihm. 

3.  Einer  armen  Frau,  die  Schulden  hatte,  sollte  die  Kuh  verkauft  werden. 
Bei  der  letzten  Fütterung  weinte  die  Frau  bitterlich.  Da  trat  Rübezahl  in  den 
Stall  und  fragte  sie,  warum  sie  so  täte.  Sie  gab  ihm  darauf  den  Grund  an.  Da 
sagte  Rübezahl,  sie  solle  vorsichtig  sein,  der  Kuh  auch  Getränke  holen  und  das 
übrig  gebliebene  Heu  der  Kuh  zusammenscharren.  Als  sie  das  Heu  zusammen- 
scharrte, waren  lauter  Dukaten  darin;  Rübezahl  aber  war  schon  fort." 

In  Witkowitz  berichtete  mir  noch  der  dort  1841  geborene  frühere  Tischler 
und  jetzige  Privatier  Vincenz  Pfohl  folgendes: 

„Rübezahl  hat  seine  Frau  einmal  ausgeschickt,  Rüben  in  seinem  Garten  zu 
zählen.  Er  war  während  dieser  Zeit  selbst  fortgegangen.  Als  er  nach  Hause  kam, 
war  seine  Frau  verschwunden.  Im  Zorn  sandte  er  ihr  einen  Donnerschlag  nach; 
sie  war  aber  schon  jenseit  der  Grenze  seines  Reiches." 

Der  in  Witkowitz  1834  geborene  und  dort  noch  wohnhafte  Grundbesitzer, 
Zimmermann  und  Weber  Anton  Scharf  bemerkte  mir  nur: 

„Rübezahl  war  oben  auf  dem  Gebirge.  Er  sah  sehr  verwildert  aus.  Sein 
Gesicht  war  überwachsen." 

In  den  Hofbauden  berichtete  mir  der  dort  1849  geborene  Robert  Erlebach: 

„Mein  Vater  hat  erzählt,  wie  der  Rosengarten  seinen  Namen  erhalten  hat. 
Es  waren  einmal  zwei  Schwestern,  Rose  und  Nessel;  letztere  erfror  dort;  da  liess 
Rose  einen  Garten  dort  machen,    der  deshalb  Rosengarten    heisst,     Andere  Leute 


Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben.  ]  47 

nannten  ihn  Rübezahls  Garten  oder  Rübezahls  Rosengarten.  Was  aber  von 
Rübezahl  erzählt  wurde,  war  alles  Lug.  Rübezahls  Kanzlei  nannte  man  die 
Schweinsteine  oberhalb  der  Quargsteine." 

Der  Schwiegersohn  Erlebachs,  der  in  Rochlitz  1873  geborene  und  dort  noch 
wohnhafte  Weber  Josef  Krause  gab  mir  noch  folgendes  an: 

„Rübezahl  soll  in  der  zwölften  Stunde  des  Nachts  im  Rosengarten  sichtbar 
sein,  ausserdem  an  einem  bestimmten  Tage  des  Jahres;  an  welchem  Tage  aber, 
weiss  ich  nicht." 

Frau  Clementine  John  geb.  Jaekl,  die  1831  in  Prychowicz  (einem  deutschen 
Ort)  geboren  wurde  und  jetzt  in  Wurzelsdorf  lebt,  berichtete  mir: 

„Nach  Erzählung  meiner  Grossmutter  aus  Prychowicz  lebte  Rübezahl  auf  dem 
Kynast.  Er  hatte  einen  langen  grauen  Bart.  Wenn  Leute  ihn  foppten,  so  ver- 
liefen sie  sich  im  Walde.  Er  hat  auch  Leute  mit  Goldstücken  beschenkt;  öfters 
hat  er  jedoch  dabei  auch  die  Leute  getäuscht,  indem  die  Goldstücke  zu  Hause 
zu  Spreu  wurden." 

In  Wurzelsdorf  gab  mir  die  dort  1860  geborene  unverehelichte  Antonie  Berg- 
mann folgende  Auskunft: 

„Rübezahl  sandte  Gewitter  von  der  Schneekoppe  her.  Er  hatte  einen  langen 
Bart  und  trug  einen  Korb  auf  dem  Rücken  mit  Kräutern,  damit  ging  er  unter 
die  Leute. 

Ein  Schuhmacher  aus  AVurzelsdorf  namens  Rösler,  der  jetzt  ungefähr  30  Jahr 
tot  ist,  erzählte,  wie  er  einmal  auf  den  Farenberg  gegangen  wäre  und  sich  dort 
nicht  hätte  herausfinden  können,  weil  Rübezahl  ihn  irreführte.  Es  war  dort  früher 
eine  Heide,  jetzt  grösstenteils  Wald.  Rösler  hat  dort  viel  Blumen  gefunden  und 
ist  den  Blumen  nachgegangen;  er  hat  geglaubt,  in  Rübezahls  Garten  zu  sein.  Wie 
er  wieder  herausgekommen  ist,  weiss  ich  nicht  mehr." 

In  Wurzelsdorf  erhielt  ich  weiter  von  dem  dort  1852  geborenen  Josef 
Battermann  folgende  Auskunft: 

„Rübezahl  hat  die  Leute  richtig  geführt  oder  irre  geführt,  je  nachdem  sie  ihn 
lobten  oder  verspotteten.     Er  hat  auch  Kräuter  verteilt." 

Dazu  erzählte  Battermann  noch  folgende  zwei  Geschichten: 

1.  „Einem  Mädchen  tat  Rübezahl  Kräuter  in  die  Schürze  und  sagte,  dass  sie 
ihr  Heil  bringen  würden.  Sie  dachte  aber,  dass  die  Kräuter  doch  nur  zum  Fort- 
schütten wären.  Zu  Hause  angelangt,  fand  sie  einen  Dukaten  an  der  Schürze 
hängen,  der  aus  einem  hängengebliebenen  Blatte  entstanden  war. 

2.  Mehrere  junge  Leute  gingen  einmal  in  den  Wald  und  hängten  ihre 
Kleidungsstücke  an  die  herausgerissenen  Wurzeln  eines  vom  Sturme  nieder- 
gerissenen Baumes  (solchen  Baum  nennt  der  Dialekt  Worps).  Sie  spotteten 
darüber,  dass  Rübezahl  aus  der  Wurzel  einer  Rübe  entstanden  war1),  und  sagten, 
aus  den  Wurzeln  des  Baumes  könnten  sie  auch  Rübezahle  machen.  Da  entstand 
ein  Sturm  und  führte  ein  Kleidungsstück  in  die  Höhe.  Alle  rannten  nach. 
Während  dieser  Zeit  warf  der  Sturm  den  Worps  zurück,  so  dass  die  Wurzeln 
wieder  in  die  Erde  fuhren  und  die  Kleidungsstücke  mitnahmen." 

Die  Sage  von  der  Entstehung  Rübezahls  aus  der  Wurzel  einer  Rübe  soll 
nach  Battermann  allgemeiner  bekannt  gewesen  sein.     Dass    sich  gerade    bei   ihm 


1)  Aus  dieser  Bemerkung  geht  hervor,  dass  Rübezahl  von  Haus  aus  ein  Alraun 
war.  Ich  war  zu  diesem  Resultat  schon  auf  anderem  Wege  gekommen,  noch  bevor  icli 
überhaupt  (1907)  Rübezahlsagen  aus  dem  Volksmunde  in  grösserer  Zahl  gesammelt  hatte. 
Meine  diesbezüglichen  Ergebnisse  hoffe  ich  später  noch  darzulegen. 

10* 


148 


Loewe : 


diese  Tradition  erhalten  hatte,  hängt  offenbar  damit  zusammen,  dass  er  selbst  das 
vereinigte  Gewerbe  eines  Kräutergärtners,  Apothekers  und  Arztes  für  das  Volk 
ausübte.  Wie  mir  Franz  Roesler  (vgl.  S.  36 f.)  mitteilte,  gab  es  schon. früher  in 
Wurzelsdorf  Leute,  die  (ganz  ähnlich  wie  die  Laboranten  in  Krummhübel)  dem 
gleichen  Berufe  oblagen.  Vortrefflich  passt  hierzu  auch  der  Name  'Wurzelsdorf. 
Battermann  selbst  bemerkte  noch  hierüber: 

„Meine  Tante  hat  erzählt,  dass  die  Piychowiczer  aus  Antoniwald,  wo  jetzt 
Wurzelsdorf  steht,  sich  Wurzeln  geholt  haben.  Dort  ist  das  Wurzelflössel,  das 
in  Ober- Wurzelsdorf  entspringt  und  in  Unter- Wurzelsdorf  in  die  Iser  geht." 

V,  Das  Isergebirge. 

In  Klein-Iser  erhielt  ich  von  dem  dort  1843  geborenen  Ortsvorsteher  Josef 
Hujer  folgende  Auskunft: 

„In  meiner  Kindheit  wurde  von  alten  Leuten  über  Rübezahl  gesprochen.  Er 
war  im  Riesengebirge,  und  zwar  bald  hier,  bald  dort.  Er  hat  verschiedene 
Gestalten  angenommen;  bald  sah  er  alt,  bald  jung  aus.  Wenn  er  auf  Leute  böse 
war,  so  hat  er  sich  in  einen  Stecken  verwandelt:  setzten  sich  dann  solche  Leute 
mit  ihrer  Hucke  darauf,  so  fielen  sie  plötzlich  um,  weil  der  Stecken  fort  war. 
Auch  hat  er  Leute  irre  geführt.     Doch  half  er  anderen  auch  durch  Heilkräuter." 

Ferner  berichtete  mir  in  Klein-Iser  der  dort  1843  geborene  Waldarbeiter  Franz 
Stefan : 

„In  meiner  Kindheit  wurde  von  Rübezahl  und  vom  Nachtjäger  erzählt,  weniger 
vom  Wassermann.  Danach  hielt  sich  Rübezahl  in  den  Steinhöhlen  des  Riesen- 
gebirges auf;  es  gab  dort  förmlich  unterirdische  Schlösser.  Auch  Weiber  nahm 
er  mit  in  seine  Höhle  und  hat  sie  dann  selbst  wieder  nach  Hause  geschickt.  Er 
säte  auch  Rüben  und  machte  daraus  Geister,  welche  die  Weiber,  die  er  sich 
geholt  hatte,  bedienen  mussten.  Es  waren  oft  sehr  vornehme  Damen.  Auch 
Gewitter  hat  Rübezahl  gemacht." 

Von  dem  1836  in  Einsiedeln  geborenen,  aber  seit  seinem  6.  Lebensjahre  in 
Weisbach  befindlichen  Uhrmacher  Franz  Tschiedel  erfuhr  ich  folgendes: 

„Es  wurde  in  Weisbach  vom  Nachtjäger  erzählt,  der  in  der  Gegend  der 
Tafelfichte  sein  sollte  auf  Hubertushütte  zu.  Die  Buschweiber  sollten  im  Wald 
sein,  auch  in  einem  Haus  in  Weisbach  gesponnen  haben.  Rübezahl  soll  auf  der 
Schneekoppe  gewohnt  haben. 

Rübezahl  holte  sich  aus  Warmbrunn  Rübsamen  und  pflanzte  ihn  in  der 
Gegend  von  Johannisbad;  daraus  entstanden  Pferde;  auf  einem  solchen  entfloh 
eine  Prinzessin,  die  er  sich  geraubt  hatte.  Aus  der  warmen  Küche  Rübezahls 
entstanden  die  warmen  Quellen  von  Johannisbad." 

Der  Sohn  des  Uhrmachers  Tschiedel,  der  Holzarbeiter  Tschiedel,  sagte  mir, 
dass  das  Moos,  das  an  den  Fichten  hängt,  Rlbzöils  bärt  (Rübezahls  Bart)  oder 
meist  kurzweg  Ribzöil  heisse. 

In  Weisbach  machte  mir  ferner  der  dort  1827  geborene  Holzarbeiter  und  Feld- 
gärtner Ignaz  Neisser  einige  Mitteilungen: 

„Der  Nachtjäger  und  die  Holzweiber  waren  im  Walde  bei  Weisbach,  Rübe- 
zahl dagegen  im  Riesengebirge.  Rübezahl  erschien  bald  grösser  und  bald  kleiner. 
Wenn  jemand  ihn  verspottet  hat,  so  hat  er  ihn  irre  geführt;  wenn  jemand  aber 
gutes  von  ihm  sprach,  hat  er  ihm  auch  gutes  getan.  —  Rübezahls  Bart  (Ribzoilbört) 
hängt  an  den  Fichten. 


Weiteres  über  Rübezahl  im  beutigen  Volksglauben.  14!) 

Eine  arme  Frau  suchte  Laub  im  Wald.  Da  tat  ihr  Rübezahl  etwas  in  die 
Schürze;  sie  schüttete  es  aber  wieder  fort.  Zu  Hause  fand  sie  jedoch  noch  etliche 
Goldblätter  in  ihrer  Schürze." 

In  dem  schon  in  der  Vorebene  des  Isergebirges  gelegenen  Schönwald  erfuhr 
ich  von  dem  dort  1820  geborenen  Gedingsbauer  Anton  Görlach: 

„Die  alten  Leute  haben  erzählt,  dass  Rübezahl  (Rlbzoil)  auf  dem  Gebirge 
war.  Wie  mein  Grossvater  sagte,  hat  er  sich  hinter  der  hohen  Strasse  nach  Neu- 
stadt zu,  wo  früher  lauter  Wald  war,  gezeigt." 

In  bezug  auf  Bullendorf  bezeugte  mir  die  1841  dort  geborene  Pauline  Hannik, 
geb.  Tschiedel  (die  jetzt  in  Schönwald  wohnt),  dass  dort  die  alten  Leute  auch 
von  Rübezahl  gesprochen  hätten. 

VI.  Das  Bober -Katzbachgebirge. 

Der  einzige  aus  dem  Bober-Katzbachgebirge  gebürtige  Mann,  von  dem  ich 
über  Rübezahl  einige  Auskunft  erhalten  habe,  war  der  jetzt  in  Kaiserswaldau 
wohnhafte,  1874  in  Grünau  geborene  Gastwirt  Ernst  Ansorge.  Derselbe  hat  sein 
Wissen  darüber  von  seinen  beiderseitigen  durchweg  auch  aus  Grünau  gebürtigen 
Grosseltern.     Er  berichtete  mir: 

„Rübezahl  (Ribezoil)  wohnte  in  den  Steinhöhlen  des  Riesengebirges,  kam  aber 
bei  Nacht  auch  in  das  Tal  hinunter.  Er  hatte  ein  verwittertes,  vermoostes  Gesicht, 
einen  grossen  Bart  und  eine  starke  Figur.  Er  ging  als  Jäger  und  trug  daher  ein 
kurzes  Jacket  mit  zwei  Reihen  Knöpfen  und  kurze  Hosen.  Auch  führte  er  immer 
einen  Stock  bei  sich." 

Im  übrigen  teilte  mir  nur  noch  Kantor  Prescher  in  Arnsdorf  mit,  dass  seine 
1833  geborene  Mutter,  die  ihre  Jugend  in  Bolkenhain  (im  Osten  des  Bober-Katzbach- 
gebirges) verlebt  hat,  ihm  gesagt  habe,  dass  auch  dort  viele  Rübezahlsagen  im 
Volksmunde  waren;  doch  seien  diese  mehr  allgemeiner  Art  gewesen,  während  die 
in  Arnsdorf  und  Umgegend  erzählten  gefehlt  hätten. 

VII.  Das  Rabengebirge. 

Im  Rabengebirge  habe  ich  mich  nur  in  und  bei  Schömberg  aufgehalten  und 
dort  meine  hauptsächlichste  Auskunft  von  dem  1836  in  Schömberg  geborenen  und 
jetzt  in  Voigtsdorf  wohnhaften  Feldgärtner  Heinrich  Wesener  bekommen.  Der- 
selbe berichtete  mir  folgendes: 

„Der  wilde  Jäger,  der  viele  Hunde,  die  man  bellen  hörte,  bei  sich  hatte,  war 
um  Schömberg,  ebenso  der  Feuermann  und  andere  Geister.  Rübezahl  (Ribenz;.!) 
dagegen  hatte  seinen  Hauptsitz  auf  der  Schneekoppe;  von  dort  aus  machte  ei- 
serne AusGüge.  Arme  Leute  hat  er  zu  sich  in  seine  Grotte  auf  die  Schneekoppe 
geführt  und  dort  gut  genährt.  Wenn  er  ihr  Vertrauen  hatte,  hat  er  sie  aus- 
geschickt, dass  sie  eben  solche  Scherze  machen  sollten  wie  er  selbst.  Er  hat 
auch  Arzneistoffe  von  der  Schneekoppe  mitgebracht  und  Leidenden  damit  geholfen. 
Genährt  hat  er  sich  von  Wasserrüben,  die  er  sich  vom  Felde  holte.  Wenn  Leute 
ihn  ärgerten,  schaffte  er  ihnen  grossen  Nachteil;  wenn  sie  gut  von  ihm  sprachen, 
war  er  dienstwillig. 

Rübezahl  hat  viel  und  gern  Geige  gespielt.  Er  nannte  die  Violine  seine 
Fidulücke.     Damit  hat  er  die  Leute  aufmerksam  gemacht,  wenn  er  kam. 

Rübezahl  lässt  sich  jetzt  nicht  mehr  spüren;  vielleicht  ist  er  in  einen  anderen 
Landstrich  gegangen.     Leben  tut  er  sicher;  ein  Geist  stirbt  nicht." 

Ausserdem  erzählte  mir  Heinrich  Wesener  noch  folgende  Geschichte: 


150  Loewe:    Weiteres  über  Rübezahl  im  heutigen  Volksglauben. 

„Ein  Landmann  arbeitete  neben  einem  Walde  auf  seinem  Rübenacker.  Da 
kam  jemand  zu  ihm  aus  dem  Walde  herab  und  sprach,  er  möchte  ihm  über- 
lassen, was  in  seinem  Hause  vorginge.  Der  Landmann  sagte:  'Da  kömmt  es 
mir  nicht  darauf  an.'  Der  andere  Mann  erwiderte:  'So  gehen  Sie  jetzt  mit  mir 
nach  Hause'.  Der  Landmann  sagte  darauf:  'Jetzt  kann  ich  nicht  mitgehen;  ich 
will  erst  zählen,  wieviel  Schock  Rüben  ich  hier  gesetzt  habe.  Wenn  du  zählen 
willst,  so  will  ich  gehen'.  Der  andere  Mann  zählte  nun,  während  der  Bauer  nach 
Hause  ging.  Zu  Hause  fand  der  Landmann,  dass  ihm  ein  kleiner  Sohn  geboren 
war.  Darüber  erschrak  er,  sprang  hinaus  zum  Felde  und  sagte  zu  dem  anderen 
Manne,  er  möchte  erst  am  nächsten  Tage  kommen.  Der  aber  war  noch  beim 
Zählen  und  wollte  auch  nicht  eher  aufhören,  als  bis  er  fertig  war.  Er  war  auch 
erst  ganz  spät  am  Abend  fertig.  Als  er  nun  in  der  Nacht  kam,  hatte  der  Bauer 
alles  verschlossen.  Da  fluchte  Rübezahl  und  sagte:  'Das  verfluchte  Rübenzählen 
hat  mich  so  verspätet'.  Davon  erhielt  er  den  Namen  Rübezahl.  Er  sagte  noch 
zum  Fenster  hinein:  'Morgen  zu  der  und  der  Stunde  bin  ich  wieder  da'  und  ging  zurück. 

Indessen  setzte  der  Landmann  seinen  Schraubstock  vor  die  Türe,  wo  die 
Frau  im  Wochenbett  lag.  Als  Rübezahl  kam,  sprach  er  zu  ihm,  er  solle  beim 
Schraubstock  etwas  warten,  er  wolle  erst  die  Frau  wecken.  Während  des  Ge- 
spräches zwischen  beiden  passte  der  Bauer  einen  Augenblick  ab,  in  dem  Rübezahl 
seine  Hand  in  den  Schraubstock  gesteckt  hatte;  dann  drehte  er  zu,  so  dass  Rübe- 
zahl nicht  mehr  hinaus  konnte.  Rübezahl  schrie  und  sprach:  'Lass  mich  nur 
los;  ich  will  dir  alles  lassen,  dass  ich  nur  aus  den  Schmerzen  komme'.  Der 
Landmann  antwortete:  'Ich  lasse  dich  nicht  eher  los,  als  bis  du  mir  fest  ver- 
sichert hast,  dass  du  mir  nichts  nimmst'.  Nach  anderthalb  Stunden  Hess  dann 
der  Landmann  Rübezahl  los.  Der  aber  lief  davon  mit  dem  Fluche:  'Das  ver- 
fluchte Rübenzählen'. 

Der  Landmann  und  seine  Frau  sahen  und  hörten  nun  eine  Zeitlang  nichts 
mehr  von  Rübezahl.  Eines  Tages  aber,  als  sie  mit  dem  Heu  auf  der  Wiese  be- 
schäftigt waren  und  auch  ihr  Kind  bei  sich  hatten,  sahen  sie  Rübezahl  von  fern 
angesprungen  kommen.  Da  nahm  der  Landmann  seine  Frau  in  die  Höhe  bei  den 
Beinen  und  sprach:  'Siehst  du  den  Schraubstock?  Da  werde  ich  dich  wieder 
einklemmen'.  Rübezahl  sagte  darauf:  'Wenn  du  immer  den  verfluchten  Schraub- 
stock bei  dir  hast,  komme  ich  nimmer  zu  dir'  und  lief  fort." 

Zu  Schömberg  sagte  mir  noch  der  jetzige  Privatier  und  frühere  Fleischer 
Adolf  Wiener,  der  dort  1828  geboren  ist: 

„Man  sprach  früher  vom  wilden  Jäger,  vom  Drachen  und  vom  Feuermann, 
am  meisten  aber  von  Rübezahl  (Ribenzfil).  Er  lebte  in  der  Schmiedeberger 
Gegend  und  auf  der  Schneekoppe." 

Endlich  teilte  mir  in  Schömberg  der  dort  1830  geborene  jetzige  Privatier  und 
frühere  Färber  Franz  Fiebig  folgendes  mit: 

„Es  wurde  gesprochen  vom  wilden  Jäger,  Drachen  und  Feuermann,  die  alle 
bei  Schömberg,  und  von  Rübezahl,  der  bei  der  Schneekoppe  sein  sollte.  Kinder 
wurden  damit  ängstlich  gemacht,  dass  man  ihnen  sagte:  'Rübezahl  holt  dich  ins 
Knieholz'  oder  'Rüberzahl  holt  dich  ins  Pfefferland'.  Alte  Leute  erzählten,  dass 
Rübezahl  sie  irre  geführt  hätte;  das  wäre  auch  um  Schömberg  geschehen." 

VIII.  Das  Euleogebirge. 

Durch  Vermittlung  des  Herrn  Kantor  Prescher  in  Arnsdorf  erfuhr  ich  von  der 
jetzt  in  Fellhammer  wohnenden,  1841  in  Silberberg  geborenen  und  dort  auf- 
gewachsenen Frau  Emma  Menzel  (vgl.  S.  3(1)  folgende  kleine  Geschichte: 


Zachariae:    Etwas  vom  Messen  der  Kranken.  151 

„Eine  Familie  geriet  in  Not  und  ging  zu  ihren  Verwandten  nach  Hain.  Dort 
aber  wurden  die  Leute  hinausgeworfen.  Im  Gebirge  riefen  sie  darauf  Rübezahl 
an.     Iheser  erschien  auch  als  Landmann  und  half  ihnen." 

IX.  Das  Zobtengebirge. 

Aus  den  Anschauungen  über  Rübezahl  im  Zobtengebirge  erfuhr  ich  nach 
Beendigung  meiner  Reise  einiges  durch  den  jetzt  in  Lankwitz  bei  Berlin 
wohnenden,  1888  in  Rogau-Rosenau  geborenen  Wilhelm  Kuczowitz.  Derselbe 
sagte  mir,  dass  in  seinem  Heimatsdorfe  keine  Bücher  über  Rübezahl  gelesen 
wurden,  und  teilte  mir  aus  dem  Geisterglauben  daselbst  überhaupt  folgendes  mit: 

„Im  Zobten  hausen  Zwerge,  die  dort  grosse  Schätze  angesammelt  haben. 
Wenn  sich  der  Reiter  ohne  Kopf  zeigt,  so  geschieht  ein  Unglück.  Wo  feurige 
Hunde  erscheinen,  brennt  das  Haus  ab.  Wenn  ein  heftiger  Sturm  bei  Nacht  heult, 
so  kommt  der  wilde  Jäger  mit  seinen  Hunden.  Die  Hexen  reiten  in  der  Luft  auf 
Besen. 

Rübezahls  Reich  erstreckt  sich  vom  Riesengebirge  bis  zum  Zobten.  Er  kommt 
auch  selbst  bis  in  die  Nähe  des  Zobten.  Er  ist  ein  grosser  Mann  mit  grossem 
Bart,  kann  aber  auch  andere  Gestalten  annehmen.  Manchen  Leuten  hat  er  einen 
Schabernack  gespielt,  anderen  aber  wieder  gutes  getan.  Er  hat  auch  Blätter  in 
Gold  verwandelt  und  zwar  (wovon  Geschichten  erzählt  wurden)  einmal  bei  einem 
armen  Bauern,  das  andere  Mal  auf  einer  Hochzeit." 


Etwas  vom  Messen  der  Kranken. 

(Der  rohe  Faden.) 

Von  Theodor  Zachariae. 


Vom  Messen  in  seiner  abergläubischen  Verwendung,  namentlich  zum 
Zweck  der  Heilung  einer  Krankheit,  ist  in  dieser  Zeitschrift  öfters  die 
Kede  gewesen.  So  in  dem  Aufsatz  von  Max  Bartels  über  Volksanthropo- 
metrie  oben  Li,  353 — 368  (dazu  die  Nachträge  von  Bernhard  Kahle  15, 
34D1'.)1).  Ich  will  hier  zwei  weniger  bekannte,  bei  älteren  Autoren  vor- 
kommende Stellen  anführen  und  besprechen,  worin  von  der  abergläubischen 
Heilart  des  Messens  gehandelt  wird. 


1)  Vgl.  sonst  oben  2,  170.  6,  89.  17,  169.  Luther,  Werke  (krit.  Gesamtausgabe) 
1,  40-2.  Ducange  u.  d.  W.  mensnrare.  Grimm  DM.2  lllGf.  1121.  12.'J:'.;  DM.4  :J,  342. 
Deutsches  Wörterbuch  6,  2119.  Wuttke,  Der  deutsche  Volksaberolaube  der  Gegenwart - 
1869  §506.  507.  P.  Sartori,  Am  Urquell  6,  59 f.  87 f.  Ulf.  H.  B.  Schindler,  Der  Aber- 
glaube des  Mittelalters  185S  S.  1791".  L.  Strackerjan,  Aberglaube  und  Sagen  aus  dem 
Herzogtum  Oldenburg  1,  71.  P.  Drechsler,  Sitte,  Brauch  und  Volksglaube  in  Schlesien 
1,  212  f.  2,  .'512  ff.     G.  Lammert,    Volksmedizin   und    medizinischer  Aberglaube    in    Bayern 


152  Zachariae: 

1.  Die  erste  Stelle  entnehme  ich  <ler  Explicatio  Decalogi  des 
Thoraas  Tamburini  8.  J.  (geb.  in  Caltanissetta  auf  Sizilien  1591,  f  in 
Palermo  1675).  Tamburini  handelt,  wie  andere,  ältere  oder  gleichzeitige 
Erklärer  des  Dekalogs,  bei  der  Erklärung  des  ersten  Gebotes1)  aus- 
führlich über  abergläubische  Vorstellungen  und  Gebräuche.  Unter  der 
Überschrift  Vanae  aliquot  superstitiones  nostra  aetate  usurpari 
solitae2)  teilt  er  folgende  zwei  Heilmittel  gegen  die  Gelbsucht  mit: 

lcteritiam,  quam  Siculi  zafaram3)  vocamus,  aliqui  sanant  quodam  filo 
conquisito  a  telarum  textricibus,  quem  iidem  Siculi  Lizzum4)  appellant,  quo 
quidem  filo  aegri  staturam,  ejusdemque  extensa  brachia  ter  metiuntur,  mox 
filum  complicant,  vulgarique  forfice  super  caput,  humeros,  pectus  infirmi  com- 
plicatum  idem  filum  secant,  addentes  interea  quaedam  verba  deprecatoria;  nam 
secare  sie,  et  profligare  morbum  profitentur,  sanitatemque  inducere.  si  id  semel, 
bis,  tertio,  continuis  tribus  diebus,  faciant,  certo  putant;  nonnulli  caeremoniam 
illam  dimensionis  omittunt,  caetera  quae  dieta  sunt  expedientes.  Immo  non 
nemo  solum  supra  caput,  non  vero  supra  humeros  pectusque  filum  secant.  Sunt 
et  alii,  qui  eandem  curant  jubentes,  vel  lcteritiam  patiens  mingat  in  herbam 
Marrochium5),    quae  in  ipso  fundo  vasis  urinarii,    in  quo  mingunt,   sit  imposita. 

Man  beachte  hier  das  Zusammenlegen  oder  Verknoten  (complicare) 
sowie  das  Zerschneiden  des  Fadens  mit  dem  gemessen  wird.  Ersteres 
findet  sich  auch  sonst;  so  misst  man  gegen  Kopfweh  'drei  Tage  nach- 
einander den  Kopf  vom  Scheitel  bis  unter  das  Kinn  mit  drei  Halmen 
Koggenstroh,  bindet  diese  in  drei  Knoten  und  hängt  sie  an  einen  Baum' 


1869  S.  89.  98.  224.  Fossel,  Volksmedizin  und  medizinischer  Aberglaube  in  Steiermark* 
S.  87.  Liebrecht  zu  Gervasius  von  Tilbury,  Otia  Imperialia  S.  250,  376  a.  Schönbach  in 
den  Analecta  Graeciensia  S.  47  und  in  seineu  Studien  zur  Geschichte  der  altdeutschen 
Predigt  2,  29.  P.  Pietsch,  Zs.  f.  deutsche  Philologie  16,  194.  K.  Euling,  Studien  über 
Heinrich  Kaufringer  1900  S.  79.  B.  Kahle,  Neue  Jahrbücher  für  das  klass.  Altertum  15, 
7 16  f.  (1905).  K.  Knortz,  Nachklänge  germanischen  Glaubens  und  Brauchs  in  Amerika  1900 
S.  113.  Riess  in  Pauly-Wissowas  Realenzyklopädie  1,  50.  A.  Franz,  Die  kirchlichen 
Benediktionen  im  Mittelalter  2,  457  ff.  Das  Sämavidhanabrähmaria  deutsch  von  Sten 
Konow  1893  S.  71  f.  Kausikasütra  50,  5  ff.  (W.  Caland,  Altindisches  Zauberritual  1900 
S.  174).  W.  Crooke,  Populär  Religion  1,  104.  2,  311.  Mitteilungen  der  Gesellschaft  für 
jüdische  Volkskunde  5,  60f.  6,  137.  7,  93. 

1)  Siehe  Joh.  Geffcken,  Der  Bilderkatechismus  des  15.  Jahrhunderts  1855  S.  5.'»ff. 

2)  Explicationis  Decalogi  Lib.  2  cap.  6  §  1  n.  33  (Tamburini  Opera,  Venetiis 
1710,  p.  68). 

3)  Zafara,  malattia,  che  procede  da  spargimento  di  fiele,  itterizia.  icteros,  regius 
morbus.  Cosi  detta  forse  del  render  essa  cosi  giallo  il  volto,  che  tinto  sembrasse  di 
zafarana,  da  cui  poi  toltane  il  na  per  distinzione,  questo  male  vien  chiamato  zafara. 
(M.  Pasqualino,  Vocabolario  Siciliano  etimologico.) 

4)  Lizzu,  iilo  torto  ad  uso  di  spago,  intrecciato,  o  sostenuto  da  aste,  o  pezzi  di 
canna,  del  quäle  si  servono  i  tessitori  per  alzare,  e  abbassare  le  lila  delP  ordito  nel  tesser 
le  tele,  liccio.  licium.     Dal  lat.  licium.  lizzu.     (Vocabolario  Siciliano.) 

5)  Druckfehler  für  Marrobium  (sizilisch:  Marrobiu,  erba  quasi  simile  alla  melissa: 
lat.  marrubium  'Andorn')?  Auf  jeden  Fall  ist  der  Andorn  gemeint:  auch  bedient  sich 
Tamburini  der  Form  Marrobium  an  einer  anderen  Stelle,  wo  er  von  der  'vis  naturalis 
herbae  Marrobii  Icteritiae  contrariae'  spricht. 


Etwas  vom  Messen  der  Kranken.  15;^; 

(s.  Wuttke  §  507;  vgl.  Zs.  f.  vergl.  Sprachforsch.  13,  lf)3.  Drechsler,  Sitte, 
Brauch  und  Volksglauben  in  Schlesien  2,  314).  Auf  das  Verknoten  des 
Messfadens  komme  ich  unten  noch  einmal  zurück. 

Das  zweite  von  Tamlmrini  überlieferte  Mittel  gegen  die  Gelbsucht 
ist  mir  anderwärts  nicht  begegnet.  Doch  wird  der  Harn  bei  den  Gelb- 
suchtskuren oft  erwähnt;  so  z.  B.  wird  empfohlen  das  Harnen  in  eine 
ausgehöhlte  gelbe  Rübe,  das  Harnen  auf  ein  leinenes  Tuch  u.  dgl.,  s. 
Wuttke  §  505.  Drechsler  2,  305.  Lammert,  Volksmedizin  S.  248.  Fossel, 
Volksmedizin  S.  120f.  Auch  wird  der  Andorn,  z.  B.  der  daraus  gewonnene 
Saft,  als  Mittel  gegen  die  Gelbsucht  empfohlen;  so  schon  Plinius:  sucus 
auriculis  et  naribns  et  morbo  regio  minuendaeque  bili  cum  melle  prodest 
(n.  h.  20,  243).  Siehe  sonst  Hovorka  und  Kronfeld,  Vergleichende  Volks- 
medizin 1,  30. 

Aus  den  Bemerkungen,  die  Tamburini  an  einer  anderen  Stelle  seines 
Werkes  (2,  6,  1,  73)  über  das  Messen  und  das  Harnen  auf  den  Andorn 
macht,  will  ich  noch  folgende  Stelle  herausheben: 

Aliqui  hoc  raorbo  [Icteritia]  infecti  eandem  herbam  [Marrobium]  ponunt  intra 
calceos,  alii  sub  nuda  planta  pedum1),  alii  fructuosius  alligant  ad  mida  crura, 
reticique  se  hoc  remedio  testantur.  Forte  quia  ejusmodi  herba  occulta  vi  letericiam 
bilem  avertit,  dissipat;  vel  certe  mitigat.  Nam  non  omnino  ab  ejusmodi  mictu, 
vel  alligatione  se  fuisse  valetudini  redditum  quidam  adolescens  mihi  narravit,  sed 
solum  aliqua  ratione  refectum;  qui  tarnen  addidit  tandem  omnino  se  sanitati 
restitutum  intra  paucos  dies  a  praedicta  fili  secatione  fuisse. 

2.  Die  zweite  Stelle  begegnete  mir  zuerst  in  der  Abhandlung  von 
Heinrich  Rinn:  Kulturgeschichtliches  aus  deutschen  Predigten  des  Mittel- 
alters (Programm  des  Johanneums  in  Hamburg,  1883).  Hier  zitiert  Rinn 
auf  S.  35  eine  Stelle  aus  Wackernagels  Sammlung  altdeutscher  Predigten 

(du    solt    niht    geloben an  messen  S.  77,  5)    und    führt    dazu    in 

einer  Anmerkung,  ohne  Quellenangabe,  das  folgende  Zitat  an: 

Alte  Weiber  massen  den  schmerzenden  Kopf  mit  einem  Gürtel  oder  mit  einem 
roten  Faden,  indem  sie  dem  Kranken  ins  Ohr  flüsterten:  das  Feuer  bedarf 
keine  Erwärmung,  das  Bier  bedarf  keinen  Trunk. 

Das  Zitat  stammt  ohne  Zweifel  aus  R.  Cruels  Geschichte  der  deutschen 
Predigt  im  Mittelalter  S.  618,  wo  wir  genau  dieselben  Worte  finden:  nur 
heisst  es  bei  Cruel  'messen"  und  'flüstern'  statten  'massen'  und  'flüsterten', 
und  ausserdem  erscheint  —  eine  bemerkenswerte  Variante  —  statt  des 
roten  Fadens  bei  Rinn  ein  roher  Faden  bei  Cruel.  Rinns  roter  Faden 
muss  auf  einem  Versehen  oder  auf  einem  Druckfehler  beruhen.  Dass 
der  rohe  Messfaden  zu  Recht  besteht,  ergibt  sich,  wenn  wir  das  Original 
vergleichen,  wovon  die  Worte  bei  Rinn  und  Cruel    nur   eine  Übersetzung 


1)  Auch  rühmt  man  dagegen  (gegen  die  Gelbsucht),  Schöllkraut    auf  die  Puss- 
sohlen zu   binden.    Lammert,  Volksmedizin  S.249. 


154  Zachariae: 

sind.  In  Gottschalk  Hollens  Sonntagspredigten  (1,  47;  das  Zitat  gibt 
Cruel  S.  (118)  entsprechen  die  Worte1): 

Sicut  quedam  vetule  mensurant  caput  dolentis  cum  cingulo  aut  cum  filo  non 
bullito:  dicendo  in  aurem  inflrmi  'Ignis  non  indiget  calefactione;  cereuisia  non 
indiget  potatione':    aut  alia  fatua  et  superstitiosa  faciunt. 

Es  kommt  hinzu,    dass    sich  der    'nicht  gekochte'  oder,    wie  sich 

•Cruel  ausdrückt,  der  'rohe'  —  Faden  auch  anderwärts  nachweisen  lässt. 
Indessen  ehe  ich  hierauf  eingehe,  muss  ich  noch  eine  zweite  Übersetzung, 
die  Hollens  Worten  zuteil  o-eworden  ist,  kritisch  beleuchten  und  mit  Cruels 
Übersetzung  vergleichen.  Franz  Jostes  hat,  augenscheinlich  ohne  die 
letztere  zu  kennen,  Hollens  Worte  wie  folgt  wiedergegeben  (Zeitschrift 
für  vaterländische  Geschichte  und  Altertumskunde  47,  1,  1)4;  Münster  1889): 

So  messen  manche  alte  Weiber  den  Kopf  des  Kranken  mit  einem  Gürtel 
oder  mit  einem  ungeknoteten  Faden,  wobei  sie  dem  Kranken  ins  Ohr  sagen: 
"Die  Hitze  bedarf  nicht  des  Heizens,  das  Bier  nicht  des  Trinkens',  oder  anderen 
Unsinn  und  Aberglauben  treiben. 

Wie  Jostes  dazu  gekommen  ist,  Hollens  'filum  non  bullitum"  mit 
Eingeknoteter  Faden*  zu  übersetzen,  ist  mir  unerfindlich.  Viel  eher  könnte 
man  einen  geknoteten  Faden  statt  eines  ungeknoteten  erwarten;  wird 
•doch,  wie  ich  oben  gezeigt  habe,  die  Knotung  des  Messfadens2)  häufig 
genug  erwähnt  und  gefordert.  Dagegen  wird  man  Jostes  unbedingt  Recht 
geben  müssen,  wenn  er  Hollens  Worte  'mensurant  caput  dolentis'  mit 
•sie  messen  den  Kopf  des  Kranken'  übersetzt3).  Cruels  Übersetzung 
'sie  messen  den  schmerzenden  Kopf  ist  zum  mindesten  ungenau*), 
sie  wäre  nur  richtig,  wenn  im  lateinischen  Original  caput  dolens  stünde, 
sie  ist  überdies  geeignet,  den  Anschein  zu  erwecken,  als  handle  es  sich 
in  der  Stelle  bei  Hollen  um  die  Heilung  von  Kopfschmerz.  Nun  wird 
•das  Messen  allerdings  nicht  selten  als  Mittel  gegen  Kopfschmerz  angeführt 
oder  empfohlen6);  bei  Hollen  aber  ist  entschieden  nur  vom  Messen  der 
Kranken  im  allgemeinen  die  Rede;  ein  Mittel  gegen  Kopfschmerz  gibt 
er  gleich  darauf  mit  den  Worten  an:  Quidam  contra  dolorem  capitis 
non  comedunt  aut  tangunt  caput  animalis  aut  piscis6). 


1)  Die  Stelle  steht  auch  in  Hollens  Praeceptnrium  (Kölner  Ausgabe  von  1484, 
Blatt  32B).  Über  Hollens  Sonntagspredigten  vgl.  oben  IS,  442ff.;  über  sein  Praeceptorium: 
Geffcken,  Bilderkatechismus  S.  ."'>lf. 

2)  Über  die  Zauberkraft  des  Knotens  vgl.  z.  B.  Wuttke  §  180  und  das  Register  unter 
Knoten.  Adam  Abt,  Die  Apologie  des  Apuleius  von  Madaura  11)08  S.  7G.  Campbell, 
Indian  Antiquarv  24,  131. 

3)  Siehe  auch  A.  Franz,  Theologische  Quartalschrift  88,  420,  Anm.  4. 

Ii  über  andere  Ungenauigkeiten  oder  Unrichtigkeiten  bei  Cruel  vgl.  oben  18,  442  f. 

5)  Luther,  Werke  1,  102  Ncscio  quot  modis  murmurandi  cingulo  metientes  capitis 
dolorem  mitigent.  Grimm,  DM. 2  1121.  Wuttke  §  5ü7.  Lammert,  Volksmedizin  S.  224. 
Mooney,  Proceedings  of  the  American  Philosophical  Society  24,  15G.  M.  Güdemann, 
•Geschichte  des  Erziehungswesens  und  der  Kultur  der  abendländischen  Juden  1,  215. 

6)  Siehe  oben  18,  443.     Der  Genuss  von  Tierköpt'en  hatte  nach  einem  im  Mittelalter 


Etwas  vom  Messen  der  Kranken.  155 

Ich  wende  mich  zu  dem  rollen  Faden  zurück.  Dass  gerade  ein 
solcher  bei  der  abergläubischen  Handlung  des  Messens  verwendet  wird, 
mag  auf  den  ersten  Blick  auffällig  erscheinen.  Spielt  doch  sonst  vielmehr 
der  rote  Faden  im  Volksaberglauben  eine  grosse  Rolle.  Er  kommt  so 
häufig  vor,  dass  es  überflüssig  sein  dürfte,  Beispiele  anzuführen1).  Ja 
selbst  beim  Messen  tritt  der  rote  Faden  auf.  Nach  den  Märkischen 
Forschungen  1,  247  bekannte  im  Jahre  1583  in  Beskow  eine  Hexe,  sie 
habe  ein  Weib  nackt  ausgezogen,  sie  mit  einem  Sonntags  gewobenen 
roten  Garnfaden  gemessen,  dann  Bier  in  eine  Grube  in  der  Erde  gegossen 
und  das  Weib  dies  mittels  einer  Röhre  austrinken  lassen,  damit  sie  Kinder 
bekomme  (s.  Grimm  DM.2  1117).  In  einem  Beichtspiegel  bei  Hasak, 
Der  christliche  Glaube  des  deutschen  Volkes  beim  Schlüsse  des  Mittel- 
alters 1868  S.  19'2  heisst  es:  'Hastu  dich  icht  lassen  messen  mit  einem 
roten  faden'2).  Allein  es  fragt  sich,  ob  in  den  angeführten  oder  in 
anderen  von  mir  vielleicht  übersehenen  Fällen  die  Überlieferung  immer 
richtig  ist.  In  der  zweiten,  aus  Hasak  zitierten  Stelle  liegt  unzweifelhaft 
ein  Fehler  —  ein  Druckfehler  oder  ein  Versehen  Hasaks  —  vor  (vgl. 
weiter  unten).  Doch  dem  sei,  wie  ihm  wolle.  Gewiss  legt  man  im 
Zauberwesen  grosses  Gewicht  auf  die  Farbe  der  Fäden,  und  der  rote 
Faden  nimmt  unstreitig  unter  den  bunten,  farbigen  Fäden  den  ersten 
Ran«:  ein.  Ferner  ist  die  Zahl  der  zu  verwendenden  Fäden  von  Be- 
deutung,  sowie  der  Stoff,  woraus  die  Fäden  gefertigt  sind  (Fäden  aus 
Hanf,  Wollfäden,  Seidenfäden).  In  Betracht  kommen  die  Person,  die 
einen  Faden  spinnt,  und  die  Zeit,  zu  der  ein  Faden  gesponnen  wird. 
Daneben  aber  beansprucht  auch  der  rohe  Faden  seinen  Platz  im  Zauber- 
wesen. Das  filuin  non  bullitum,  womit  nach  Hollen  alte  Weiber 
den  Kopf  eines  Leidenden  messen,  lässt  sich  auch  sonst  nachweisen.  Auf 
der  gleichen  Stufe  steht  rohes  Gram,  rohe  Leinewand  u.  dgl. 

In  zwei  nahe  miteinander  verwandten  Beichtspiegeln,  die  von  Geffcken,  Bilder- 
katechismus, Beilage  Sp.  99  und  von  Pietsch,  Zs.  f.  deutsche  Philologie  IG,  185 f. 
herausgegeben  werden  sind,  findet  sich  die  Frage:  'Hostu  dich  lossin  messin  mit 
eynem  roen  (ron,  rohen)  fadem'?'  Die  Vermutung  Geffckens,  es  sei  doch  wohl 
ein    roter  Paden    gemeint,    ist    bereits    von  Pietsch    zurückgewiesen    worden.     In 


herrschenden  Volksglauben  Kopfleiden  im  Gefolge  (A.  Franz,  Die  kirchlichen  Benedik- 
tionen "2,  564).  Vgl.  ferner  Usener,  Religionsgeschichtliche  Untersuchungen  2,  Kl,  10. 
A.  Franz,  Der  Magister  Nikolaus  Magni  de  Jawor  1898  S.  182.  Les  Evangiles  des 
quenouilles  (Paris  1855)  1,  8.  9.  22.  3,  2.  Zeitschrift  des  bergischen  Geschichtsvereins 
31,  97 f.  101  ff.  (der  Epileptiker  soll  nicht  essen  von  Häuptern,  sie  seien  von  Fischen 
oder  Fleisch). 

1)  Vgl.  meine  Ausführungen   in    der  Wiener  Zeitschrift   für  die  Kunde  des  Morgen- 
landes 17,  218ff.  und  namentlich  die  dort  angeführten  Schriften  von  Rochholz. 

2)  Vgl.  auch  das   rote  Band,   womit  bei  Kopfleiden  der  Kopf  gemessen  wird,    bei 
Wuttke  §507:  Lammert,  Volksmedizin  S.  221. 


2  56  Zachariae : 

'Der  Selen  Trost'  heisst  es  bei  der  Erklärung  des  ersten  Gebotes:  'Du  solt  dich 
nit  lassen  messen  mit  einem  rohen  faden'  (Hasak,  der  christl.  Glaube  S.  105; 
Geffcken  S.  55).  Mit  dem  rohen  Faden  vergleicht  Pietsch  den  ungespulten 
Faden,  der  in  Böhmen  beim  Messen  gebraucht  wird  ('Dieser  Faden  ist  ungespult, 
und  am  Charsamstage  vor  Sonnenaufgange,  und  zwar  von  rückwärts,  gesponnen;' 
Grohmann,  Aberglauben  u.  Gebräuche  aus  Böhmen  u.  Mähren  §  125s.  Wuttke 
§  506).  Auch  in  Schlesien  geschieht  das  Messen  mit  einem  rohen  Faden;  s. 
Drechsler,  Sitte  usw.  in  Schlesien  2,  312.  Vgl.  auch  ebenda  S.  2-74.  285  (Knoten 
werden  in  einen  rohen  Faden  gemacht). 

Filum  crudum:  'Vas  in  quo  balneantur  circumligant1)  crudo  filo;'  aus  des 
Frater Rudolfus  Buch  De  officio  Cherubyn  mitgeteilt  von  A.  Franz,  Theologische 
Quartalschrift  88,  420.  In  der  Anmerkung  z.  d.  St.  hat  Franz  auf  Hollens  filum 
non  bullitum  hingewiesen. 

Raw  thread:  'Green  leaves  of  a  tree  are  tied  on  to  the  hand  of  the  suspected 
person  with  raw  thread,  and  an  iron  spade,  heated  to  redness,  being  then  placed 
on  his  palra,  he  must  carry  it  for  several  paces  quickly';  aus  der  Beschreibung 
eines  indischen  Gottesgerichtes2)  bei  H.  M.  Elliot,  The  history  oflndia  as  told  by 
its  own  historians  1,  329. 

Linum  rüde3):  'Oculos  cum  dolere  quis  coeperit,  ilico  ei  subvenies,  si  quot 
litteras  nomen  eius  habuerit,  nominans  easdem,  totidem  nodos  in  rudi  lino 
stringas4)  et  circa  Collum  dolentis  innectas';  Marcellus  Empiricus  8,  G2  ed.  Helm- 
reich. Vgl.  10,  70:  Scribes  in  Charta  virgine  et  collo  suspendes  lino  rudi  liga- 
tum  tribus  nodis  ei,  qui  profluvio  sanguinis  laborat 

Unausgekochtes  Garn  u.  dgl.:  'Wenn  ein  sechswochenkind  viel  schreit, 
ziehe  man  es  dreimal  stillschweigends  durch  ein  unausgekochtes  stück  garn;' 
Deutscher  Aberglaube  bei  Grimm,  DM.1  S.  CVII,  Nr.  926.  'Kleine  Kinder,  aber 
auch  Erwachsene  und  Tiere,  welche  krank  sind  oder  doch  nicht  so,  wie  sie  sein 
sollten,  oder  die  man  gegen  künftige  Krankheit  schützen  will,  werden  durch  ein 
Stück  rohes,  ungewaschenes  Garn,  wie  es  einem  Tonnenreif  ähnlich  von 
der  Haspel  kommt,  hindurchgezogen;'  Strackerjan,  Aberglaube  und  Sagen  1, 
364;  vgl.  ebd.  S.  301.  365.  367  (durch  ein  Stück  rohes  Garn  ziehn).     In    Skandi- 


1)  Zum  Umwinden  des  Gefässes  mit  einem  Faden  vgl.  Wiener  Zs.  für  die  Kunde  des 
Morgenlandes  17,  217.  A.  Abt,  Die  Apologie  des  Apuleius  S.  74  ff.  und  die  auf  S.  209  aus 
Horsts  Zauberbibliothek  zitierte  Stelle.  Campbell,  Indian  Antiquary  26, 129.  Kausikasütra 
2G,  32  (Caland,  Althuliscb.es  Zauberritual  S.  78).  Wassergefässe,  deren  Hälse  mit  weissen 
Fäden  umwunden  sind,  erwähnt  Varühamihira  (Brhatsamhitä  48,  :'>7;  Journal  öf  the  Royal 
Asiatic  Society  C>,  75). 

2)  Siehe  Asiatic  Researches  1,  394.  397.  E.  Schlagintweit,  Uie  Gottesurteile  der 
lädier,  München  186G,  S.  22. 

3)  Wenn  ich  das  linum  rüde  mit  dem  rohen  Faden  auf  eine  Linie  stelle,  so  über- 
sehe ich  doch  die  Tatsache  nicht,  dass  lat.  rudis  auch  bedeuten  kann:  meu,  frisch,  un- 
gebraucht'; siehe  H.  Rönsch,  Itala  und  Vulgata  S.  336f.;  Semasiologische  Beiträge  zum 
lateinischen  Wörterbuch  2,  4(1:  dazu  das  Deutsche  Wörterbuch  8,  1115  (unter  roh  Nr.  5). 
So  ist  olla  rudis  bei  Marcellus  15,  109.  16,  58.  31,  26.  35,  23  und  sonst,  das  man  ver- 
sucht sein  könnte  dem  'rohen1,  d.  h.  ungebrannten  Gefäss  der  Inder  (vgl.  unten)  gleich- 
zusetzen, offenbar  synonym  mit  olla  nova  26,  25.  27,  10(5.  29,  41  u.  ö. 

4)  Soviel  Knoten  in  einen  (rohen)  Faden  machen,  als  man  Warzen,  Hühneraugen 
u.  dgl.  hat:  Wuttke  §484.  492.  504.  508  (vgl.  488.499).  Strackerjan  1,  70f.  74.  7G— 71« 
2,  1!).    Lammert  S.  186.    Drechsler  2,  285. 


Etwas  vom  Messen  der  Kranken.  157 

navien  heilt  man  die  Rachitis  (Skerfvan)  dadurch,  dass  man  den  Kranken  mit 
den  Füssen  voran  durch  eine  ungebleichte  Garnsträhne  zieht1);  Hovorka  und 
Kronfeld,  Vergleichende  Volksmedizin  2,  6D5. 

Rohe  Leinwand:  Gegen  schlimme  Augen  sucht  man  schweigend  neunerlei 
Kräuter,  näht  sie  in  ein  Stückchen  ungekrimptes  (ungenetztes)  graues  Tuch  mit 
einem  Faden  Garn  ein,  den  ein  Kind  von  sieben  Jahren  gesponnen3),  darf 
aber  dabei  keinen  Knoten  machen  und  den  Faden  nicht  vernähen;  dies  wird  nun 
wieder  in  rohe  Leinwand  gewickelt  und  neun  Tage  auf  dem  Leibe  getragen, 
und  dann  an  einen  Ort  vergraben,  wo  weder  Sonne  noch  Mond  hinscheint. 
Wuttke  §  495. 

Die  vorstehenden  Beispiele  werden  genügen:  genügen  insonderheit 
auch  für  die  Beantwortung  der  Frage:  was  ist  unter  einem  rohen  Faden 
zu  verstehen?  P.  Drechsler,  Sitte,  Brauch  und  Volksglaube  in  Schlesien 
2,  312  glaubt,  es  sei  ein  von  Speichel  unbenetzt  oder  ungenässt 
gesponnener  Faden  gemeint  (vgl.  2,  285.  326,  wo  roh  =  ungenetzt). 
Dieser  Auffassung,  die  ich  nicht  für  richtig  halten  kann,  widerspricht 
schon  Hollens  Ausdruck  filum  non  bullitum.  Richtig  erklärt  Pietsch, 
Zs.  f.  deutsche  Philologie  16,  187  'roh'  mit  'ungebleicht'.  Dieser  Aus- 
druck ist  uns  oben  bereits  begegnet.  Ein  roher  Faden  ist  ein  Faden,  der 
'noch  irgendeiner  Verarbeitung  oder  Vervollkommnung  fähig  ist,'  ein 
Faden,  der  der  'Appretur'  ermangelt.  Man  sehe  nur  das  Deutsche  "Wörter- 
buch unter  dem  Worte  'roh'  (Sp.  1115,  5)  und  die  dort  gegebenen  Bei- 
spiele: Rohe  Seide,  fila  bombyeina  non  exeoeta,  sua  naturali  ruditate 
dura;  roh  Tuch,  das  nicht  gewalkt;  rohe  Leinwand,  linum  crudum;  rohe 
oder  ungebleichte  Leinwand;  rohes  Garn,  linum  crudum;  rohe  Wolle, 
lana  '  nondum  praeparata.  Vgl.  auch  das  Deutsche  Wörterbuch  unter 
'Garn'  Sp.  1361  f.  und  die  griechischen  Wörterbücher  unter  <bii6hvov. 


1)  Zu  dem  Brauche  vgl.  Feilberg  oben  7,  44.  46.  Kuhn  u.  Scliwartz,  Norddeutsche 
Sagen  S.  410,  157.  Liebrecht,  Zs.  f.  roman.  Philologie  5,  420.  Strackerjan,  Aberglaube 
und  Sagen  1,  36S.  Grohmann,  Aberglauben  und  Gebräuche  §  832.  H.  Gaidoz,  TJn  vieux 
rite  medical  p.  G.*!.  G4. 

2)  Ein  Fadeu,  den  ein  siebenjähriges  Kind  oder  ein  Kind  unter  5  oder  7  Jahren,  oder 
eine  reine,  keusche  Jungfrau  gesponnen  hat,  ist  besonders  zauberkräftig  und  glückbringend. 
So  erzählt  Tamburini:  'Filum  Cannabis  quidam  assumebat,  quod  puella  virgo  ne- 
Terat,  eoque  submurmuratis  quibusdam  preeibus  utebatur  ad  sanandos  infirmos'  (Explicatio 
Decalogi  2,  G,  1,  n.  38;  cf.  n.  G7).  Die  heilige  Schnur  der  Brahmanen  wird  in  folgender 
Weise  hergestellt:  Ein  Mädchen,  das  noch  nicht  mannbar  ist,  muss  das  Garn  mit  den 
Fingern  spinnen,  ohne  Spinnrad,  und  aus  rötlicher  und  gelblicher  Baumwolle,  und  der 
Brahmaner  drehet  hernach  den  Faden  widersinnisch  (Zs.  der  deutschen  morgenl.  Ges. 
7,  24G.  Zu  dem  Ausdruck  'widersinnisch'  vgl.  Gaidoz,  Vieux  rite  medical  p.  G4:  on  fresse 
a  contre-sens  une  corde  de  paille).  Hierher  gehört  das  filum  virginis  oben  18,  1 1  I 
(nicht:  'Haar  von  einer  Jungfrau',  wie  Jostes,  Zs.  für  vaterl.  Geschichte  und  Alter- 
tumskunde 47,  1,  1)5  übersetzt;  als  wenn  cum  pilo  virginis  im  lat.  Text  stünde).  Siehe 
sonst  Wuttke  §542  und  Register  unter  'siebenjährig':  das  Deutsche  Wörterbuch  unter  Not- 
hemd: Deutscher  Aberglaube  bei  Grimm,  DM.1  Nr.  115.  656.  708.931;  Panzer,  Beitrag  zur 
deutschen  Mythologie  1,  256.  2,  278.  295  usw. 


158 


Zachariae : 


Fragen  wir  endlich,  wie  es  zugeht,  dass  ein  roher  Faden  (rohe  Lein- 
wand u.  dgl.)  bei  abergläubischen  Handlungen,    namentlich  in  der  Volks- 
heilkunde gebraucht  wird,  so  bietet  sich,  soweit  ich  sehe,    nur  eine  Mög- 
lichkeit der  Erklärung  dar:    der  rohe  Faden    stammt    aus  einer  Zeit,    wo 
man  eine  Verarbeitung,  eine  Appretur  noch  nicht  kannte.    Der  rohe  Faden 
ist    ein  Überrest    älterer    Kulturverhältuisse.     Es    ist    eine   bekannte  Tat- 
sache, dass  man  im  Kultus  und  im  Zauberwesen  ältere  Stoffe  und  Geräte 
beibehielt,    obwohl    deren  Verwendung  eigentlich    nebensächlich    ist,    und 
obwohl  im  gewöhnlichen  Leben  längst  andere,  bessere  oder  vollkommenere 
Stoffe  und  Geräte  eingeführt  waren1).     Die  Erklärungsart,  die  ich  für  den 
rohen  Faden    in  Anspruch    nehmen    möchte,    ist    in  Hinsicht    auf  andere 
Gegenstände,    andere  Verhältnisse    oft  genug  angenommen  worden.     Dem 
Flamen  Dialis  war  es  verboten,  gesäuerten  Brotteig  zu  berühren  (farinam 
fermento  inbutam  adtingere).     Man    sieht    darin    eine  Erinnerung    an    die 
Zeit,    wo  die  Säuerung  des  Brotes  noch  unbekannt  war.     Wenn  sich  der- 
selbe Flamen  nur  mit  ehernen  Messern  scheren  lassen  durfte,  so  hält  man 
das  für  ein  Überbleibsel  aus  der  Bronzezeit.    Die  im  Ritual  so  häufig  auf- 
tretende,  bisher  in  verschiedenem  Sinne  gedeutete  Nacktheit2)  ist  nach 
G.  L.  Gorarae    ein    'survival  of  a  rüde  prehistoric   cult.'     Wenn  sich  die 
Priester  des  dodonäischen  Zeus,    die  Seiler,    niemals    die   Füsse    wuschen 
und  stets  auf  dem  Erdboden   schliefen    (ZeXXoi  ärmioTioöss  yafmievvai  Ilias 
16,235),  so  lässt  dies  nach  der  Meinung  einiger  auf  eine  Epoche  schliessen, 
wo  das  Waschen  der  Füsse  und  der  Gebrauch  der  Bettstellen  in  Griechen- 
land unbekannte  Dinge  waren3). 

In  diesem  Zusammenhang  verdient  wohl  das  im  indischen  Zauber- 
wesen zuweilen  vorkommende  ämapätram,  das  rohe  d.h.  ungebrannte 
Gefäss,  erwähnt  zu  werden.  Ich  verweise  auf  die  Zauberhandlungen,  die 
das  Kausikasütra  26,  32.  41,  7.  48,  43  beschreibt  (s.  Caland,  Altindisches. 


1)  Vgl.  im  allgemeinen  z.  B.  W.  Kroll,  Antiker  Aberglaube  S.  Cff.  A.Abt,  Die  Apo- 
logie des  Apuleius  S.  85  und  die  daselbst  angeführte  Literatur.  Von  Überlebseln  in  der 
Kultur  handelt  E.  B.  Tjlor  im  3.  und  4.  Kapitel  seines  Werkes  Primitive  culture. 

21  Weinhold,  Zur  Geschichte  des  heidnischen  Ritus  189G  S.  4.  Kroll,  Antiker  Aber- 
glaube S.  21.  Abt,  Die  Apologie  des  Apuleius  S.  1721.  Einen  Überblick  über  die  ver- 
schiedenen Erklärungen  gibt  jetzt  E.  Samter,  Geburt,  Hochzeit  und  Tod  S.  112 ff. 

3)  So  z.  B.  Wolfgang  Heibig,  Die  Italiker  in  der  Poebene  1879  S.  4;  neuerdings 
wieder  Eugene  Monseur,  Revue  de  l'histoire  des  religions  .">3  (190(5),  297-299  (il  y  a  la 
un  simple  cas  de  misoneisme  sacerdotal).  Anders,  und  ohne  Zweifel  richtiger,  P.  Kretschmer, 
Einleitung  in  die  Geschichte  der  griechischen  Sprache  1S96  S.  87 f.;  F.  Dümmler,  Kleine 
Schriften  2,  213.  Vgl.  auch  A.  Abt,  Die  Apologie  des  Apuleius  S.  40,  wo  auf  die  in  den 
Zauberpapyri  vorkommende  Vorschrift  cbisxs  tlalavslov  (ajiooyjodto  ßaXaveiov)  hingewiesen 
wird,  im  deutschen  Aberglauben  findet  sich  bisweilen  die  Forderung,  dass  man  eine 
magische  Handlung  'ungewaschen  und  ungekämmt'  vollziehen  soll  (Wuttke  §  529;  vgl.  381. 
386).  Hierher  gehört  wohl  auch  'inlotis  manibus  remedium  facies'  Marcellus  Empiricus 
15,  9:  J.  Grimm,  Kleinere  Sclniften  2,  131. 


Etwas  vom  Messen  der  Kranken.  159 

Zauberritual  1900  S.  78.  141.  171);  ferner  auf  die  Zauberhandlung,  die 
ein  Brahmane  vornehmen  soll,  der  den  Liebhaber  seiner  Gattin  verfluchen 
will:  'Wenn  ein  Weib  einen  Buhlen  hat,  und  wenn  er  den  hasst,  so  soll 
er  in  einem  ungebrannten  Gefäss  ein  Feuer  anlegen,  eine  Streu  von 
Rohrhalmen  in  verkehrter  Richtim«;  ausbreiten  und  im  selbi°en  Feuer 
die  betreffenden  Spitzen  der  Rohrhalme,  nachdem  er  sie  verkehrt  mit 
Butter  gesalbt  hat,  opfern  und  vier  Sprüche  dabei  rezitieren'  (P.  Deussen. 
Sechzig  Upanisads  des  Yeda  1897  S.  515 f.;  vgl.  Oldenberg,  Die  Religion 
des  Yeda  S.  519).  Im  Atharvaveda  5,  31,  1.  4,  17,  4  erscheint  das  un- 
gebrannte Gefäss  unter  den  'Stellen'  und  Gegenständen,  die  zur  Ver- 
zauberung geeignet  oder  dem  Zauber  ausgesetzt  sind;  von  der  gleichen 
Bedeutung  sind  z.  B.  der  überaus  zauberkräftige  blaurote  Faden,  rohes 
Fleisch,  Menschenknochen,  der  Würfel,  der  Pfeil,  der  Brunnen,  der  Be- 
gräbnisplatz usw.  (Caland  S.  136;  Bloomfield,  Sacred  Books  of  the  Fast 
42,  395.  456 f.).  Nach  Bloomfield  'The  unburned  vessel  seems  to  sym- 
bolise  the  fragility,  destructibility  of  the  person  upon  whom  enchantments 
are  practised.'  Aber  sollte  sich  nicht  der  Gebrauch  der  ungebrannten 
Gefässe  im  indischen  Zauberwesen  daraus  erkhären  lassen,  dass  sie  einer 
läugstvergangenen  Zeit  angehören,  einer  Zeit,  wo  man  das  Brennen  der 
Gefässe  noch  nicht  kannte?  Es  sei  noch  auf  die  tzMv&oi  <:>u(/.i,  die  un- 
gebrannten Ziegel,  verwiesen,  die  uns  in  den  Zauberpapyri  begegnen; 
vgl.  z.  B.  im  grossen  Pariser  Zauberbuch  y.äftioov  avxöv  tk  nXiv&ovg  <htiä^ 
(Denkschriften  der  Wiener  Akademie,  phil.-hist.  Klasse  36,  2,  S.  67,  900) 
oder  Pap.  Lond.  122,  105  e%(ov  nQÖg  xecpaXrjv  nXiv&ov  v)to)v  (Denkschriften 
42,  2,  S.  58). 

Halle  a.  S. 


lli(l  Bolte: 


Kleine  Mitteilungen. 


Gereimte  Märchen  und  Schwanke  aus  dem  IG.  Jahrhundert. 

Der  Wert  der  zahlreichen  Meisterliederhandschriften  des  16.  bis  17.  Jahr- 
hunderts für  die  Geschichte  der  Erzählungsstoffe  ist  schon  mehrfach  betont 
worden1)  und  wird  deutlich  erwiesen  durch  die  von  E.  Goetze  und  K.  Drescher 
unternommene  treffliche  Ausgabe  sämtlicher  Fabeln  und  Schwanke  des  Hans 
Sachs,  welche  im  3.  bis  5.  Bande  (1900 — 1904)  830  bisher  zumeist  ungedruckte 
Meisterlieder  des  Nürnberger  Poeten  darbietet,  die  oft  freilich  nur  Versifikationen 
bekannter  Prosa-Vorlagen  sind,  aber  auch  mehrfach  die  mündliche  Volksüber- 
lieferung zur  Grundlage  haben.  Aus  dieser  noch  nicht  ausgeschöpften  Quelle 
entnehme  ich  die  nachfolgenden  Dichtungen  des  16.  Jahrhunderts. 

1.  Hans  Sachs,  Der  ritter  mit  der  verzauberten  nadel. 

Im  langen  thon  Regenbogen. 

1.  Zuhandt  ein  schöne  Jungfrau  vor  ihm  stundt.  15 

In  Hoch  ßurgundt  ein  ritter  säße,  Ob  der  erschrackh  der  ritter  sehr, 

Florentz  genant,  gar  adelich  vndt  wol-  Die  Jungfrau  aber  redt  ihm  freundtlich  zue 

gestalt,  Vndt  sprach :    „Florentz,  förcht  dir  nit 
Dem  war  gar  wol  mit  iägerey,  mehr! 

Ritterspihel  thäten  ihm  auch  lieben.  Kein  vnrat  hast  von  mir  zu  gwarten  du. 

5         Eines  tags  er  außreihten  wase  Ich  bin  eben  der  vorig  hirsch,  20 

Mit  seinem  windtspihel  in  eim  dückhen  Verflucht  wardt  ich  auß  meiner  muter 

finstern  waldt,  mundt. 

Reiset  vmb  in  der  wüsteneye,  Doch  kanstu  edler  ritter  kün 

Ein  schönen  hirschen  seine  hundt  auf-  Mich  wol  erlösen  von  deß  fluches  pundt, 

triben, 
Der  vor  ihnen  durch  den  waldt  2. 

sprung,  Das  ich  bleib  ein  menschliches  bilde, 

jo    Durch  berg  vndt  thal,  hin  vndt  her,  Wann  du  das  thust,  so  soltu  mein  gemahel     2". 

manche  krümme,  sein. 

Führt  den  ritter  vast  sechß  stundt  lang  Ich  bin  eins  königs  tochter  schon, 

In  dem  vnwegsamen  gehültz  weit  ümbe  Von  mir  solst  haben  freüdt,  gewalt  vndt 
Biß  endtlich  auf  ein  wisen  grün.  ehre." 

Der  hirsch  darauf  verschwundt,  Florentz  antwortt  der  Jungfrau  milde: 


1)  Ich  erlaube  mir,  ein  paar  eigene  Aufsätze  anzuführen:  Märchen-  und  Schwank- 
stoffe im  deutschen  Meisterliede  (Zs.  f.  vgl.  Literaturgeschichte  7,  449-  172.  11,  65— TU). 
Der  Schwank  von  den  drei  lispelnden  Schwestern  (oben  3,  58—61).  Das  Märchen  vom 
Gevatter  Tod  (oben  4,  34—41).  Stoffgeschichtliches  zu  Hans  Sachs  (Euphorion  3,  351  bis 
362).  Sechs  Meisterlieder  Georg  Hagers  (Alemannia  22,  159-184).  Zehn  Meisterlieder 
Michael  Beheims  (Festschrift  für  Kelle  1,  401  —  421.  1908).  Der  Nürnberger  Meistersinger 
Hans  Vogel  (Archiv  f.  neuere  Spr.  1911).  Einige  Meisterlieder  stehen  in  meinen  Aus- 
gaben der  Schwankbücher  von  Val.  Schumann  (1893),  Frey  (1896),  Montanus  (1899), 
Wirkram  (Werke  •'!  und  8). 


Kleine  Mitteilungen. 


161 


„Wormit  kau  ich  euch  helfen?  Das  sagt 

mir  allein, 
30    Mein  leih  vndt  leben  wag  ich  dran." 
Die   junckhl'rau  antwort  ihm  hinwider 

nuhre : 
„So  kombt  von  beut  über  ein  iahr 
Gleich  widerumb  auf  dise  grüne  wisen! 
So  will  ich  dir  anzeigen  klar, 
35    Wie  du  mich  nun  solt  erlösen  von  disen 
Meinen  plagen.     Doch  schau,  schlaf 

nicht 
Auf  dem  platz  zu  der  zeit! 
Du  bringst  vns  sonst  beide  in  hertzen- 

leidt." 
Florentz  bot  ihr  darauf  sein  handt 
40    Vndt  vmbiiug  die  schöne  Jungfrauen 

jung. 
Ihr  menschliche  gstalt  baldt  verschwandt, 
Widerumb  alß  ein  hirsch  gehn  waldt 

einspruug. 
Der  ritter  sach  ihr  senlich  nach, 
Stundt  da  in  großem  wunder  allbereit. 
45    Alß  der  hirsch  kam  auß  seim  gesicht, 
Er  baldt  widerumb  heim  gehn  Bur- 

gundt  rieht. 


Alß  sich  herzu  nebet  das  iahre, 
Riht  Florentz  hin.  lag  über  nacht  auf 

einem  schloß 
Zu  nachts  vor  disem  finstern  waldt, 
50   Auf  das  er  früe  kam  auf  die  wisen 

grüne. 
Auf  disem  schloß  ein  wittfrau  wäre, 
Hätt  auch  ein  tochter  schön  vndt  zart 

mannes  genoß, 
Die  sie  lengst  hat  solcher  gestalt 
Gern  verheyrathet  disem  ritter  küne. 
55  Zu  nachts  forscht  sie  an  seiuem 

knecht, 
Was  er  so  früe  hat  in  dem  waldt  zu 

schaffen. 
Der  knecht  ihr  all  ding  saget  schlecht, 
Auch  wie  er  auf  der  wisen  nit  dörfft 

schlafen. 
Alß  die  wittfrau  die  mehr  verstundt, 
60    Schenckht  sie  dem  knecht  für  das 

Ein  lot  silbers  vndt  ihm  darnach  fürbaß 
Eine  verzauberte  nadel  gab, 
Die  er  dem  ritttr  in  den  mantel  solt 
Steckhen,  so  er  vom  roß  stig  ab. 
G5    Der  bößwicht  |ver]hieß  zu  thun,  wie  sie 

wolt. 
Alß  der  ritter  früe  riht  hinauß 
Auf  die  wisen,  vom  gaul  absteigen  was, 

Zeitsclir.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.  1911     Heft 


Steckht  ihm  der  knecht  die  nadel  rundt 
In  sein  mantel,  alß  er  saß  in  das  graß. 

4. 

Zuhandt  der  ritter  starekh  entschliefe     70 
Auß  crafft  der  zauberey.     Die  junckhfrau 

darnach  kam, 
Fandt  ihn  schlafent;  groß  war  ihr  klag 
Ob  ihm,  dieweil  sie  ihn  nicht  kunt  er- 

weckhen. 
Den  knecht  bat  sie  gar  hoch  vndt  tiefe, 
Wann  er  erwacht,  das  er  ihm  ansaget  mit     75 

nam 
Zu  kommen  auf  den  andern  tag, 
So  wolt  sie  ihm  ihr  erlösung  entdeckhen. 

Alß  nun  der  ritter  auferwacht, 
Sagt  ihm  der  knecht  den  befelch  der  Jung- 
frauen. 
Der  ritter  sich  gar  traurig  macht  so 

Wider  aufs  schloß  zu  nachts  ohn  allen 

grauen. 
Die  frau  all  ding  erfuhr  vom  knecht, 
Noch  größer  schänekh  ihm  thät. 
Frü,  alß  der  ritter  hin  kam  an  die  statt, 
Der  knecht  macht  wider  schlafent  ihn.         S5 
Die  Jungfrau  kam,  ihn  wider  schlafent 

fandt 
Vnd  schidt  wider  traurig  dahin 
Vndt  doch  den  knecht  mit  großer  bitt  ver- 
mahnt, 
Das  er  doch  morgens  widerkäm 
"Vndt  den  ritter  zu  wachen  überredt:  90 

Wo  sie  ihn  nicht  fendt  wachent  schlecht, 
Ihr  beider  hoffnung  gar  ein  ende  hat. 

5. 

Der  ritter  an  dem  dritten  tage 
Riht  wider  in  den  waldt,  da  ihn   der 

falsche  knecht 
Macht  schlafent  mit  der  nadel  sein.  95 

Nachdem  die  Jungfrau  auf  den  platz  kam 

dare, 
Fand  ihn  schlafent,  sehr  große  klage 
Führet  sie  vndt  sauck  nider  auf  die  erden 

schlecht, 
Sprach:    „Nun  werde  ich  nimmer  dein  " 
Sie  wandt  ihr  häudt  vndt  raufft  ihr  gelbes     100 

hare 
Vnd  küßet  ihn  an  seinen  miimlf 
Vndt  sprach:  „Nun  hat  all  mein  hoffnung 

ein  ende." 
Sie  hieng  ihrer  lieb  zu  urkunt 
Drei  gülden  keten  an  sein  halß  behende, 
Nach  dem  sprang  sie  wider  gehn  holtz       105 
In  eines  hirschen  gstalt. 

2.  II 


162 


Bolte: 


Der  vuthreü  knecht  zog  rauß  die 

naclel  bald, 
Zuhandt  der  ritter  auferwacht. 
Der  knecht  sagt  ihm  der  Jungfrauen 

klagwort, 
uo    Da  liel  der  ritter  in  vnmacht 

Vndt  schafft  seinen  knecht  mit  den 

pferdten  fort. 
Er  wolt  nimmermehr  kommen  heim, 
Sein  leben  forthin  verzehren  im  waldt, 
Weil  er  verschlafen  hätt  die  stoltz; 
U5    Wurtzel  vndt  kreüter  war  sein  auf- 

enthalt. 


Eins  tags  der  ritter  auf  eim  berge 
Zerfiel  ein  schenckhel,  krafftloß  in  einer 

hol  lag, 
Da  ihn  ein  armer  koler  fandt; 
Der  heylet  ihn,  der  ritter  wurdt  sein 
knechte^ 
120         Hätt  bey  ihm  ein  iahr  sein  herberge. 
Nach  dem  fuhr  der  koler  gehn  Paris 

auf  ein  tag, 
Nam  mit  den  ritter  vnerkant; 
Da  ihn  ein  wittfrau  von  fürstlichem 
gschlechte 
Zu  einem  hofdiener  aufnum, 
125    Der  dienet  er  ein  monat  oder  mehre. 
Nach  dem  im  gantzen  königthum 
l'ranckhreich  mann  außrufft  ein  turnier 

gar  sehre. 
Der  ritter  einen  burger  hat 
Zu  Paris  in  der  statt, 
130    Der  seine  keten  behielt,  den  er  bat 
Zu  helfen  vmb  pferdt  vndt  hämisch. 
Vndt  alß  nun  der  tag  zu  thurniren  kam, 
Rüst  sich  heimlich  der  ritter,  frisch 


In   d  schranckhen  riht  zu  andern  adels- 

stain, 
Vnerkant  mit  ihnen  turniert,  135 

Da  er  vil  sättel  gelärt  hat. 
Baldt  sich  der  turnier  enden  thät, 
Riht  er  herauß  vnerkant  zu  hauß  spat. 


Deß  andern  tags  wider  turniert 
Der  ritter,  besaß  aber  darzue  wol  vndt      140 

vest 
Vndt  thät  das  best,  doch  vnerkant 
Sich  darvon  stal:  vndt  an  dem  dritten 

morgen 
Er  sich  mit  sein  drey  ketten  zieret, 
Riht  in  turnier  vndt  thät  aber  darinn  das 

best. 
Alß  nun  der  turnier  hat  ein  endt,  145 

Schlueg  mann  die  schranckhen  zu  gar 

vnverborgen. 
Zuhandt  wurdt  der  ritter  Florentz 
Hinauf  geführet  in  das  frauenzimmer: 
Mit  großer  ehr  vndt  reverentz 
Empfieng  ihn  der  könig  vndt  königin  150 

immer, 
Vergaßen  ihres  vngemachs: 
Der  ihren  [1.  Denn  ihre]  tochter  klar, 
Welches  der  verflucht  hirsch  gewesen  war, 
Kam  wider  zum  menschlichen  bildt, 
Dieweil  Florentz  im  turnier  das  best  thät.     155 
Das  ihm  die  Jungfrau  in  der  wildt 
Sageu  wolt,  wenn  er  nit  geschlafen  hat. 
Der  könig  gab  ihms  zu  der  ehe, 
Sie  hielten  ein  fürstliche  hochzeit  zwar. 
Drumb  was  gott  ordnet,   spricht  Hanß        160 

SacliU. 
Das  kau  kein  mensch  auf  erden  wenden 


In  H.  Sachsens  13.  Meistergesangbuch  (in  Zwickau)  Bl.  30a  steht  diese 
Dichtung  u.  d.  T.  „Der  ritter  von  Purgund  mit  dem  hirscn",  gedichtet  am  12.  Sept. 
1552,  verzeichnet  (H.  Sachs  hsg.  von  Keller-Goetze  -2."),  400  Nr.  3873  a);  ich  gebe 
sie  hier  nach  dem  Weimarer  Mscr.  P419,  Hl.  445a  Nr.  528  wieder,  da  mir  dieses 
bequemer  zugänglich  war.  -  Das  Meisterlied  ist  merkwürdig  als  die  älteste  Auf- 
zeichnung eines  verbreiteten  Märchens  von  einer  in  ein  Tier  verzauberten  Königs- 
tochter, die  der  Held  durch  standhaftes,  schweigendes  Ertragen  von  Schlägen  und 
Martern  erlöst,  dann  aber  durch  dreimaliges  Einschlafen  vor  dem  Stelldichein  ver- 
liert und  erst  nach  geraumer  Zeit  wiederfindet.    Ich  kenne  folgende  Fassungen: 

Deutsch:  Feen-Mährchen,  Braunschweig  1801  S.  206  'Das  Schloss  im  Walde  und 
Ritter  Gundiberts  Abentheuer.  Grimm,  KHM.  93  'Die  Rabe1.  Schambach-Müller,  Nieder- 
sächsische Sagen  185.")  S.  25:3   'Die  Prinzessin    hinter  dem   roten,    weissen    und    schwarzen 


Meere'.    Zingerle,   Tirols  Volksdichtungen 


•2,    239 


'Die    verwünschte    Prinzessin':    2,  356 


Die  drei  Soldaten'.   Busch,  Ut  61er  Welt  1910  S.  57   'Das  verwünschte  Schloss'   (das  Ein- 


Kleine  Mitteilungen.  I(j3 

schlafen  fehlt).  Wisser,  Wat  Grotinoder  verteilt  1,  49  'Op'n  Gollnmarker  Sloß'  (1901 
Nur  teilweise  hergehürig).  —  Vlämisch:  zwei  entstellte  Fassungen  aus  Denderleeuw 
teilte  mir  A.  de  Cock  freundlich  mit.  —  Dänisch:  Madsen,  Folkeminder  fra  Hanved  Sogn 
L870  S.  36  'Prinsessen  i  Hundeham'.  —  Gälisch:  Campbell,  Populär  tales  of  the  West 
Highlands2  2,  007  Nr.  44  lThe  widow's  son':  vgl.  R.  Köhler,  Kl.  Schriften  1,  259.  Mac 
Innes,  Folk  and  hero  tales  1890  p.  127  Nr.  5  'The  kingdom  of  the  green  mountains':  dazu 
S.  45s.  —  Französisch:  Sebillor,  Contes  populaires  de  la  Hautc-Bretagne  2,  lf>2  Nr.  28 
•Le  pillotous'.  Deulin,  Contes  d:uu  buveur  de  biere  1873  p.  85  'Le  petit  Soldat'.  — 
Rätoromanisch:  Decurtins,  Rätoroman.  Chrestomathie  2,  35  (1901)  'La  siarp'  =  Jecklin, 
Volkstümliches  aus  Graubünden  1,  126  'Die  Schlangenjungfrau'.  —  Italienisch:  Schneller. 
Märchen  aus  Wälschtirol  1867  Nr.  37  'Der  Schuster'  und  38  'Die  Königin  von  den  drei 
goldenen  Pergen'.  Comparetti,  Novelline  pop.  italiane  1S75  Nr.  24  'La  regina  delle  tre 
montagne'  (Monferrato)  und  27  Tl  palazzo  incantato'  (ebd.).  Nerucci.  Sessanta  novelle 
pop.  montalesi  1891  Nr.  59  'Fiordinando'.  De  Nino,  Usi  e  costumi  abruzzesi  3,  284  Nr.  56 
•La  regina  di  Spagna'.  Finamore,  Archivio  delle  tradiz.  pop.  3,  540  'I  tre  anelli'  (Abruzzcn. 
Entstelle  R.  Förster,  Archivio  10,  316  'E  caporal  Pipeta'  (Dalmatien).  Gonzenbacli. 
^kilianische  Märchen  1870  Nr.  60  'Vom  verschwenderischen  Giovanninu":  vgl.  oben  6,  164. 
Pitre,  Fiabe  pop.  siciliane  (1S75)  2,  238  Nr.  S4  'La  bedda  di  li  setti  muutagni  d'oru'  und 
I.  436.  —  Portugiesisch:  Coelho,  Contos  populäres  portuguezes  1879  Nr.  18  'Os  dos 
irmäos".  —  Baskisch:  Webster,  Basque  legends  1877  p.  106:  'Dragon'.  —  Serbisch: 
Wuk,  Volksmärchen  der  Serben  1854  Nr.  4  'Der  goldene  Apfelbaum  und  die  neun  Pfauinnen1. 
Krauss,  Sagen  der  Südslawen  1,  352  Nr.  81  'Der  goldene  Apfelbaum  und  die  neun 
Pt'aueuhennen':  Nr.  88  'Bendes-Yila  Mandalena'.  —  Ungarisch:  Gaal-Stier,  Ungar. 
Volksmärchen  1857  S.  39  'Die  verwünschte  Königstochter  auf  dem  Glasberge'.  Sklarek, 
Ungar.  Volksmärchen  1,  193  Nr.  20  'Vom  pfauenhaarigen  Mädchen'.  —  Rumänisch: 
Schott,  Walachische  Märchen  1845  S.  213  Nr.  21  'Mandsehiieru".  —  Tatarisch:  Radioff, 
Vnlksliteratur  der  türk.  Stämme  Südsibiriens  4,  502  (1872)  'Chosha  Sultan'. 

Unter  diesen  Fassungen,  deren  Unterschiede  und  Beeinflussungen  durch  andre 
Märchenkreise  ich  nicht  sämtlich  aufzählen  kann,  entspricht  die  schottische  bei 
Campbell  wohl  am  besten  dem  Moisterliede.  Der  Fischersohn  Jain  jagt  eine 
Hindin  und  will  dreimal  darauf  schiessen,  aber  jedesmal  erscheint  sie  ihm  als  ein 
schönes  Weib  und  heisst  ihn  in  ein  Räuberhaus  gehen  und  sich  dort  satt  essen.  Als 
die  Räuber  heimkehren,  töten  sie  ihn,  aber  die  Hindin  belebt  ihn  wieder.  Dies 
geschieht  zu  drei  Malen.  Dann  leitet  die  Hindin  ihn  zu  einer  Hütte,  wo  eine 
Hexe  mit  ihrem  Sohne  wohnt,  und  bestellt  ihn  für  den  andern  Morgen  zur  Kirche. 
Die  Hexe  jedoch  steckt  einen  Schlafdorn  in  die  Kirchtür  (oder  in  seinen  Rock), 
und  Jain,  den  ihr  Sohn  hinführt,  schläft  ein.  Die  Jungfrau  erscheint,  schreibt 
ihren  Xamen  'Tochter  des  Königs  vom  unterseeischen  Reich'  unter  seinen  Arm 
und  entfernt  sich.  Am  nächsten  Tage  steckt  sie  dem  Schlafenden  eine  Tabaks- 
dose in  die  Tasche,  am  dritten  verkündet  sie,  dass  sie  nie  wiederkommen  werde. 
Durch  die  in  der  Dose  steckenden  Geister  wird  endlich  Jain  in  jenes  Königreich 
yetrasren,  sieü't  in  drei  Wettrennen  mit  Pferd.  Hund  und  Falken  und  erhält  die 
Hand  der  Prinzessin.  Die  Hexe  wird  samt  ihrem  Sohne  verbrannt.  —  In  andern 
Versionen  jagt  der  Held  nicht  einen  Hirsch,  sondern  findet  in  einem  verzauberten 
Schlosse  eine  Ziege,  Schaf,  Hund,  Katze,  Ente,  Raben,  Schlange,  Rose  oder  eine 
bis  zum  Kopfe  eingemauerte  (De  Nino)  oder  im  Wasser  stehende  (Comparetti  "24. 
Finamore)  Dame,  die  ihn  um  Erlösung  bittet.  Die  Entzauberung  wird  entweder 
dadurch  bewirkt,  dass  der  Jüngling  (wie  bei  Grimm  Nr.  4  und  121  'Fürchten- 
lernen') in  drei  Nächten  von  Geistern  misshandelt  wird  oder  dass  er  gemäss  einem 
ebenfalls  verbreiteten  Glauben1)    die  Prinzess  dreimal    neben    sich    schlafen  lässt, 


1)  Vgl.  oben  14,  245.    Toldo,    Zs.  f.  roman.  Philologie  27,    293 f. ;    auch    Maynadier, 
The  wife  of  Bath's  tale  1901   p.  2olf. 

11* 


Iß4  Bolte: 

ohne  sie  anzurühren  oder  zu  beleuchten  (Madsen,  Nerucci,  Comparetti  27).  Das 
Schlafmittel,  durch  das  die  Hexe,  die  Mutter,  der  Gefährte  oder  der  Wirt  dreimal 
das  Stelldichein  vereitelt  (vgl.  oben  15,  325.  18,  169.  19,  156),  ist  eine  Schlaf- 
nadel, ein  Apfel  oder  ein  Pulver1).  Beim  Aufsuchen  der  fernen  Geliebten  leisten 
dem  Helden  bisweilen  Einsiedler,  Geister  oder  Tiere  Beistand. 

Auch  unser  Meisterlied  weist  einige  besondere  Züge  auf.  Die  Verzauberung 
der  Königstochter  rührt  aus  einer  Verfluchung  durch  ihre  Mutter  (V.  21)  her,  und 
zwar  vermutlich  aus  einer  unbedachten  und  nachher  bereuten  wie  im  Märchen 
von  den  sieben  Haben2);  ihre  Erlösung  wird  nicht  durch  des  Ritters  Einsiedler- 
leben und  Siechtum  in  der  Köhlerhütte,  sondern  durch  seinen  Sieg  im  Turnier 
bewirkt  (V.  155);  der  Held  ist  kein  Niedriggeborener,  wie  so  häufig  im  Märchen. 
sondern  gehört  höheren  Gesellschaftskreisen  an;  nicht  eine  Hexe,  sondern  eine 
Edelfrau,  die  in  dem  Ritter  einen  Tochtermann  zu  gewinnen  hofft,  vereitelt  durch 
Bestechung  seines  Knappen  das  Zusammentreffen  mit  der  Prinzess;  endlich  werden 
als  Schauplätze  der  Handlung  Burgund3)  und  Paris  genannt,  und  der  Ritter  heisst 
Plorentz  gleich  einem  Helden  im  Volksbuch  von  Kaiser  Oktavian4).  Ich  möchte 
daher  glauben,  dass  Hans  Sachsens  Quelle  nicht  ein  mündlich  überliefertes  Volks- 
märchen, sondern  ein  aus  diesem  entsprungener,  noch  zu  ermittelnder  Ritter- 
roman war.  Dazu  würde  auch  die  in  den  Minneallegorien  eine  grosse  Rolle 
spielende  Jagd  auf  die  Hindin5)  gut  passen. 

2.   Die  Feindschaft  zwischen  Hunden,  Katzen  und  Mäusen6). 

Den  Widerwillen  der  Hunde  wider  die  Katzen  begründet  schon  eine  deutsche 
Reimfabel  des  14.  bis  15.  Jahrh.  (Alemannia  34,  118:  Von  der  katzen  vnd  von 
dem  hunde,  aus  Cgm.  1020)  durch  einen  Zank,  den  ein  Hund  und  eine  Katze, 
die  gemeinsam  zu  einer  Hochzeit  zogen,  dort  um  die  guten  Bissen  anhüben.    Weit 


1)  Grimm,  Mythologie 3  S.  1155.  Unland,  Schriften  8,  464.  Knoop,  Hessische  BI. 
f.  Volkskunde  6,. 73.  —  Zum  verschlafenen  Stelldichein  vgl.  auch  Barth,  Liebe  und  Ehe 
im  atz.  Fablel  1910  S.  123. 

2)  Sonst  verwandelt  meist  die  Stiefmutter  die  Jungfrau  oder  Braut  in  ein  Tier: 
Grundtvig,  Dänische  Volksmärchen  2,  95  Nr.  6  und  Danmarks  gamle  Folkeviser  2,  LÖS 
Nr.  56.    4,    S95.     Rittershaus,    Neuisländ.    Volksmärchen    S.   72.       Histoire    litt,    de    la 

France  30,  9'.). 

3)  Der  Eingangsvers  'In  Hoch-Burgundt  ein  ritter  säße'  stimmt  übereiu  mit  H.  Sachsens 
Meisterliede  vom  strengen  Urteil  des  Herzogs  von  Burgund  (1547.  H.  Sachs  ed.  Goedeke 
1,  241;  vgl.  Bolte  u.  Breslauer,  Acht  Lieder  aus  der  Reformationszeit,  Festschrift  für 
R.  v.  Liliencron  1910  Nr.  5). 

4)  Histoire  litt,  de  la  France  26,  303  'Florent  et  Octavien).  Auch  in  andern  fran- 
zösischen Epen  kommt  der  Name  Florent  vor  (Langlois,  Noms  propres  compris  dans  les 
chansons  de  geste  1904  p.  221). 

5)  H.  v.  Laber,  Jagd  ed  Stejskal  18S0.  Lassberg,  Liedersaal  2,  293.  Zs.  f.  d.  Alt. 
24,  254.  Keller,  Fastnachtspiele  3,  1392.  Ad.  Blätter  1,  12,s.  Busse,  Augustin  v.  Hamer- 
steten  (Diss.  Marl-urg  1902).  Erk-Böhme,  LWerhort  3,  295  Nr.  1434.  1445.  Zs.  f.  d. 
Phil.  40,  417  Nr.  42.  J.  v.  d  Heyden,  Speculum  Cornelianum  1618  Nr.  32:  ein  Jäger 
mit  den'  Hunden  Lieb,  Treu  und  Stettigkeit  folgt  einer  Hindin,  deren  Oberkörper  der  einer 
Jungfrau  ist.  Doch  erscheint  auch,  mit  Anlehnung  an  Ovids  Aktäonfabel,  der  Liebhaber 
als  der  von  der  Jungfrau  gehetzte  Hirsch:  Kopp,  Bremberger-Lieder  1908  S.  27.  Ditfurth, 
Volks-  und  Gesellschaftslieder  1872  S.  3. 

C,i  Ich  gebe  hier  nur  den  Auszug  eines  längeren  Aufsatzes,  da  derselbe  Stoff,  wie 
ich  eleu  höre,  im  4.  Lande  von  I  •ähnhardts  Natursagen  eingehender  behandelt  und  dort 
auch  die  Meisterlieder  B  und  E  mitgeteilt  werden  sollen. 


Kleine  Mitteilungen.  165 

grössere  Verbreitung  jedoch  erlangte  die  Erzählung  von  dem  durch  die  Fahr- 
lässigkeit der  Katzen  verlorenen  Privileg  der  Hunde,  die  uns  bis  1614  in  Deutsch- 
land nicht  weniger  als  elfmal  begegnet: 

A.  Bildergedicht  des  Nürnberger  Briefmalers  Albrecht  Glockendon  (tätig  1531  bis 
L543)  =  Montanus,  Schwankbücher  1899  S.  487.  —  B.  Meisterlied  des  Nürnberger  Bechen- 
meisters  Peter  Probst  in  der  Rorweis  Pfaltzen,  1544  14.  März  (Dresden  Hs.  M  191, 
Bl.  175a).  —  C.  Meisterlied  von  Hans  Sachs,  1547  1.  Mai  =  H.  Sachs,  Fabeln  und 
Schwanke  ed.  Goetze  u.  Drescher  4,  210  Nr.  374  (Zu  den  im  H.  Sachs  ed.  Keller-Goetze 
25,  243  Nr.  2296  verzeichneten  Handschriften  kommt  noch  Dresden  M  9.  S.  1214).  — 
1).  Spruchgedicht  von  Hans  Sachs,  1558  20.  April  =  H.  Sachs,  Fabeln  1,  591  Nr.  200.  — 
E.  Meisterlied  in  der  Leben  weis  Peter  Fleischers,  15G0  8.  Januar  (Dresden  M  207,  Bl.  31b. 
rnterzcich.net  H.  S.,  aber  nicht  von  Hans  Sachs  verfasst).  —  F.  Anonymes  Meisterlied 
in  der  Briefweis  Regenbogen*  v.  J.  1592  =  Montanus  1899  S.  492.  —  G.  Meisterlied  des 
Nadlers  Peter  Heiberger  zu  Steier  1614  30.  Januar  =  unten  S.  168.  —  H.  Montanus, 
Wegkürzer  1557  Nr.  14  =  1899  S.  35.  —  I.  Hulsbusch,  Sylva  sermonum  iueundissi- 
morum  1568  p.  168  =  Montanus  1899  S.  486.  —  K.  YVegekörter  1592  Nr.  2;  s.  Jahrbuch  f. 
nd.  Sprachforschung  20,  133.  —  L.  Eyring,  Copia  proverbiorum  :'»,  547  Nr.  237  (1604) 
=  unten  S.  169. 

Unter  diesen  elf  Fassungen  gehören  enger  zusammen:  1.  die  fast  sämtlich  in 
Nürnberg  entstandenen  Gedichte  A — G,  2.  die  Prosafabel  des  Montanus  nebst  ihrer 
lateinischen  und  niederdeutschen  Übersetzung  H — K,  3.  Eyrings  Gedicht.  Die 
Fassungen  der  ersten  Gruppe  sind  direkt  (B  E  F)  oder  indirekt  (C  D  G)  aus  dem 
um  1535  erschienenen  Bilderbogen  Glockendons  (A)  geflossen,  den  Fischart  noch  1573 
im  Epilog  zur  Flöhhaz  anführt: 

Wer  sieht  nicht,  was  für  seltzam  streit 
Vnser  brieffmaler  malen  heut, 
Da  sie  führen  zu  feld  die  katzen 
Wider  die  hund,  mäuß  vnd  die  ratzen? 

Danach  hatten  die  Hunde  vom  Vater  Noah  das  Anrecht  auf  die  Eingeweide 
der  geschlachteten  Ochsen  und  Schweine  empfangen.  Einst  baten  sie  die  Katzen, 
die  zur  Fastnacht  bei  ihnen  zu  Gaste  waren,  die  wertvolle  Urkunde  für  sie  auf- 
zubewahren. Die  Katzen  bargen  sie  in  einem  Mäuseloch;  doch  als  die  Hunde  ein 
Jahr  darauf  das  Blatt  begehrten,  da  war  es  von  den  Mäusen  zernagt.  Darum 
wurden  die  Hunde  den  Katzen  feind,  und  die  Katzen  den  Mäusen.  Zwar  ver- 
suchten die  Hunde  ihr  Privileg  erneuern  zu  lassen,  aber  ihr  Abgesandter  kehrte 
nicht  aus  der  Fremde  wieder;  seitdem  beriechen  die  Hunde  jeden  fremden  Genossen 
und  fragen  ihn,  ob  er  nicht  die  Urkunde  bringe. 

Die  Fassungen  B — G  behalten  den  Kern  dieser  Erzählung  bei,  nach  welchem 
die  Urkunde  den  Katzen  anvertraut,  aber  von  den  Mäusen  zerfressen  wird  und  so 
ein  Krieg  zwischen  den  Hunden  und  Katzen  einerseits  und  zwischen  den  Katzen 
und  Mäusen  anderseits  anhebt,  aber  die  Einleitung  wird  geändert.  Noahs  Name 
erscheint  nur  noch  in  F;  E  redet  nur  von  einer  alten  Verpflichtung  der  Metzger, 
zur  Fastnacht  den  Hunden  ein  Mahl  zu  geben;  Probst  (B)  leitet  dies  Recht  aus 
einem  selbstherrlichen  Beschluss  der  Hunde  ab:  EL  Sachs  (C  D  G)  aber  motiviert 
besser,  bei  ihm  verleiht  der  Papst  den  Hunden  die  Freiheit,  Freitags  Fleisch  zu 
essen,  weil  sie  für  die  Pfaffen  Wildpret  fangen.  Ebenso  zeigt  der  Schluss  Ab- 
weichungen. In  F  geht  die  Gesandtschaft,  welche  ein  neues  Privileg  erbitten  soll, 
zum  grossen  Chan  ins  Cathaierland,  d.  h.  nach  China  (vgl.  Tabarin),  in  E  fehlt 
der  ganze  Schlussteil,  Probst  (B)  vergisst  die  Absendung  der  Boten  zu  erwähnen, 
während    er    von    ihrer  erwarteten   Rückkehr  redet:    nur    H.  Sachs  lässt    die  Ab- 


166  Bolte: 

gesandten  folgerichtig-  zum  Papste  wallfahrten  und  in  Italien,  wo  sie  sicn  am 
süssen  "Wein  berauschen,  umkommen. 

Dürfen  wir  nun  in  der  Fabel  eine,  eigene  Erfindung  Glockendons  sehen,  oder 
fand  er  sie  bereits  in  der  Volksüberlieferung  vor'?  Gewiss  ist,  dass  er  sich  bemüht 
hat,  ihr  durch  Einflechtung  von  Nürnberger  Örtlichkeiten  und  Personennamen  ein 
Lokalkolorit  zu  verleihen,  worin  ihn  Probst  nachahmt,  wenn  er  die  Katze,  welche 
das  Pergament  zur  Aufbewahrung  übernimmt,  den  Herrn  von  Katzwang  (nach 
einem  Orte  bei  Schwabach  an  der  Regnitz)  nennt.  Ob  die  1557  und  1604  ge- 
druckten Versionen  des  Montanus  und  Eyring  auf  einen  von  Glockendon  un- 
abhängigen Volksschwank  zurückgehen,  ist  nicht  ohne  weiteres  zu  entscheiden. 
Es  könnte  auf  ungenauer  Erinnerung  beruhen,  wenn  bei  Montanus  der  Hauptteil, 
die  Zerstörung  des  Dokuments  durch  die  Mäuse,,  fehlt:  die  Hunde  verlieren  das 
von  einem  fernen  Könige  erteilte  Privileg,  als  beim  Durchschwimmen  eines 
Stromes  der  eine  Abgesandte  es  unter  seinen  Schwanz  nimmt.  Eyring  dagegen 
berichtet  nicht  von  einem  Privileg,  sondern  von  einem  Reichstagsbeschluss  sämt- 
licher Tiere.  Als  der  darin  verkündete  Landfriede  durch  einen  mutwilligen  Huml 
gebrochen  wird,  sucht  man  nach  der  den  Katzen  übergebenen  Urkunde  und  findet 
sie  von  Mäusen  zernagt;  da  brechen  die  alten  Fehden  zwischen  Hunden  und  Katzer. 
und  zwischen  Katzen  und  Mäusen  wieder  aus,  und  endlich  wollen  die  Mäuse  den 
Katzen  eine  Schelle  anhängen1).  Auch  der  von  Hans  Weiditz  um  1530  ge- 
zeichnete Strassburger  Bilderbogen  von  der  Belagerung  der  Katzen  durch  die 
Mäuse,  dessen  Text  leider  verloren  ist2),  könnte  ebensogut  durch  Glockendon 
angeregt  als  von  ihm  benutzt  worden  sein. 

Aber  stutzig  werden  wir  doch,  wenn  auch  ausserhalb  Deutschlands  dieselbe 
Geschichte  erzählt  wird.  1547  berichtet  der  Schulmeister  Guillaume  Haudent  zu 
Rouen  in  einer  gereimten  Fabel  'De  la  guerre  des  chiens,  des  chatz  et  des  souris'  :  . 
wie  einst  die  Hunde,  um  nicht  von  ihren  Herren  fortgejagt  zu  werden,  mit  diesen 
einen  Vertrag  schlössen,  in  welchem  ihre  Pflichten  festgesetzt  wurden.  Diese 
Urkunde  gaben  sie  den  Katzen  zur  Aufbewahrung,  entdeckten  aber  bald,  dass  die 
Mäuse  das  Dokument  zerfressen  hatten,  und  wurden  nun  den  Katzen  feind,  die 
ihrerseits  die  Mäuse  verfolgten.  Sollte  Haudent  zu  dieser  Fabel,  für  die  weder 
Robert4)  noch  Lormier  und  Regnier  ein  älteres  Vorbild  ausfindig  zu  machen  ver- 
mochten, erst  durch  den  Nürnberger  Bilderbogen  oder  eine  französische  Nach- 
bildung desselben  angeregt  worden  sein?  Die  bei  Haudent  fehlende  Schlusspartie 
taucht  1622  bei  Tabarin  (Oeuvres  ed.  Aventin  1858  1,  35)  auf.  der  wie  Montanus 
nur  erklären  will,    „pourquoy  les  chiens,    s'entre  saluant.    se  flairent   au  derriere 


1)  Vgl.  über  diesen  letzten  Zug  Oesterley  zu  Pauli.  Schimpf  und  Ernst  c.  :iijl  und 
zu  Kirchhof,  Wendmimut  7,  105;  H.  Sachs,  Fabeln  4,  30  Nr.  259  und  S.  VI:  Chauvin. 
Bibliographie  arabe  2,  109;  Wesselski,  Arlottos  Schwanke  2,  226  (1910). 

2)  Heitz  (Eine  Abbildung  der  Hohkönigsburg  aus  dem  16.  Jahrhundert.  1907)  hat 
den  alten  Holzstock  abgedruckt.  Ferner  Diederichs,  Deutsches  Leben  der  Vergangenheit 
L908  1,  Nr.  839.  Yan.Heurck  et  Boekenoogen,  Imagerie  populaire  Hamande  1910  p.  545. 
La  grande  et  merveilleuse  Bataille  d'entre  les  Chats  et  les  Rats,  Lyon  1610  (Bilderbogen 
auf  der  Pariser  Nationalbibliothek).  Ayrer,  Dramen  ed.  Keller  I.  2367,  35:  "Zu  mahlen 
die  meuß  mit  den  ratzen,  Die  ein  krieg  führen  mit  den  katzen".     Oben   17.  425 — 127. 

3)  Haudent,  366  apologucs  d'Esope  traduicts  en  rithme  franQoise,  Rouen  1547  liv.  ■_', 
nr.  61  =  Neudruck  von  Ch.  Lormier,  Rouen  1877;  unten  S.  169  wiederholt.  —  Von  J.  de 
La  Fontaine  (Eables  12,  S  'La  «[ucrelle  des  chiens  et  des  chats  et  celle  des  chats  et 
des  souris'  =  Oeuvres  ed.  H.  Regnier  •".,  225.  1885)  1694  ohne  sonderliches  Geschick  erneuert. 

1  Robert,  Fables  inedites  des  12.,  13.  et  11.  siecles  L825  1,  C1.XXX1X.  Haudent 
ed.  Lormier  p.  XXIV. 


Kleine  Mitteilungen.  167 

Tun  de  l'autre":  um  sich  unabhängig  zu  machen,  wollen  die  Hunde  einen  Handel 
mit  indischen  Gewürzen  anfangen;  allein  ihr  Abgesandter  wird  bei  einem  Sturm 
über  Bord  geworfen. 

Die  Entscheidung  über  das  Alter  unsrer  Fabel  gewährt  uns  endlich  ein 
."•echisches  Werk  des  15.  Jahrhunderts,  der  1467  von  dem  mährischen  Landes- 
hauptmann Ctibor  Tovacovsky  von  Cimburk  abgefasste  und  dem  Könige  Georg 
Podiebrad  gewidmete  'Streit  der  Wahrheit  und  der  Lüge'  (gedruckt  15o9,  Bl.  34a), 
wo  dem  Geize  folgende  Fabel  in  den  Mund  gelegt  wird1): 

Die  Bauern,  die  mit  den  Wölfen  einen  gütlichen  Vergleich  schliessen  wollten,  be- 
sprachen  mit  ihnen  die  beiderseitigen  Bedingungen.  Zuletzt  bestimmten  sie,  dass  ihre 
Helfer,  die  Hunde,  alles  verzehren  dürften,  was  vom  Festmahle  der  Wölfe  übrig  bliebe. 
Und  als  sie  alle  Punkte  verabredet  hatten,  setzten  sie  einen  schriftlichen  Vertrag  auf  und 
gelobten  ihn  zu  halten.  Und  sie  bedachten,  wem  sie  diesen  Vertrag  anvertrauen  könnten 
und  sollten:  nachdem  sie  viele  treue  Freunde  gesucht  hatten,  konnten  sie  keinen  so 
trefflichen  finden  als  die  Katze;  denn  diese  sieht  bei  Tag  und  bei  Nacht,  Ihr  vertrauten 
sie  nun  den  Schatz  an,  damit  sie  ihn  treu  bewahre  und  jeder  Partei  übergebe,  falls  es 
nottäte.  Als  die  Katze  die  Urkunde  übernahm,  versprach  sie,  diese  vor  Schaden  zu 
bewahren  und  zu  behüten,  und  legte  sie  in  einen  geheimen  Winkel,  wohin  die  Leute  nicht 
kamen,  und  hoffte,  dass  sie  nun  sicher  sei.  Aber  die  naseweise  Maus,  die  alles  durch- 
stöberte und  in  allen  Winkeln  herumschnupperte,  kam  dahin,  erblickte  das  Schriftstück 
in  einer  Ritze,  und  wie  sie  es  lesen  wollte,  da  waren  die  Blätter  mit  dem  Siegel  zu- 
sammeugeklebt;  weil  sie  nun  die  Schrift  nicht  sehen  konnte,  begann  sie  zu  nagen,  um 
hinein  zu  gelangen  und  den  Vertrag  durchzulesen.  Lange  Zeit  danach  wurden  die 
Bauern  [von  den  Wölfen]  geschädigt.  Die  Hunde  stellten  sich  krank  und  wollten  ihnen 
nicht  gegen  die  Wölfe  helfen.  Als  die  Bauern  das  merkten,  jagten  sie  die  Hunde  fort 
und  gaben  ihnen  nicht  zu  fressen.  Da  schlugen  die  hungrigen  Hunde  auf  die  Wölfe  los 
und  vertrieben  sie.  Als  die  Wölfe  sich  wieder  sammelten,  sprachen  sie:  „Seht,  ihrer  sind 
viele,  aber  von  verschiedener  Farbe,  die  einen  rot,  die  andern  weiss,  die  dritten  schwarz 
und  die  vierten  bunt,  und  wir  sind  alle  grau.  Darum  wollen  wir  sie  im  Vertrauen  auf 
unser  Recht  und  auf  Gottes  Beistand  angreifen.'-  Und  sie  erwürgten  viele  Hunde.  Als 
die  Hunde  geschlagen  wurden  und  viele  Verluste  hatten,  bereuten  sie  ihre  Tat,  schickten 
zu  den  Wölfen  und  mahnten  sie  au  ihren  Vertrag.  Die  Wölfe  verlangten,  dass  der 
Vertrag  vorgelegt  und  verlesen  werde.  Da  baten  die  Hunde  die  Katze,  ihn  herbeizubringen. 
Weil  aber  die  Katze  nicht  wusste,  was  die  Maus  getan,  brachte  sie  die  verdorbenen  und  geradezu 
ausgerissenen  Blätter.  Als  die  Wölfe  dies  sahen,  rotteten  sie  sich  zusammen  und  zerrissen 
die  Hunde,  so  dass  nur  wenige  übrig  blieben,  die  nach  Hause  flohen.  Aus  diesem  Grunde 
ist  der  Hund  der  Katze  feind,  und  die  Katze  der  Maus;  und  die  arme  Maus  kriecht  aus 
Furcht  vor  der  Katze  in  die  Winkel  und  kritzelt,  kritzelt,  als  ob  sie  die  Blätter  wieder 
aufschreiben  wollte. 

Wrir  sehen  somit,  dass  das  von  Glockendon  um  1535  bearbeitete  Märchen  in 
kürzerer  Fassung,  d.  h.  ohne  den  das  Beriechen  der  Hunde  motivierenden  Schluss, 
bereits  im  15.  Jahrhundert  in  Mähren  bekannt  war.  Die  Einleitung  enthält  in  der 
Schlacht  zwischen  Hunden  und  Wölfen  einen  eigentümlichen  Zug  und  in  der 
Drohung  der  Bauern,  die  Hunde  wegzujagen,  eine  auffällige  Gemeinsamkeit  mit 
Haudent.  Dass  auch  Glockendon  die  verschiedenen  P'arben  der  Hunde  (schwarz, 
grau,  rot,  gescheckelt,  weiss)  erwähnt,  denen  Tovacovsky    eine  tiefere  Bedeutung 


1)  Tobolka,  Oasopis  vlasteneck6ho  muzejniho  spolku  v  Olomouci  [Zeitschrift  der 
vaterländischen  Museumsgesellschaft  in  Olmütz]  11,  li'.t  (1894).  Von  Herrn  Professor 
G.  Polivka,  der  schon  in  der  Zs.  für  österreichische  Volkskunde  1,  358  auf  diesen  Artikel 
hingewiesen  hatte,  für  mich  freundlich  übersetzt. 


168 


Bolte: 


beilegt,  mag  ein  Zufall  sein.  Da  eine  ältere  schriftliche  Quelle  des  Märchens  sich 
nicht  ermitteln  Hess,  wird  man  annehmen  müssen,  dass  sowohl  Tovacovsky  als 
Glockendon  und  Haudent  aus  mündlicher  Volksüberlieferung  schöpften. 

Weitere  Nachweise  stellen  in  Montanus  Schwankbüchern  S.  56Sf.  Ich  füge  hinzu: 
Zs.  f.  dtsch.  Mythologie  4,  484  Blätter  f.  pommersche  Volkskunde  S,  169.  NiedersacliMii 
14,  57.  Wossidlo,  Aus  dem  Lande  F.  .Reuters  1910  S.  159.  Zs.  f.  rheinische  Volkskunde 
6,  23.  Wette,  Spökcnkieker  1907  S.  38  (das  verlorene  Urteil).  Revue  des  trad.  pop. 
14,  :;7'.».  Wallonia  3,  115.  4,  77.  .">,  11.  Srbillot,  Folklore  de  France  3,  74f.  Sebillot, 
Joyeuses  histoires  de  Bretagne  1910  p.  211.  213.  Athaide  Oliveira,  Contos  trad.  do 
Algarve  1,  66  Nr.  25  (1900).  Flachs,  Rumänische  Schnurren  (Vossische  Zeitung  1902, 
17.  Juni).  B.  M.  Fulda,  Mährische  Märchen  1854  S.  597.  St.  Ciszewski,  Lud  volniczo- 
görniczy  S.  187.  Polivka,  Archiv  f.  slav.  Philologie  21,  264.  Jurkschat,  Litauisch' 
Märchen  1, 52  Nr.  17  (1898).  Auch  Lademaun,  Archiv  deutscher  Kolonialsprachen  12, 117  Nr.  11. 

2  a.    Peter  Heiberger,  Die  hund  mit  dem  brieff. 

In  dem  rosenthon  H.   Sachsen. 


Einmal  thett  ich  ein  altten  fragen, 
Von  wau  die  l'eüudtschafft  vor  den  dagen 
Herkem  zwüschen  katzen  vnd  hund, 
Zwischen  katzen  vnd  meisen  rund, 

5    Im  haß  vnd  neüd  so  stark  thun  leben. 
Er  thett  mir  bald  die  antwortt  geben: 
'Es  geschach  nun  vor  langen  jaren, 
Das  die  hund  al  beisamen  waren 
Vnd  schickten  ein  botschafft  gen  Rom, 

10   Das  in  der  papst  freyheütt  mit  nam 
Geb,  am  freydag  des  fleüsch  zu  essen, 
Weil  sie  des  wülprett  so  vermesen 

Alda  den  pfaffen  aller  düng 
Mitt  groser  mihe  in  dem  holtz  füng. 

15    Der  papst  gab  in  sigel  vnd  brieffe, 
Frölich  die  pottschafft  heimwertt  lieffe. 
Zusamen  kamen  die  hund  hie, 
Den  brieff  tbetten  verlesen  sie, 
Thett [en]  bald  rattschlagen  vnd  sorgen, 

20    Wie  der  brieff  blib  gwis  vnd  verborgen. 


Nach  disem  brieff  so  gar  vermesen, 
Da  hatten  in  die  meüs  gefresen. 

Alsbald  hueb  sich  jamer  vnd  nott, 
Die  hund  bisen  die  katzen  dott. 
Die  feündschafft  hatt  sich  angefangen  35 

Zwischen  den  hund  da  mitt  verlangen 
Vnd  auch  zwischen  den  katzen  schlecht, 
Ein  theil  den  andern  hartt  durch  echt. 
Weil  die  katzen  haben  verloren 
Den  brieff,  das  rhutt  den  hunden  zoren.       10 

3. 

Desgleich   sind   worden   [feind]   die 

katzen 
Den  meisen  vnd  darzu  den  ratzen, 
Das  sie  den  brieff  haben  zernagt, 
In  als  dottfeinden  abgesagt 
Vnd  würgen  sie  beid  dag  vnd  nachte.  45 

Nachdem  die  hund  sich  bald  bedachte 

Vnd  schicken  gehn  Rom  in  die  statt 
Wider  ein  bottschai'ft,  zwen  hund  dratte 
Schrüfftlich  zu  brüugen  ein  vrkund, 
Das  sie  möchten  fleisch  essen,  vnd  so 

Da  die  zwen  hund  nit  kamen  wider, 
Sund  auff  der  stras  gefallen  nider, 

Wo  ein  hund  geht  für  andern  noch, 
Schmeckt  er  im  hünden  iir  das  loch, 
Ob  er  die  rechten  brieff  nit  brüngen,  55 

Wie  man  dergleich  siht  aler  düngen. 
Gib|tJ  er  nüt  dan  gutten  bescheid, 
So  beisen  sie  einander  beid.' 
Die  antwortt  war  mir  von  dem  altten, 
Das  hab  ich  nitt  wolen  verhaltten.  go 


Sie  betten  khein  druhen  noch  kaltter. 

In  verging  [!]  herfür  ein  vraltter 

Hund,  der  sprach:    'Ich  ratt  entlich,  das 

Man  vnser  freündt  die  katzen  las 
25    Den  brieff  zu  dreüer  band  bewaren: 

Sund  darzu  stül  vnd  wol  erfaren. 

Sie  gaben  den  brieff  ahn  verdrisen, 

Die  katzen  namen  in  vnd  stiesen 

Ynder  das  dach  mitt  gantzem  fleis. 
30    Die  katzen  schautten  gleicher  weis 

Anno  salutis  verkhert  in  den  thon  den  2:*>  dag  november  vnd  geschriben  den  30  dag 
im  1614  jar  P.  H.  (d.  i.  Peter  Heiberger  zu  Steicr). 

Aus  (lein  Münchner  Cod.  germ.  5453,  Bl.  16"2a  Nr.  145  (eine  Nachahmung  von  Hans 
Sachsens  Meisterlied  in  der  Hundswcis  Hans  Vogels  v.  J.  1547).  Vgl.  Keinz,  Sitzungs- 
berichte der  Münchner  Akademie  L893,  160. 


Kleine  Mitteilungen. 


169 


2b.    Eucharius  Eyring,  Wer  wil  der  Katzen  die  Schelln  anhencken? 
(E.  Eyring,  Copia  proverbiorum  3,  547—550   Nr.  237.     Eisleben  L604.) 


.  .  .  Dann  als  etwan  vor  langer  zeit 
Zwischen  den  Thiern  gewest  ein  streit, 
Der  bey  jhn  nemen  wolt  kein  end, 

20    Sind  sie  zusammn  kommen  behend, 
Vom  Handel  rahtschlagten  gemein. 
Wie  jhm  hieriun  zu  tlnm  möcht  sein. 
Schrieben  ein  Reichßtag  aus  so  bald 
Aus  Königlichem  Löwen  gwalt, 

25    Auff  welchem  Tag  sie  schlössen  das. 
Hinzulegen  alln  Neid  vnd  Hass, 
Kein  Thier  dem  andern  Leids  zu  thon, 
Welchs  sie  allsampt  genommen  an, 
Das  mit  Brieffen  so  bald  lirmirt, 

30    Mit  des  Affen  Pitschir  pitschirt. 
Als  solchs  der  Esel  thet  verlesen, 
Ist  es  jhr  aller  Meinung  gwesen, 
Den  Hunden  die  Brieff  vbergeben. 
Dieselbigen  fort  auffzuheben, 

35    Denen  man  sie  nicht  leicht  kunt  stelen 
Vor  jhrem  steten  billu  vnd  bellen. 
Die  Hund  die  Brieff  genommen  han, 
Wolfen  doch  mit  Gehülffen  han. 
Wehlten  zu  jhn  die  bösen  Katzen, 

40    Die  vorn  vnd  hinten  vbel  kratzen. 
Dieselben  daucht  nun  für  gut  das, 
Man  köndt  sie  nicht  verwahren  baß, 
Man  thets  denn  in  ein  Meußloch  stecken 
Etwa  in  einer  Unstern  Ecken, 

15    Doselbsten  blieben  sie  verborgen, 
Dürfften  für  sie  so  sehr  nit  sorgen. 
Als  aber  etliche  Jahr  vergieng, 
Ein  junger  Huud  ein  Hasen  lieng, 
Der  nichts  vmb  diese  Freyheit  wisf, 

50    Auff  jhrm  Reichßtag  nicht  gwesen  ist. 

Verbesserte  Druckfehler:    V.  2G  allen 


Der  Haß  berufft  sich  auff  die  Brieff 

Vnd  bald  zun  alten  Hunden  lieff, 

Die  fordern  thet  zu  seinem  Heil. 

Die  Hund  lieffn  zun  Katzen  in  eil. 

Die  Katzen  zum  Meußloch  dorthin  55 

Vnd  funden  jhre  Brieff  dorinn 

Auil's  kleinst  zerbissen  vnd  zerschrotten, 

Stunden  in  engsten  vnd  groß  Nhöten. 

Dadurch  die  alt  Feindschafft  vorzeit 

Widerumb  gentzlich  wurd  vernewt,  co 

All  Thier  wurden  den  Hunden  feind. 

Die  Hund  den  Katzen  nicht  hold  seind, 

Weil  sie  die  Brieff  nicht  wol  verwart, 

l'arnmb  sie  die  verfolgen  hart. 

Den  Meuseu  die  Katzen  entgegen,  gö 

Von  den  sich  keine  darff  geregen, 

Dieweil  sie  jhn  die  Brieff  zerbissen: 

Dasselb  thut  sie  so  sehr  verdriessen, 

Das  sie  alls  würgen  ohn  genad. 

Derhalben  wurdens  auch  zu  Rath,  70 

Wie  sies  fort  wolten  fangen  an, 

Das  sie  jhrm  Feind  möchten  entgahn. 

Vnd  theten  einen  List  erdencken, 

Wolten  alln  Katzen  Schelln  auhencken, 

Das  sie  die  allzeit  hörten  klingen  75 

Vnd  jhnen  allwegen  entgiengen. 

Darunt  eine  kluge  Mauß  do  war, 

Die  sprach  zum  andern  offenbar: 

'Wer  wil  sichs  aber  vnterstahn, 

Die  Schelln  den  Katzen  hencken  an  ?  so 

Darzu  sind  wir  Meußlein  zu  schlecht. 

Das  wer  ein  Spiel  den  Katzen  recht; 

Eh  man  einer  ein  Schelln  anhieug, 

Weren  wir  all  vmbbracht  gering. 

—  57  kleinest  —  s:>  Ehe  —  84  Wem. 


2c.   Guillaume  Haudent,  De  la  guerre  des  chiens,  des  chatz  et  des  souris. 

(G.  Haudent,  366  apologues  d'Esope  1.  2,  nr.  61.     Rouen  1547.) 

Les  chiens  voyant  que  leurs  maistres  vouloient 
Les  chasser  hors,  vindrent   a  leur  promettre 
De  les  seruir  trop  mieulx  qu'ilz  ne  souloient 
Et  de  ce  faire,  ilz  en  passerent  lettre 
5       Laijuelle  aux  chatz  fut  baillee,  affin  destre 
Par  eul\  gardee  en  lieu  seur  et  escars, 
Mais  sur  des  ayz  la  sont  venue  a  mettre 
Ou  les  souris  en  feirent  mille  partz. 

Or  peu  aprez  il  aduint  <[uc  les  chiens 
10      Peurent  aux  cliatz   leurs  lettres  demander 
Ne  voulant  plus  estre  obligey  en  riens, 
Sur  quoy  les  chatz  vindrent  a   leur  mander 
Que  lc  souris  en  lieu   de  viander 


170 


Bolte: 


En  anltre  chose,  elz  estoient  empeschees 
15      A  les  ronger,  menger  et  friander 

Tant  <[ue  du  tout  les  auoient  despechees. 
Incontinent   «pie   les  chiens   entendirent 

Iceulx  propos  deslors  guerre  mortelle 

Contre  les  cliatz  moiiuer  Hz  pretendirent 
20       Mesmes  les  cliatz,  pouv  cause   et  raison  teile 

Contre  souris  meurent  guerre,  laquelle 

On  voit  encor  iusqu'a  ce  iour  durer 

Voyre  si  aspre  importune  et  cruelle 

Qu'a  chaseun   coup  leur  i'ont  mort  endurer. 
25  Par  la  fable  on  doibt  retenir 

Que  quand  plusieurs  hayne  ou  raneune 

Tiennent  sus  auleun   ou  auleune 

Sont  veuz   a  iamais  la  teuir. 

3.    Ein  lied  von  einem  eeüchen  volck. 

In   des   Schillers  thon. 

[Ein  gut  gezeichneter  Holzschnitt.  8x6  cm:    ein  Jüngling  und  eine  Jungfrau,    einander 

die  Hand  reichend.] 


Ein  eelich  volck  eins  mals  ich  kant, 
Kain  grossere  trew  ich  nie  entpfandt 
Dann  von  den  zwayen  leüten. 

Sie  waren  jr  sach  gantz  vber  ein, 
5    Ir  kains  dem  andern  thet  kain  pein, 
Das  wil  ich  euch  bedeuten. 

Es  wer  zu  tisch  oder  zu  beth, 
Oder  was  sie  sunst  pflagen, 
Ir  kains  dem  andern  nbel  redt, 
10    .Man  dorfft  nit  weyter  fragen. 

Es  wer  mit  trinckenn,  schlaffenn  oder 

essen, 
Ir  kains  da  kundt  vergessenn 
Des  andern  spat  oder  frü. 
Hins  mals  kam  es  darzü: 


15         Der  gut   mau   in   der  kranckhayi 

starb ; 
Do  nicht  das  weyb  vor  layd   verdarb, 
Das  war  ein  grosses  wunder. 

Sy  wunt  jr  hendt  vn  raufft  jr  bar, 
Drung  sich  auch  stettigs  vmb  die  par, 
20   Zerriß  auch  all  jr  pluuder. 

Sy  het  ein  viertayl  halbe  meyl 
Zu  jrer  rechten  pfarre. 
Das  volck  bestellet  wardt  mit  eyl, 
Heften  nit  lang  zu  harre. 
25   Mau  wolt  den  Leyb  hyn  zu  dem  grab 

beleyten, 
Es  war  Kain  lenger  beyten, 
Man  trug  die  par  hindan, 
Vil  volcks  darmil  wurdt  gan. 


Sy  kamen  zu  eim  bäum  gar  drat, 
Da  klagt  das  weyb  auch  all  jr  uot  30 

Vnnd  thet  auch  gar  seer  schreye: 

'Ach  lieben  leüt,  tragt  jn  fürbaß! 
Do  es  mein  erster  man  todt  was, 
Do  trugens  jn  herbeye. 

Do  sie  kamen  vnter  den  bäum,  35 

Setzten  da  die  par  nider, 
Er  erwacht  sam  auß  einem  träum 
Vnnd  kam  zum  leben  wider. 
Darumb    so    wollet   rwen    hie    mit 

nichte! 
Hcynt  het  ich  ein  gesiebt.'.  40 

Wie  er  zu  hymel  wer. 
Beraubt  jn  nit  seiner  eer! 

4. 

'Last  sein  seel  darinn!     Ir  ist  wol. 
Ob  ich  auff  erdt  bleyb  kuniers  vol 
Vnd  mich  muß  lenger  leyden.  45 

Vnd  wen  er  wider  lebendig  wür, 
Wer  west,  wer  jm  des  todes  pur 
Zum  andern  mal  thet  schneyden! 

Trübsal  vn  schmertz  wil  ich  allein 
On  jn  lieber  gedulden. 
Ich    schenck    euch    doch    ein    faß   mit 

weiu, 
Wenn  jr  meim  wort  werdt  hulden, 
Wolt  jn   on   rw  biß   auff   den  kirchoff 

tragen.' 
Sie  wurden  eyln  vnd  jagen, 
Biß  sie  jn  brachten  ins  grab.  -r>"> 

Den  wein  s  yn  geren  gab. 


Kleine  Mitteilungen. 


171 


60 


Ee  sy  haym  hyn  kam  wider  gar, 
Sy  schlug  jr  bald  ein  andern  dar, 
Het  hochzeyt  in  acht  tagen 

Darauff,  das  sy  jr  layds  vergeß, 
Das  sy  sich  auch  doch  nit  verseß 
Vnd  noch  lenger  müst  klagen.  — 

Das  beyspill  merckt,  ir  lieben  geseln, 


Wol  von  der  weyber  liste! 

Sie  waynen  vnd  klagen,  wenn  sie  wuln. 

Wen  jnn  schon  nit  vil  priste. 

Sie  haben  kurtzen  mut  vn  lange  klayder. 

Das  klagt  vil  mancher  layder, 

Das  noch  teglich  geschieht, 

Darmit  bschleyß  ich  das  dicht. 


60 


70 


Das  Lied  steht  auf  einem  um  1520  gedruckten  Folioblatte,  von  welchem  die 
Berliner  Kgl.  Bibliothek  zwei  Exemplare  (Yd  7801,  2  und  Yd  7803,  28)  besitzt. 
Es  ist  eine  leichte  Umformung  eines  Po lzschen  Meistergesanges  in  der  Plamweys, 
den  A.  L.  Mayer  (Die  Meisterlieder  des  Hans  Polz  1908  S.  86)  aus  dem  Münchner 
Autographon  mitgeteilt  hat.  Die  beiden  letzten  Zeilen  lauten  dort:  „Es  sint  nit 
newe  mer,  |  Spricht  Hanß  F0IC5  barwirer."  —  Über  das  ICH  von  Benedikt  von  Watt 
verfasste  Meisterlied  gleichen  Inhalts  und  spätere  Schwanke,  in  denen  nicht  der 
Mann  bestattet  wird,  sondern  die  Frau,  vgl.  oben  20,  ;!54c  und  E.  T.  Kristensen, 
Danske  Skjsemtesagn  1,  127  (1900). 


4.    Lorenz  Wessel,    Der 

In   der  meyenwe 

1. 
Ein  armer  wandrer  auf  ein  zeit 

Am  Reinstram  ging  sein  strasen, 

Bey  einer  doren  hecken  fant 

Er  ein  schlafenten  hasen, 
.">    Der  sein  lang  oren  strecken  war. 

Der  wandrer  sich  zum  streich  bereit, 

Det  bey  im  selbert  sagen: 

'Disen  hasen  mit  meiner  hant 

Wil  ich  jezund  erschlagen: 
10    Das  sol  mir  feilen  vmb  kein  har. 
Dar  nach  wil  ich  mit  laufen 

Gen  Speyer  in  die  stat 

Vnd  wil  in  da  verkaufen 

Vmb  sechs  paezen  gerat. 
15    Vnd  wenn  man  mir  das  gelt  erleget  hat. 

So  nim  ich  ein  dieselbig  sum, 

Thu  auf  dem  gey  vmb  reisen 

Vnd  kauf  mir  lautter  aür  darum: 

Gar  ring  wil  ich  mich  speisen 
20    Mit  keß  vnd  brod  ein  ganezes  jar. 


wandrer   mit   dem   hasen. 

iß   Lorencz  Wesl. 

Bis  ich  zusamen  bringe 
Wol  sechzig  gulten  gut. 
Darmit  ich  mich  den  schwinge 
Aus  al  meiner  armut, 

Die  mich  ein  lauge  zeit  hart  drucken  thut.      35 
Darnach  so  kauf  ich  mir  ein  kram, 
Damit  im  laud  vmbwander, 
Bis  ich  bring  hundert  gulten  zsain, 
Stück  ein  war  vmb  die  ander 
Vnd  bring  zusam  vil  kaufmans  war.  40 


Acht  aür  ich  vmb  ein  kreiezer  kauf; 
Zu  Speyer,  darf  ich  sagen, 
Da  gelten  vier  ein  kreiezer  mir, 
Thut  dopelt  gwin  mir  dragen. 

25    Wie  halt  hab  ich  zwölf  paezen  par! 
Mit  den  selben  ich  wider  lauf 
Vnd  kauf  mir  andre  ayer, 
Die  gib  ich  wider  hin  gar  schir 
Dort  in  der  stat.  zu  Speyer. 

so    Den  handel  dreib  ich  durch  das  jar, 


Darnach  kauf  ich  mir  in  der  stat 
Ein  haus  mit  lust  erbauen, 
Nach  dem  wil  ich  bewerben  mich 
Vmb  ein  reiche  witfrawen; 
Denn  bin  ich  ein  gemachter  herr.'  r> 

Als  er  den  rath  bcschlosen  hat 
Sehr  freidenreich  er  wase, 
Schrir  ich,  warf  ein  hant  vber  sich. 
Darvon  erwacht  der  hase, 
Fuhr  auf  vnd  floh  von  dannen  ferr.  so 

Wie  halt  war  im  verschwunden 
Sein  angenumne  freudt!  — 
Acli  gott,  es  werden  funden 
Noch  vil  derselben  leiidt, 
Den  durch   lautbracht  ir  anschlag  wird       55 

zerstreüdt 
Vnd  wendet  sich  alsbalt  herum. 
Es  sol  niemant  nit  schreyen, 
Bis  er  vber  den  berge  kum. 
Das  glück  dregt  küreze  reyen, 
Es  leit  nit,  das  man  es  einsper.  G 1 


172 


Bolte,  Sattler: 


Dicht  Lorencz  Wesl,  kürschner  von  Eisen  ieezt  jin  L567  jar,  vnd  ist  mir  von  Singe 
von  Steyer  geschickt  worden. 

Aus  der  von  Georg  Hager  geschriebenen  Dresdener  Hs.  M  G,  Bl.  273b.  Das 
Lied  steht  mit  Lorentz  Wesels  Namen  auch  im  Münchner  Cod.  germ.  5453, 
Bl.  163a  nr.  146,  „geschriben  im  161-4  jar  den  2.  sondag  des  adtuents,  das  ist  der 
7.  dag  decem[ber].tt      Lesarten:    V.  2  Reinstrom   zog  5  ohren  lang  strecket 

dar  --  11  batzen  in  rad  —  i<;  ein]  dan  —  1-  den  geu      -  is  Vnd]  fehlt  —  aüer 
20  kas  —  21  aür  ich  -  -  33  dan  ich  mich  —  35  so  hart  —  36  Aisdan  —  4-  ich]  ju 
—  51  Gar  —  52  Sein  angenumne  —  53  gfunden  —  V.  50  steht  hinter  59  —  :>r  nit] 
ju  —  53  ybern  berg  —  59  dregt]  danzt  —  go  leidet  —  mans. 

•  Über  den  1529  geborenen  Kürschner  Lorenz  Wessel  von  Essen  vgl.  Goedeke, 
Grundriss2  2,  307.  313.  Keinz,  Hans  Sachs-Forschungen  1894  S.  348.  —  Zum 
Stoffe  seines  Liedes  vgl.  Waldis,  Esopus  4,  80  'Des  Betlers  Kauffmanschaft". 
Archiv  f.  siebenbürg.  Landeskunde  n.  F.  33,  619  'Der  Zigeuner  und  der  Hase'. 
Polivka,  Zs.  f.  österr.  Volkskunde  3,  377  und  Archiv  f.  slav.  Philologie  22,  307 
nr.  408.  31,  285  nr.  271.  Radioff,  Türkische  Stämme  Südsibiriens  4,  260  Nr.  11 
'Der  Hase'.  Über  die  verwandte  Fabel  vom  Einsiedler  mit  dem  Honigtopf  oder 
von  der  Milchfrau  s.  Montanus,  Schwankbücher  S.  603  f.  658. 


5.    Adam  Meyer,  Der  ianezknecht  mit  den  hünern. 
In  der  grünen  hag  weiß  Georg  Hagers. 


1. 

Ein  Ianezknecht  reiset  vber  feit, 
Er  war  drawrig,  er  het  kein  gelt. 
Ein  bauren  sah  er  vngefer 
Auf  dem  feit,  zu  dem  eilet  er, 
5    Sprach:    'Bauer,    ich    dich  freundlich 

bit, 
Du  wolst  mir  etwas  deillen  mit.' 
Der  bawer  autwort  im  beheut, 
Sprach:    'Ich  bin  selber  gar  elent, 
Auch  sol  ich  stewer  geben  schir 
10    Vnd  weiß  noch  wenig  hinder  mir. 
Auch  der  zinstherr  gelt  haben  wil, 
Vnd  es  get  schon  daher  das  zil. 

Wenn  du  mir  hüner  fingest  balt, 
Ich  wolt  dirs  zalen  der  gestalt 
15    Vnd  ein  trinckgelt  geben   darzu.' 

Der  kriegsman  sprach:    'Sey  du  zu  ru! 
Weist  du  hüener,  zeig  mir  das  an! 
Ich  kan  sie  fangen  wie  ein  man.' 


'Ich  weiß  ir  wol',  der  bauer  sagt. 

20    Der  kriegsman  sprach:  'Sey  vnverzagt! 
Zeig  mir  dein  haus,  das  ich  es  weiß, 
So  kan  ich  dir  bringen  mit  flelß, 
Was  ich  gefangen  hab  gar  rundt.' 
Der  bauer  zeigt  jms  haus  zu  stundt, 

25         Sprach:    'Mein  nachbauer  neben  mir 
Der  hat  hüner,  die  sint  frey  dir. 


Darumb  so  magstu  schauen  schon, 

Ob  du  etliche  brechtst  darvon. 

Er  hat  ir  vil,  es  schat  im  nicht.' 

Nun  höret  weiter,  was  geschieht!  30 

Der  Ianezknecht  kam  bald  vngefer 
In  des  bauren  hoff  mit  beger, 
Der  in  die  hüner  fangen  hieß. 
Er  fings  im  auf  vnd  in  sack  stieß 
Vnd  bracht  es  dem  bauren  für  war,  35 

Der  jms  mit  freüden  auszalt  par. 


Vnd  waren  doch  die  hüner  sein, 
Vnd  gab  für  eins  sechs  kreiczerlein. 
Der  hüner  waren  elf  an  spot, 
Darzu  des  göckers  kamp  war  rot.  40 

Seinem  weib  det  ers  zeigen  an, 
Wie  er  het  wolfeil  kaufen  than. 

Als  die  beürin  ir  hüner  sach, 
Schent  sie  den  man  vnd  zu  im  sprach: 
'Kenst  du  denn  vnser  hüner  nicht?  45 

Ey  du  bist  ein  loser  böswicht, 
Das  du  kaufst,  was  vor  vnser  ist." 
Sie  nain  die  gabel  zu  der  frist 

Vnd  jn  zimlich  abberen  was. 
Der  kriegsman  war  schon  auf  der  stras,       50 
Het  vmb  das  gelt  ein  guten  mut.  — 
Wer  sein  nachbaren  neiden  thut, 
Dem  kan  noch  begegnen  an  schew, 
Vnd  das  er  im  selbst  wirt  vntrew. 


Anno  1599  den  23.  december  dicht  Adam  Meyer,  ein  Schreiners  gescl  von  Breslaw. 


Kleine  Mitteilungen.  173 


'& 


Aus  G.  Hagers  Handschrift  (Dresden  M  6)  Bl.  257b.  Ebenda  Bl.  256  b  steht 
ein  von  demselben  (schreiners  gesel  vnd  drabant  zu  Anspach)  am  1.  Januar  1600 
verfasstes  Meisterlied  'Dreyer  münchen  heylikeit'  in  der  kalten  Pfmgstweiß 
G.  Hagers  (Ein  minich  war).  —  Verwandt  ist  eine  Erzählung  bei  Montanus, 
Schwankbücher  S.  327  Nr.  67,  in  der  ein  reicher  Bauer  einen  Armen  stehlen  heisst 
und  dieser  den  Getreidespeicher  des  Ratgebers  plündert. 

Berlin.  Johannes   Bolte. 


Albauesische  'Volkslieder. 

Die  Originaltexte  zu  den  folgenden  Übersetzungen  —  für  deren  Genauigkeit 
und  Richtigkeit  ich  im  allgemeinen  bürgen  kann  —  wurden  von  mir  auf  einer 
Reise  durch  Südalbanien  (Frühling  1910),  und  zwar  in  der  Gegend  von  Avlona, 
Delvino  und  Janina  gesammelt.  Nr.  1,  2,  5  und  6  sind  nach  dem  mündlichen 
Vortrag  aufgezeichnet,  Nr.  3,  4  und  7  erhielt  ich  handschriftlich. 

Vorliegende  sieben  Nummern  sind  nur  eine  Auswahl;  sie  gehören  sämtlich 
dem  toskischen  Dialekt  an.  Die  Veröffentlichung  der  ganzen  Sammlung,  Text 
und  Übersetzung,  soll  erst  später  in  einem  ausführlichen  Werke  über  meine 
Albanienreise  erfolgen.  Dieselbe  fiel  gerade  in  jene  Periode  des  Gnegenaufstandes, 
als  dieser  auch  nach  Südalbanien  überzugreifen  drohte.  Daher  zeigen  manche  von 
den  Liedern,  z.  B.  Nr.  2  und  5,  einen  ganz  aktuellen  Inhalt.  Ihren  poetischen 
Gehalt  darf  man  freilich  nicht  zu  hoch  anschlagen.  Besonders  die  letzterwähnten 
Zeitgedichte  sind,  was  Reim  und  Versbau  betrifft,  ziemlich  nachlässig  behandelt; 
es  wurde  offenbar  mehr  Sorgfalt  auf  die  Einzelheiten  des  Ereignisses  als  auf  die 
Darstellungsform  verwendet. 

Die  liederfrohen  Albanesen  besingen  alle  erdenklichen  Vorfälle.  Hat  doch 
einer  meiner  Bekannten,  ein  ehemaliger  Kawasse  des  griechischen  Konsulates  in 
Avlona,  den  ich  photographiert  hatte,  sogar  diese  Tatsache  in  Verse  gebracht. 
Das  betreffende  Gedicht  wurde,  als  zu  unbedeutend,  allerdings  nicht  unter  die 
vorliegenden  Proben  aufgenommen. 

Zuletzt  gestatte  ich  mir  noch  die  Bemerkung,  dass  ich  keineswegs  'Albanologe' 
(der  Ausdruck  stammt  von  Dr.  Pekmezi)  bin.  Das  Material,  das  ich  hier  und 
anderwärts  veröffentliche,  ist  nur  eine  gelegentliche  Beute,  sowie  man  etwa  ein 
glitzerndes  Ding  einsteckt,  das  man  am  Wege  findet,  ohne  erst  seinen  Wert  genau 
zu  prüfen.  Die  Bewertung  dieser  Lieder  für  die  Volkskunde,  speziell  als  Bei- 
träge zur  Kenntnis  des  Schkjipetaren -Volkes,  ist  Sache  der  Fachmänner,  und  falls 
sich  jemand  dafür  interessieren  sollte,  so  bin  ich  gern  bereit,  auf  eine  einfache 
Anfrage  hin  genaue  Kopien  der  Originaltexte  zur  Verfügung  zu  stellen. 

I.    Lied  von  der  Geliebten. 

1.  Genosse,  wo  weilt  mein  Lieb?  —  Bei  einem  April-Veilchen,  dort,  wo 
ich  sie  in  Gedanken  nicht  vermutete. 

2.  'Deine  Lippen  sind  Rosen,  --  der  Hals  wie  Lampenschimmer,  --  unbezahlbar 
deine  Brüste  —  weder  mit  der  Bank  von  Egypten1)  —  noch  mit  Edelsteinen;  — 
das  Auge  ist  300  Napoleon  wert. 


1)  Wörtlich:    'me  banko  n1  Misiri'.     Gemeint  ist  die  Bank  in  Alexandria,    von  deren 
Schätzen  im  Volke  die  übertriebensten  Vorstellungen  herrschen. 


174  Sattler: 

3.  O  du  Lamra,  weiss  wie  ein  Stern,  —  weisses  Lamm  der  Herde!  —  Dir 
gebürt  ein  goldener  Sitz;  —  möge  der  Mann  sterben,  den  du  hast1)!' 

4.  „Lass  ihn  sterben,  ich  mag  ihn  nicht.  —  Er  ist  für  mich  ein  Krüppel.  - 
Ich  will  mir  einen  wackern  Mann  nehmen,  um  mich  mit  ihm  zu  vergnügen!" 

2.    Das  Lied  von  Chimara. 

1.  Am  25.  April2)  beschloss  die  Ratsversammlung  —  zu  Konstantinopel 
und  ordnete  an:  —  zwei  Abteilungen  Soldaten  schickte  sie  —  mit  Geschützen 
und  Munition:  —  die  sandte  sie  nach  Chimara. 

2.  Hinsandte  sie  auch  zwei  Kriegsschiffe  -  mit  zwei  Abteilungen  Soldaten.  — 
Sie  kamen,  uns  zu  beschiessen.  —  Es  kam  ein  Mutessarif  —  als  Befehlshaber 
mit  einigen  Offizieren.  —  Sie  kamen,  uns  zu  vernichten. 

3.  Sie  erschienen  in  Chimara,  —  wollten  Antwort  sogleich,  —  denselben  Tag, 
dieselbe  Stunde. 

4.  Alle  Alten3)  kamen  zusammen,  —  hielten  in  Chimara   eine  Versammlung; 

—  einer  schaute  den  andern  an4).  -  Die  armen  Alten  hatten  Grund:  —  es  gab 
keine  lange  Frist,  —  nur  30  Stunden5). 

5.  Die  Alten  fassten  einen  Entschluss.  —  Sie  gingen  zum  Pascha  und  sprachen: 
'Pascha,  wir  haben  einen  Entschluss  gefasst.  —  Magst  du  uns  augenblicklich  ver- 
nichten, —  unsere  Vorrechte6)  geben  wir  nicht  auf!' 

G.    Es  gingen  Etliche  nach  Konstantinopel,  —  um  die  Besatzung  wegzubringen; 

—  sie  gingen  hinein  in  den  Rat.  —  Der  Vezir  mit  dem  ganzen  Rate  —  unter- 
redete sich  mit  dem  Sultan,  —  dass  sie7)  bleiben,  so  wie  sie  sind:  —  'Heil, 
Chimara!'  sagten  sie7). 

3.   Liebeslied  des  Mädchens. 

1.  Ibrahim,  grosser  Pascha8),  mein  Herr,  —  wer  hat  dir  Böses  von  mir 
hinterbracht'?. —  Nimm  doch  nicht  solche  Verleumdungen  über  mich  an;  —  dich 
habe  ich  geliebt  und  dich  liebe  ich! 


1)  'te  vdekt  buri,  kje  ke!'  Dieser  fromme  Wunsch  kommt  in  albanesischen  Liebes- 
licdern,  die  an  verheiratete  Frauen  gerichtet  sind,  öfter  vor.  Vgl.  Hahn,  Alban.  Studien, 
i'.  L31,  Nr.  21:  'Buri,  moj',  kje  ke,  te  dekte!'  Vgl.  auch  das  letzte  Lied  dieser  Sammlung. 
Str.  2  und  3. 

■2)  Nach  dem  griechischen  Kalender.  —  Der  Vorfall  ist  aus  den  Zeitungsnachrichten 
bekannt.  Chimara  liegt  an  der  Küste,  etwa  in  der  Mitte  zwischen  Avlona  und  Santi 
Quaranta.  Die  Einwohnerschaft  ignorierte  die  türkischen  Behörden  vollständig.  Auf  eine 
unter  Militärbegleitung  dahin  entsandte  Regierungskommission  wurde  ein  Überfall  aus- 
geführt, weshalb  dann  aus  Janina  zwei  Bataillone  mit  einer  Geschützbatterie  und  aus 
Konstantinopel  zwei  Kriegsschiffe  abkommandiert  wurden. 

3)  'Pljckjt'  —  die  Alten,  deren  Versammlung,  'pljekjesia'  genannt,  den  Gemeinderat 
bildet. 

I)  'njeri  tjaterin  veschtojn1  ist  Zeichen  der  Verlegenheit. 

."))  'veteme  tridjet  saat'  bildet  einen  Widerspruch  zu  dem  Schlussvers  der  vorigen 
Strophe:    'ate  dit,  ate  saät'. 

6)  Unter  diesen  Vorrechten,  im  Texte  mit  dem  griechischen  Kollektivausdruck 
'pronomion'  bezeichnet,  ist  wahrscheinlich  Steuerbefreiung  u.  ä.  zu  verstellen. 

7)  Die  Personen  sind  hier  ungenau  bezeichnet,  doch  sind  mit  den  'sie'  wohl  beide- 
male  die  Chimarioten,  beziehungsweise  ihre  Abgesandten  gemeint. 

8)  Natürlich  ist  er  kein  wirklicher  Pascha;  das  ist  nur  verliebte  Übertreibung. 


Kleine  Mitteilungen.  17.» 

2.  Wehe,  Knabe,  ich  gehe  zugrunde  durch  dich,  —  da  du  mir  deinen  Mund 
entziehst,  du  sehr  Schlimmer!  —  Nach  Belieben,  Knabe,  betrachte  mit  den  Augen  — 
die  zarte  Gestalt,  gleich  der  Zypresse! 

3.  Deine  Lippen  sind  Myrtenblüten;  -  -  möge  Gott  dir  verzeihen!  -  Entweder 
töte  mich  oder  gib  mir  ein  Heilmittel! 

4.    Janina. 

1.  Diese  Burg  mit  der  Mauerbrüstung,  -  -  ein  Löwengeschlecht  möge  sie  innen 
haben:  —  Ali  Pascha1)  mit  sieben  Getreuen,  —  dass  er  die  Kanonen  mit  Feinden 
fülle2)! 

2.  'Ach  Janina,  Janina!  vergebens  —  treffe  dich  Feuer,  um  dich  zu  zer- 
stören! —  Übel  bekommt's  mir,  dass  ich  selbst  dich  aufgerichtet3),  —  da  weder 
ich  noch  meine  Kinder  dich  bewohnen  sollen. 

3.  Meine  Söhne,  das  Judengeschlecht4),  und  mein  Hund  —  verlassen  mich, 
den  Greis,  treulos5).  —  Es  köpfe  sie  Sultan  Mahmud,  dass  der  Hund  die 
ganze  Familie0)  ausrotte!" 

5.   Nik  Dhim,  der  Türkentöter. 

1.  Bravo,  Nik  Dhim,  bravo!  —  Damals,  als  man  dich  aussandte  —  mit  der 
Post  von  Delvino, 

2.  Da  machtest  du  dich  auf  in  Begleitung  deines  Neffen  —  mit  einigen 
Briefen,  die  nach  Vl'or7)  bestimmt  waren.  —  Jene,  die  dich  schickten,  hatten 
Furcht,  —  daher  gingen  sie  nicht  selber. 

3.  Und  siehe,  auf  offener  Strasse  —  lauerten  Räuber  euch  auf.  Wehe, 
Nik  Dhim,  dass  sie  euch  auflauerten  —  bei  einer  Quelle  in  der  Nähe  von 
Radh'im8). 

4.  Sie  griffen  nach  deinen  Waffen:  -  -  'Giaur'!  riefen  sie,  'ergib  dich!  —  zu 
Ende  ist  dein  Tag9),  zu  Ende  dein  Leben!' 


1)  Die  Erinnerung  an  den  grossen  Nationalhelden  ist  heute  noch  im  Volke  lebendig.  — 
atrophe  1  bildet  die  Einleitung;  sie  leiht  etwa  dem  Gedanken  eines  freiheitliebendeii 
Schkjipetaren  Ausdruck,  beim  Anblick  von  Stadt  und  Festung,  die  er  nun  hoffnungslos  in 
den  Händen  der  verwünschten  Türken  sieht.  Die  Strophen  2  und  •'!  sind  Ali  Pascha  in 
den  Mund  gelegt. 

2)  Wörtlich  so:    'qi  musch  topat  me  dykmena." 

3)  Ali  Pascha  ist  nicht  der  Gründer  der  Stadt,  doch  verdankt  sie  ihm  ihre  starken 
Befestigungen. 

4)  Ist  bloss  als  Schimpfwort  mit  verächtlichster  Bedeutung  zu  verstehen. 

•"))  Am  10.  Januar  1822  musste  sich  Ali  Pascha,  der  vom  Sultan  Mahmud  bekriegt 
•wurde,  nach  zweijähriger  Belagerung  in  Janina  ergeben,  nachdem  bereits  früher  viele 
-einer  Anhänger  von  ihm  abgefallen  waren.     Sein  trauriges  Schicksal  ist  bekannt. 

6)  Im  Texte  steht  das  Wort  'oeäk',  das  nach  G.  Meyer,  Etyni.  Wörterb.  d.  alb.  Spr. 
vom  türkischen  'odschak'  d.  i.  Herd,  Haus,  Familie  stammt  und  im  Toskischen  ein  altes, 
ehrwürdiges  Geschlecht  bezeichnet. 

7)  VL'or  ist  die  toskische  Form  des  Namens  Avlona. 

8)  Radhim  ist  ein  Dorf,   10  hm  südlich  von  Avlona. 

\))  Die  Stelle  lautet:  'te  sos  dita,  te  sos  jeta'  d.h.  -mit  dir  ist's  aus,  du  bist  ver- 
loren!' Das  Zeitwort  'sos'  kommt  vom  griechischen  oc6t&  und  hat  auch,  wie  dieses,  die 
Bedeutung  'retten'.  Merkwürdig  ist,  dass  mein  Gewährsmann  es  auch  in  der  griechische 
Übersetzung  der  Stelle  gebrauchte,  als  ich  ihn  um  eine  solche  ersuchte:  'oor  sowas  /, 
'fiega  ttai  y  'C,ojtf  obwohl  es  sonst  im  Griechischen  nicht  'enden'  bedeutet.  Vgl.  auch  da 
folgende  Lied,  Str.  6. 


],(;  Sattler,  Gebhardt: 

5.  Du  aber,  Nik  Dhim,  wehrtest  dich  wacker:  —  'Ich  will  mich,  bei  Gott, 
nicht  ergeben!'  —  Und  durchbohrtest  den  einen  mit  dem  Messer,  -  -  einen  andern 
traf  deine  Pistole  ins  Auge. 

6.  Dich  fand  der  neue  Tag  schon  jenseit  des  Gebirges,  —  das  Tageslicht 
inmitten  der  Einöde;  —  doch  schreckte  dich  nicht  etwa  das  Gewissen. 

7.  Und  wo  du  vorüberkamst,  —  sangen  dir  die  Vöglein  -  und  grunzten  die 
Schweine  des  Waldes1): 

8.  'Nik  Dhim,  du  Pallikar,  —  hast  zwei  verruchte  Türken  umgebracht.  — 
dich  selbst  gerettet  —  und  dem  Dorfe  Ehre  gemacht!' 

6.   Lied  von  einem  reichen  Chimarioten,  den  seine  Hirten  umbrachten. 

1.  Eine  Woche  im  Oktober2)  sattelte  er  seinen  Rotgaul  —  und  machte 
sich  auf  nach  Dekati3). 

2.  Schlug  den  Weg  über  das  goldene  Bnenej  ein  und  den  Weg  über 
Loghara,  —  wo  sie4)  ihn  sahen  und  er  sie  sah. 

3.  Als  er  mit  ihnen  zusammentraf,  —  fingen  sie  ihn  mit  List  —  beim  Durch- 
schreiten des  Waldgebirges. 

4.  Es  kam  ein  Regen  und  Sturm,  —  da  machte  Mitro  den  Vorschlag:  — 
•Auf,  in  die  Höhle,  Kapetan!'  sagte  er, 

5.  'Lass  uns  dort  eine  Zigarette  rauchen'.  —  Und  sie  stiegen  hinauf  zur 
Höhle;  —   dort  rief  dann  Mitro: 

6.  'Zu  ende  ist  dein  Tag,  Kapetan!'  Und  sie  durchbohrten  ihn  —  mit 
dreizehn  Messerstichen. 

7.  Das  Pferd  entwich  zu  Tale;  —  unten  im  Dorfe  Vangilaj,  —  dorten  machte 
es  Halt. 

7.   Liebeslied  des  Jünglings. 

1.  Warum  kommst  du  nicht  heraus  zu  den  Genossinnen  —  Sumbulo,  du  rote 
Pflaume5)? 

2.  Töte  doch  deinen  kranken  Mann,  —  Sumbulo,  usw. 

3.  Dass  er  sterbe  und  ich  dich  heiraten  kann6),  —  Sumbulo,  usw. 

4.  Dich  will  ich  mit  lauter  Silber  schmücken7),  -  -  Sumbulo,  usw. 

5.  0  du,  dich  mit  lauter  Silber!  —  Sumbulo,  usw. 

<i.    Heraus,    du!    nicht  hast  du  Mühe,  denn    du  hast  keinen  leidenschaft- 

lichen Mann. 

Prag.  Franz   Sattler. 


1)  Wörtlich  so:    'pilischne  derat  te  püllit'. 

2)  'Me  nje  jav  tc  Sche-Mitre  . .  .'  Die  Tosken  benennen  den  Oktober  nach  dem  hlg. 
Demetrius. 

3)  Dekati  ist  ein  kleines  Dorf,  etwa  in  der  Hälfte  des  Weges  von  Chimara  nach 
Avlona.  An  der  Strasse  dahin  liefen  auch  die  Ortschaften  Bnenej  (mit  dem  Epitheton 
't'arte'  —  golden),  Loghara  und  Vangilaj. 

4)  Die  verräterischen  Hirten,  deren  Rädelsführer  Mitro  heisst. 

5)  Der  Kehrreim  lautet  im  Original:    'Sumbulo,  kumbul'  e  kukje!' 

6)  Ti  dekt  e  ti  martsja  un!'   Vgl    Hahn  a.  a.  0.  Nr.  21:    'Te  dikt   e  te  martscha  une". 

7)  'Ti  te  benj  erfüllte  schum'.  Hierzu  findet  sich  ebenfalls  eine  Parallele  bei  Hahu, 
a.  a.  0.  Nr.  '24:    'Te  te  benj  ergjende  schume\ 

v  


Kleine  Mitteilungen.  177 

Ein  altisländisches  Rechen  rätsei. 

In  seinen  isländischen  Legenden,  Novellen  und  Märchen  (Halle  1882 — 18<S3) 
gibt  Hugo  Gering  unter  Nr.  80  (1,  216)  den  Text  und  (2,  157  f.)  die  deutsche 
Übersetzung  eines  Märchens  'Indische  Edelsteine",  das  in  der  isländischen  Hand- 
schrift 6.37,  4t0-  der  Arna-magnäanischen  Sammlung  aus  der  Wende  des  14.  und 
15.  Jahrhunderts  erhalten  ist,  und  dessen  Inhalt  in  kurzen  Zügen  folgender  ist. 
Ein  Däne  kommt  auf  einer  Reise  nach  dem  Süden  auch  in  eine  ansehnliche 
indische  Stadt,  wo  er  bei  einem  Ratsherrn  einkehrt.  Dieser  übergibt  ihm  drei 
kleine  Steine,  die  er  bei  seiner  Rückkehr  seinem  König  überbringen  soll.  Dies 
geschieht,  aber  der  König  macht  nicht  viel  aus  den  unscheinbaren  Steinen.  Nach 
längerer  Zeit  erscheint  ein  Fremder  beim  König,  fragt  nach  den  Steinen  und  lässt 
sie  sich  vorlegen.  Er  „nahm  sie  in  die  Hand  und  sprach:  'Da  euch  die  Steine 
wenig  wertvoll  erscheinen,  so  will  ich  euch  mit  eurer  Erlaubnis  die  Eigenschaften 
derselben  sagen.'  Er  hob  den  ersten  Stein  empor  und  sagte:  'Dieser  Stein  hat 
die  folgende  Eigenschaft:  wenn  ihr  soviel  Gold  abwiegt,  als  der  Stein  schwer  ist. 
und  ihn  zu  dem  Golde  legt,  so  wächst  das  Gold  so,  dass  es  sich  bald  verdoppelt 
hat,  und  solange  es  dabei  liegt,  verdoppelt  es  sich  stets. '"  Der  zweite  Stein  macht 
unverwundbar,  und  als  der  Fremde  den  dritten  Stein  emporhob,  sagte  er:  'Das 
ist  die  Eigenschaft  dieses  Steines,  dass  ich  jetzt  hier  bin,  im  nächsten  Augenblicke 
aber  in  Indien/    Damit  war  er  verschwunden,  obwohl  die  Türen  verschlossen  waren. 

Die  Erklärung  des  ersten  Steines  habe  ich  oben  bis  zu  und  mit  den  Worten 
'so  wächst  das  Gold'  genau  nach  Gerings  Worten  gegeben,  der  den  folgenden 
Satz  von  'so'  bis  'stets'  durch  die  Worte  'um  die  Hälfte'  übersetzt,  meines  Er- 
achtens  gegen  den  isländischen  Sprachgebrauch1).  Der  isländische  Text,  auf  dessen 
Wortlaut  es  hier  ankommt,  lautet  so:  pat  er  nättüra  persa  steins:  ef  per  vegit  gull 
jafnv<egi  hans  ok  leggit  hann  viO  gullit,  pä  vex  pat  svä  at  pat  er  skjött  hälfu  meira, 
ok  sva  lengi  sem  pat  er  meiVr,  verör  pat  ae  hälfu  meira.  In  Gerings  Übersetzung 
gehen  die  pat  ('das"  oder  'es')  des  isländischen  Textes  verloren.  Sie  können  sich 
grammatisch  sowohl  auf  gull  'Gold'  beziehen  wie  auf  jafnvsegi  'was  das  gleiche 
Gewicht  hat'.  Ich  glaube,  sie  gehören  abwechselnd  zum  ersten  und  zum  zweiten, 
vorausgesetzt,  dass  der  Isländer  sich  darüber  klarer  geworden  war  als  unsere 
heutigen  naiven  Erzähler,  die  es  auch  ihrem  Hörer  überlassen,  aus  zahllosen  'es', 
'das'  klug  zu  werden.  Soviel  ist  aber  sicher,  es  geht  nicht  auf  steinn,  denn 
dieses  Wort  ist  männlichen  Geschlechts. 

Also:  wenn  der  Stein  zu  dem  ihm  gleich  schweren  Golde  gelegt  wird,  so 
verdoppelt  'es'  sich;  'es':  entweder  das  Gold,  das  ja  vorher  dem  Steine  gleich 
schwer  wog  und  nun  durch  das  Hinzulegen  des  Steines  sich  am  Gewicht  ver- 
doppelt, oder  das  Gegengewicht:  dieses  muss  nun  doppelt  so  gross  werden,  da  ja 
das  alte  Gegengewicht  des  Steines  zu  diesem  hinzugelegt  wurde,  also  das  neue 
Gegengewicht  den  Stein  und  nochmals  dessen  Gewicht    in  Gold    aufwiegen   muss. 

Und  so  fort:  legt  man  abermals  das  Gegengewicht  auf  die  Wagschale  hin- 
über, auf  der  der  Stein  nebst  dem  von  Fall  zu  Fall  wachsenden  Gewicht  in  Golde 
liegt,  so  braucht  man  zum  Aufwiegen  wiederum  das  Doppelte.  Und  so  fort  cum 
gratia  in  infinitum  veriVr  [>at  x  hälfu  meira,  'so  verdoppelt  es  sich  jedesmal'. 

Reinhold  Köhler  (bei  Gering  2,  158)  vergleicht  dazu  Romania5,  76 — 81  eine 
angeblich  ursprünglichere  Fassung  in  einer  italienischen  Novelle,  wo  aber  nur  die 
Kraft  des  dritten  Steines  genau  angegeben  ist. 


1)  Vgl.  Oldnordisk  Ordbog  ved  Erik  Jonssem,  Kjöbenhavn  1863,  S.  202,  a  unter  hdlfr 
hälfu  meira  een  Gang  saa  stör,  dobbelt  saa  stör. 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1911.   Heft  2  I- 


X78  Gebhardt,  Hahn,  Weitland,  Schnippel: 

Ich  kann  mich  nun  nach  meiner  oben  gegebenen  Erklärung  des  isländischen 
Textes  des  Eindrucks  nicht  erwehren,  wie  wenn  die  scheinbar  wunderbare  Eigen- 
schaft des  ersten  Steines  in  der  isländischen  Passung  —  zwar  in  einer  eigentüm- 
lichen Verbindung  mit  wirklich  zauberischen  Eigenschaften  der  beiden  anderen 
Steine  —  nichts  anderes  wäre,  als  eine  andere  Fassung  einer  scherzhaften  Rechen- 
aufgabe, die  ich  vor  einigen  Jahren  in  folgender  Form  gehört  habe:  „Ein  Stein 
wiegt  drei  Pfund  und  einen  halben  Stein,  wieviel  wiegen  drei  solche  Steine?"  Die 
Lösung  scheint  so  schwierig  und  ist  doch  so  einfach:  18  Pfund. 

Algebraisch: 

x 

1.  x=    2— M. 

X  X 

Davon  subtrahiert:  —. -  —  -^  ,  bleibt 

-~-  =  3,  also  x  =  2  x  3  =  6. 
•2.  3x6=18. 

Wie  es  aber  kam,  dass  diese  Knackmandel  in  Verbindung  mit  den  magischen 
Eigenschaften  der  anderen  Steine  gesetzt  wurde,  das  steht  freilich  dahin.  Viel- 
leicht war  schon  der  Isländer,  der  diese  Verbindung  hergestellt  hat,  mathematisch 
nicht  geschult  genug,  um  die  einfache  Rechenaufgabe  zu  lösen. 

Als  ich  das  isländische  Märchen  unserem  Orientalisten  Herrn  Professor  Jacob 
erzählte,  antwortete  er  mir,  er  könne  sich  zwar  nicht  entsinnen,  eine  orientalische 
Fassung  davon  gelesen  zu  haben,  doch  sehe  die  Geschichte  sehr  orientalisch  aus. 
Auch  sei  es  durchaus  nicht  unmöglich,  dass  eine  scherzhafte  Rechenaufgabe  in 
Verbindung  mit  den  magischen  Eigenschaften  der  beiden  anderen  Steine  er- 
zählt wird. 

Erlangen.  August  Gebhardt. 


Klabautermann. 

Mit  dem  Durchstecken  der  Kinder  durch  den  Baum  (vgl.  oben  S.  109)  hängt 
auch  eine  sehr  eigentümliche  Gestalt  des  deutschen  Gespensterglaubens  zusammen, 
die  freilich  jetzt  wohl  ganz  der  Vergangenheit  angehört,  der  Klabautermann. 

Bäume,  durch  die  man  Kinder  in  der  S.  109  beschriebenen  Zeremonie  gesteckt 
hat,  sollen  ja  fortleben  und  die  Krankheit  bei  sich  behalten.  Sie  werden  aber 
nicht  immer  so  sorgfältig  behandelt  wie  in  dem  erwähnten  Fall.  Wahrscheinlich 
kann  man  auch  den  Baum,  wenn  er  fortlebt  und  die  Höhlung  behält,  öfter  brauchen, 
nur  verliert  die  ganze  Zeremonie  natürlich  dadurch  an  Wirksamkeit.  Ich  erinnere 
mich,  dass  bei  uns  in  Lübeck  (Forstort  Israelsdorf  —  eigentlich  Iser-Helsdorf) 
die  Kinder  durch  eine  schöne  Buche,  die  ein  Zwiesel  war,  d.  h.  aus  zwei  Bäumen 
zusammengewachsen,  nur  als  Belustigung  durchkrochen,  allerdings  immer  noch 
mit  etwas  Schauder,  obgleich  man  die  Vorstellung  hatte,  dass  es  gut  sein  würde. 
Dem  verdienstvollen  Forscher  der  Steinzeit  auf  Rügen  Rudolf  Baier,  dem  Be- 
gründer des  schönen  Stralsunder  Museums,  verdanken  wir  nun  einen  Bericht,  der 
wohl  deshalb  wenig  beachtet  ist,  weil  er  in  einem  der  letzten  Bände  von  Wolfs 
Zeitschrift  für  Mythologie  (2,  141.  1855)  vergraben  wurde.  Nach  Baier  ist  bei 
dieser  Heilung  durch  einen  Baum  die  Gefahr,  dass,  wenn  das  Kind  —  es  ist  nicht 
gesagt,  aber  wohl  selbstverständlich  —  trotzdem  stirbt,  die  Seele  des  Kindes 
in  den  Baum  gehen  muss. 


Kleine  Mitteilungen.  179 

Nun  benutzte  der  ältere  Schiffsbau  gerne  gewachsene  Krummhölzer,  besonders 
von  Eichen,  zum  Schiffskiel.  Solche  Bäume  wurden  oft  jahrelang  aufgespart  und 
förmlich  für  dies  oder  jenes  Schiff  vorausbestimmt.  Bäume  aber,  die  zum  Durch- 
stecken gebraucht  worden  waren,  zeigten  oft  einen  geeigneten  krummen  Wuchs. 
So  lag  die  Gefahr  nahe,  dass  die  Seele  des  Kindes  mit  dem  Bauholz  in  das  Schiff 
geriet.  Dies  aber  war  eben  der  Klabautermann.  Deshalb  hatte  nicht  jedes 
Schiff  einen,  und  deshalb  erklärt  sich  auch  die  eigentümliche  Doppelnatur  des 
Gespenstes.  Der  Klabautermann  ist,  wie  oft  dergleichen  Hausgespenster,  gut  ge- 
artet, wenn  er  nicht  geärgert  wird.  Zugleich  aber  muss  doch  sein  Streben  dahin 
gehen,  die  Fessel  abzustreifen,  die  ihn  an  das  Schiff  bindet,  deswegen  seine  Freude, 
wenn  es  untergeht,  auch  wenn  er  vorher  die  Menschen  nach  Kräften  gewarnt  hat. 

Es  ist  wohl  eine  Wiederholung  dieser  Notiz,  wenn  sich  in  Bastians  'Mensch 
in  der  Geschichte'  (3,  89)  unter  dem  Autornamen  Friedreich  eine  ganz  ähnliche 
Angabe  findet. 

Berlin.  Eduard  Hahn. 

Das  'ßorenleihen'  (Bärenfiihren). 

Im  Dorfe  Pirow  in  der  Westpriegnitz ,  veranstalten  junge  Burschen  in  den 
Wochen  vor  Weihnachten  das  sogenannte  'Borenleihen'.  Sie  umwickeln  einen  aus 
ihrer  Mitte  mit  Erbsstroh,  wodurch  die  Gestalt  plump  wird,  geben  ihm  einen 
Stab  in  die  Hand  und  befestigen  um  seinen  Leib  eine  Kette.  So  ist  der  Bär 
fertig.  Ein  anderer  Bursche  zieht  sich  nach  Art  der  Bärenführer  einen  Regenrock 
an,  nimmt  eine  Peitsche  zur  Hand  und  lässt  bei  den  Klängen  einer  Ziehharmonika 
den  Bären  tanzen.  Unter  dem  Gelächter  der  Zuschauer,  besonders  der  Schul- 
jugend, gehen  die  Burschen,  wohl  10  bis  15  an  der  Zahl,  von  einem  Hof  zum 
andern  und  bitten  um  Gaben.  Sie  erhalten  vorzugsweise  Eier  und  Speck,  zu- 
weilen auch  Geld.  Hat  man  genügend  Lebensmittel  zusammen,  so  bereitet  sich 
die  heitere  Gesellschaft  ein  leckeres  Mahl. 

Pinnow  (Uckermark).  Erich  Weitland. 

Segen  wider  die  ßose  aus  Masuren. 

Die  Weide  und  die  Rose,  hatten  einen  Streit 
Die  Weide  gewan,  die  Rose  verschwand, 

Im  Nahmen  Gottes  f  Vaters,  Gottes  Sohns  f 
und  Gottes  Heiligen  Geistes  f  Amen 

Dieses  wird  3  Mahl  still  hinter  einüder 
gesprochen,  und  den  ein  Vater  unser. 

Diese  Formel  steht  genau  so,  von  einer  Hand  aus  dem  Ende  des  18.  Jahrh. 
geschrieben,  auf  einem  schmalen  Papierstreifen  (17  x  5,8  cm),  der  jetzt  der  ge- 
schichtlichen Sammlung  des  Kaiser  Wilhelm -Gymnasiums  zu  Osterode,  Ostpr. 
angehört.  Er  war  bisher  stets  im  Gesangbuche  einer  und  derselben  (evangelischen) 
Familie  aufbewahrt  worden;  die  Besprechung  wurde  unmittelbar  vor  Sonnenunter- 
gang und  nach  Sonnenaufgang  vorgenommen.  Das  f  bedeutet  zweifellos  jedesmal 
die  Gebärde  des  Kreuzschiagens. 

[Vgl.  oben  7,  410:    aus  der  Grafschaft  Ruppin.] 

Osterode,   Ostpr.  Emil   Schnippel. 

12* 


180  Bolte: 


Berichte  und  Bücheranzeken. 


Neuere  Märchenliteratur. 

Den    vielseitigen  Wert    des  Märchenstudiums    entwickelt    ein    in    Boston   ge- 
haltener Vortrag  Swantons1),   der  namentlich    den  Plan  einer  Konkordanz  sämt- 
licher indianischen  Mythen  empfiehlt,  auf  die  Scheidung  der  mythischen,  historischen 
und    phantastischen    Bestandteile    dringt    und    vor    den    Übertreibungen    gewisser 
neuerer    Mythologen    warnt.      Weitaus    positivere  Belehrung   gewährt    ein    knapp- 
gefasstes,  aber  gedankenreiches  Buch    des  gelehrten  Herausgebers    der  Revue  des 
etudes  ethnographiques    et  sociologiques    A.   van  Gennep2)    über   die  Entstehung 
der  Märchen.      In    streng  logischer  Gliederung  bespricht    er    die  Punkte,    die  vor 
der  Beantwortung  der  Hauptfrage  zu  erledigen  sind:  den  Unterschied  von  Märchen, 
Fabel,  Sage  und  Mythus;  die  Verbreitung,  Zusammensetzung  und  Reihenfolge  der 
Märchenmotive;  ihre  Beziehungen  zur  sichtbaren  und  zur  überirdischen  AVeit,  zur 
Geschichte  und  zur  Literatur.     Vertraut    mit    den  neueren  Forschungen,    schliesst 
er  sich    doch    keiner  Theorie  unbedingt    an    und    steht    den    allzu    einfachen    Er- 
klärungen   misstrauisch    gegenüber    (S.  G7).       Im    Anschluss    an     englische    und 
amerikanische  Ethnologen  betont  er,  dass  die  Erzählungen  ursprünglich  keineswegs 
nur    der    Erheiterung    dienten,    sondern    auch    moralische    und    praktische,    selbst 
magische  Zwecke    verfolgten,    z.  B.    die    Indianer    in    dem    Lachsfange    oder    der 
Hirschjagd  unterweisen  sollten.     Die  herkömmlichen  Definitionen  der  Erzählungs- 
gattungen,   denen    auch    F.  v.  d.   Leyen8)    eine    hübsche    Betrachtung    widmete, 
genügen  ihm  nicht,    weil    die  Grenzen  fliessen.     Verfolgt    man    die  geographische 
Verbreitung  der  Märchenmotive,    so    ergeben  sich  Motivgebiete,    die  von  Sprache, 
Rasse  und  Bildungsstufe  unabhängig  sind  (S.  45).     Diese  Märchenmotive,    für  die 
eine  Bezeichnung  durch  kurze  Namen  höchst  wünschenswert  ist,  erscheinen  selten 
allein,  meist  mit    mehreren    andern  kombiniert  und    in  verschiedener  Reihenfolge. 
In  die  älteste  Zeit  reichen    die    naturdeutenden   Erzählungen    zurück,    die    in    den 
sichtbaren  Gegenständen  verwandelte  Tiere    oder  Menschen   erblicken.     Wenn  die 
Astralmythologen    Jensen,    Siecke,    Frobenius  u.  a.    womöglich    alle    Mythen    und 
Märchen  auf  die  Betrachtung    des  Sternenhimmels  zurückführen    wollen,    so    liegt 
darin  eine  falsche  Schätzung    des  Einflusses,    den    die  Gestirne    auf   das    tägliche 
Leben,    die  religiösen  Vorstellungen    und  Sagen    der  primitiven  Menschen  hatten. 
Die  Tiermärchen    lassen    sich    aus    dem  Totemismus    (über    den    gleichzeitig    ein 
Aufsatz  von  Goldenweiser  orientiert*)    herleiten;    doch    ist  der  Ursprung  dieser 


1)  John  R.  Swanton,    Some    practical    aspects    of  the  study  of   mytlis    (Journal  of 
american  folk-lore  23,  1  —  7). 

2)  A.    van    Gennep,     La    formation    des    legendes.      Paris,    F.    Flammarion    1'JIO. 
326  S.    3,50  Fr. 

3)  Fr.  v.  d.  Leyen,    Märchen,    Sage    und    Mythus    (Westermanns    Monatshefte   105, 
399-  106.   L908); 

4)  A.  A.  Golden w eiser.  Totemism  (Journal  of  american  folk-lore  2:'»,  170—29:'.). 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  ]S1 

Anschauung  noch  nicht  hinreichend  erklärt.  Den  Abschnitt  über  Dämonen-,  Götter- 
und  Heldensagen  beschliesst  eine  Betrachtung  über  die  Entwicklung  der  Herakles- 
sage in  Griechenland  und  Italien.  Den  historischen  Wert  der  Heldensagen  und 
Epen  schlägt  der  Vf.  sehr  gering  an,  da  bei  nicht  schreibkundigen  Völkern  eine 
gewöhnliche  Tatsache  sich  kaum  150 — 200  Jahre  lang  fortpflanze.  Dagegen 
empfiehlt  er  die  geographische  Methode,  die  Berard  bei  der  Odyssee  und  Bedier 
beim  Wilhelm  von  Orange  angewandt  hat,  und  die  auch  für  die  russischen  und 
südslawischen  Heldenlieder  erfolgreich  war.  Das  Aufsteigen  der  Volkssagen  in 
die  Literatur  erläutert  er  am  Epos,  an  Perraults  Märchensammlung  und  an  den 
Bearbeitungen  der  Sagen  von  Don  Juan,  Faust  und  vom  Zweikampfe  des  Vaters 
mit  dem  Sohne.  Im  letzten  Abschnitte  endlich  kritisiert  er  die  von  Rosieres, 
Olrik,  Frobenius  und  Benigni  aufgestellten  Gesetze  der  Sagenbildung  und  stellt 
selber  folgende  Prinzipien  auf,  die  jedes  Volk  nach  seiner  Gemütsstimmung  und 
Denkkraft  variiert:  Lokalisation  und  Delokalisation,  Individualisation  und  Des- 
individualisation,  Temporation  und  Detemporation,  Konvergenz  und  Dissociation  der 
Motive.  Das  ganze  Buch,  aus  dem  hier  nur  einige  Gedanken  herausgegriffen 
wurden,  enthält  eine  Fülle  von  gesunder  Kritik  und  von  neuen  Anregungen;  und 
obschon  ich  zu  mehr  als  einer  Stelle  ein  Fragezeichen  am  Rande  beifügen  möchte, 
so  begrüsse  ich  doch  das  Werk  mit  Dankbarkeit  und  bedaure  nur,  dass  der  dem 
Vf.  vorgeschriebene  Umfang  ihn  an  breiterer  Ausführung  des  Einzelnen  und  an 
der  Beigabe  der  gerade  hier  so  nötigen  Literaturnachweise  gehindert  hat.  — 
Das  neuerdings  öfter  erörterte  Verhältnis  zwischen  Heldensage  und  Märchen 
unterzieht  Sijmons1)  einer  klaren  und  anschaulichen  Betrachtung.  Er  tritt  im 
wesentlichen  auf  Heuslers  (oben  20,  331)  Seite,  wenn  er  gegen  Wundts  und 
Panzers  Behauptung,  dass  die  germanische  Heldensage  aus  dem  Märchen  er- 
wachsen sei  und  allmählich  geschichtliche  Züge  angenommen  habe,  Einspruch 
erhebt.  Ihm  ist  die  Heldensage  zur  Poesie  gewordene  Geschichte;  der  Sänger, 
der  die  Wirklichkeit  mit  den  Mitteln  der  Kunst  festhalten  will,  schmückt  seinen 
Helden  mit  Märchenzügen  aus;  freilich  setzt  er  ihn  meist  in  andere  Zusammen- 
hänge, da  ihm  der  Sinn  für  die  weltbewegenden  Ideen  und  die  Tatsachen  der 
Völkerwanderung  abgeht.  -  -  Eine  andere  Förderung  der  Märchenforschung  kommt 
aus  Finnland.  Dort  hat  Aarne2)  ein  sehr  nützliches  Verzeichnis  sämtlicher  ihm 
bekannter  Märchentypen  in  systematischer  Anordnung  zusammengestellt,  das  eine 
weit  umfassendere  Übersicht  als  das  1864  in  Hahns  griechischen  Märchen  ver- 
öffentlichte Register  bietet.  Der  Vf.  verfolgt  dabei  den  praktischen  Zweck,  ein 
Schema  für  die  Katalogisierung  der  grossen  hsl.  vorhandenen  finnischen  Märchen- 
schätze zu  gewinnen,  und  hebt  mit  Recht  hervor,  wie  sehr  es  die  Arbeit  der  ver- 
gleichenden Forscher  erleichtern  würde,  wenn  künftig  alle  Märchensammlungen  nach 
demselben  System  und  denselben  Bezeichnungen  geordnet  würden.  Ausser  den 
finnischen  Märchen  hat  er  besonders  die  skandinavischen  und  deutschen  Samm- 
lungen ausgezogen,  aber  für  Nachträge  auf  eingeschalteten  Blättern  hinreichend 
Raum  gelassen.  Die  einzelnen  Nummern,  die  zumeist  vollständigen  Erzählungen 
entsprechen,  aber  auch  verschiedene  Schwankmotive  gesondert  aufführen,  tragen 
eine  Benennung  (z.  B.  die  kluge  Bauerntochter)  und  zumeist  auch  eine  kurze 
Inhaltsangabe.  Die  drei  Hauptgruppen  werden  gebildet  von  den  Tiermärchen,  den 
eigentlichen  Märchen  (Zaubermärchen,  Legenden,  Novellen,   vom  dummen  Teufel) 


1)  B.    Sijmons,   Heldensage    en    sprookje    (Verslagen    cn    mededeelingen    der    k. 
Vlaamsche  academie  1910,  579—598.    Gent). 

2)  A.  Aarne,  Verzeichnis  der  Märchentypen,  mit  Hilfe  von  Fachgenossen  ausgearbeitet. 
Helsingfors,  Finnische  Akademie  der  ^Yissenschaften  1910.    X,  66  S.  (FF  Communications  3). 


182  Bolte: 

und  den  Schwanken,  und  jede  Gruppe  zerfällt  natürlich  in  weitere  Unterabteilungen. 
Nachträge  fehlender  Märchentypen  wird  die  finnische  Akademie  in  Helsingfors  mit 
Dank  annehmen.  Für  eine  zweite  Auflage  möchte  ich  noch  die  Hinzufügung  von 
kurzen  Hinweisen  auf  vorhandene  Monographien  und  sonstige  Literatur  empfehlen.  — 
D  ahn  ha  r  dt1)  gesellt  den  trefflichen  beiden  Bänden  seiner  Natursagen,  welche 
die  an  die  biblischen  Erzählungen  anschliessenden  explikativen  Märchen  behandeln, 
einen  dritten  zu,  der  wiederum  ein  erstaunlich  reichhaltiges,  grossenteils  neues 
oder  schwer  zugängliches  Studienmaterial  für  Tiersagen  darbietet.  Je  nach  der 
Stufe  seiner  Einsicht  und  Phantasie  hat  der  die  Erscheinungswelt  beobachtende 
Mensch  Antworten  auf  die  sich  ihm  aufdrängenden  Fragen  gefunden:  Warum  hat 
die  Schwalbe  einen  gespaltenen  Schwanz,  warum  scharrt  das  Huhn,  wühlt  das 
Schwein  in  der  Erde,  stösst  der  Habicht  auf  die  Küchlein,  fliegen  die  Insekten 
ins  Licht,  hat  der  Krebs  die  Augen  hinten,  stellt  sich  das  verfolgte  Opossum  tot, 
woher  stammt  das  Feuer  usw.?  Und  wenn  die  Antworten  bei  weit  entfernten 
Völkern  oft  gleich  ausfallen,  so  liegt  das  sehr  häufig  an  der  einheitlichen  Art  des 
mythischen  Denkens.  Allgemein  legt  man  den  Tieren  menschliches  Fühlen  und 
Wollen  bei,  ja  man  sieht  in  ihnen  frühere  Menschen,  die  durch  besondere  Schick- 
sale in  diese  Gestalt  verwandelt  worden  sind;  auch  den  Seelen  der  Verstorbenen 
legt  man  häufig  Tiergestalt  bei.  Und  neben  seltsamen,  novellistisch  ausge- 
sponnenen oder  scherzhaften  ätiologischen  Sagen  begegnen  uns  manche  mit  ernster 
Scheu  erzählte  religiöse  Mythen,  wie  z.  B.  einige  Berichte  von  der  Gewinnung 
der  Sonne  und  des  Feuers.  In  dem  Wirrwarr  dieser  zahllosen  Märchen  hat  D., 
der  seine  mühevolle  Tätigkeit  allzu  bescheiden  nur  als  die  eines  Sammlers  be- 
zeichnet, Ordnung  geschaifen,  indem  er  zum  Einteilungsprinzip  nicht  die  Tier- 
gattungen, sondern  die  verwendeten  Motive  wählte.  Er  stellt  folgende  Gruppen 
auf:  Gestalt,  Körperfarbe,  Gewinnung  des  Feuers,  Wechsel  des  Eigentums,  wettende 
Tiere,  Entstehung  des  Ungeziefers,  Namen,  Wohnstätte,  Aufenthalt,  Lebens- 
gewohnheiten, lichtscheue  und  suchende  Tiere,  Nahrung,  Feindschaften  und  Freund- 
schaften, Tierstimmen,  Verwandlungen  (mit  Ausschluss  der  antiken  Literatur), 
Seelenvögel.  Dabei  nimmt  er  auch  die  Partien  andrer  Märchen,  wie  von  der 
untergeschobenen  Braut,  auf,  die  Naturdeutungen  enthalten.  Anziehend  wirken  u.  a. 
die  Symbolisierung  der  bunten  Farben  der  Vögel,  die  ja  durch  ihre  Haltung,  Nahrung 
und  Gewohnheiten  stets  besondres  Interesse  erregten,  die  Volksetymologie  der 
Namen  und  Rufe  der  Tiere,  die  Milde,  mit  der  die  Russen  die  Gefrässigkeit  des 
Wolfes  rechtfertigen,  das  hübsche  Märchen  vom  fliehenden  Pfannkuchen,  das 
unsern  Lesern  bereits  aus  des  Vf.  Darlegung  (oben  17,  133)  bekannt  ist,  auch  die 
zahlreichen  finnischen  und  indianischen  Tiermärchen.  Durch  die  sorgfältige 
1  >isposition  und  durch  kurze  Zwischenbemerkungen  werden  überall  dem  Leser  die 
Wege  zum  Verständnis  gebahnt;  auch  ein  ausführliches  Register  fehlt  nicht.  Auf 
allgemeine  Gesichtspunkte,  wie  die  Verwandtschaft  amerikanischer  und  asiatischer 
Überlieferungen,  Wanderstoffe,  charakteristische  Anschauungen  einzelner  Stämme, 
macht  die  klar  geschriebene  Einleitung  aufmerksam.  Die  komplizierten  Ver- 
wandlungssagen und  Wanderlegenden  sollen  im  4.  Bande  folgen,  dem  wir  mit 
Spannung  entgegensehen.  —  Slavische  Märchen  über  die  Entstehung  der  Tabaks- 


1)  0.  Dähnhardt,  Natursagen,  eine  Sammlung  naturdeutender  Sagen,  Märchen, 
F;ibeln  und  Legenden,  Bd.  .''.:  Tiersagen,  erster  Teil.  Leipzig,  Teubner  1!>10.  XVI,  55S  S. 
15  Mk.  —  Zu  S.  11  (Viel  Geschrei  und  wenig  Wolle)  verweise  ich  noch  auf  Neubauer, 
oben  L3,  342;  zu  S.  21(5  (Floh  und  Fliege)  auf  Polivka,  oben  15,  105;  zu  S.  3S2  (Ent- 
deckung durch  Spiegelbild  im  Wasser)  auf  R.  Köhler,  oben  G,  G4. 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  183 

pflanze  stellt  Dubsky1)  nach  Polivka  zusammen.  (her  die  Bedeutung  Indiens 
für  die  Herkunft  der  europäischen  Märchen  äussert  sich  Forke2)  ziemlich  gering- 
schätzig. Unter  den  rund  1400  Märchen,  die  in  den  Jatakas,  Avadanas,  im 
Paiicatantra,  Kathasarit-sägara  und  andern  alten  indischen  Sammlungen  enthalten 
sind,  will  er  höchstens  15  Episoden  oder  ganze  Erzählungen  anerkennen,  die  in 
etwa  400  deutschen  Märchen  wiederkehren.  Gegen  R.  Köhler,  Cosquin  und  Aarne 
tritt  er  in  den  meisten  Fällen  mit  Bedier  und  A.  Lang  für  die  Polygenesie  der 
Märchen  ein;  die  Arbeiten  v.  d.  Leyens  und  Hertels  Tanträkhyäyika  werden  von 
ihm  ebenso  wenig  erwähnt  wie  Chauvins  Bibliographie  arabe. 

Indische  Parallelen  zu  den  Erzählungen  vom  Ursprünge  des  "Weines  (Gesta 
Romanorum  159)  und  der  Unfruchtbarkeit  des  Maultieres  (Dähnhardt  1,  292)  und 
vom  Heilwunsche  beim  Niesen  (oben  8,  395)  liefert  Oertel3),  der  für  die  erst- 
genannte Sage  auch  indischen  Ursprung  vermutet.  —  In  dem  Märchen  vom  dank- 
baren Toten,  dessen  Leiche  der  Held  vor  der  Misshandlung  der  Gläubiger  rettet, 
hatte  schon  Simrock  eine  rechtshistorische  Sage  erblickt;  ihm  stimmt  Huet4)  bei, 
indem  er  auf  einen  noch  1870  auf  den  Molukken  geübten  Brauch  hinweist,  nach 
welchem  das  Begräbnis  erst  stattfinden  darf,  nachdem  die  Angehörigen  die  Schulden 
des  Verstorbenen  bezahlt  haben.  Das  Alter  dieses  Märchens  erhellt  aus  der  Tat- 
sache, dass  es  bereits  dem  apokryphischen  Buche  Tobit  zugrunde  liegt,  wo  freilich 
nicht  der  Totenbestatter,  sondern  sein  Sohn  die  reiche,  von  einem  argen  Dämon 
gehütete  Erbin  heimführt.  Wie  die  sorgfältigen  Untersuchungen  von  Müller  und 
Smend5)  zeigen,  hat  die  jüdische  Verkleidung  in  dem  um  200  v.  Chr.  aramäisch  (?) 
niedergeschriebenen  Romane  nicht  alle  heidnischen  Züge  (die  Zaubermittel,  den 
Hund  des  Helden,  die  Namen  Tobit  und  Asmodaios)  beseitigt:  und  auch  der 
Roman  vom  weisen  Achikar,  auf  den  im  Buche  Tobit  angespielt  wird,  weist  eine 
ähnliche  Mischung  aus  heidnischen  und  jüdischen  Elementen  auf.  Da  uns,  ab- 
gesehen von  einem  kürzlich  in  Ägypten  entdeckten  Papyrus,  nur  spätere  Fassungen 
dieser  zwei  verschiedene  Motive,  den  Verrat  des  Adoptivsohnes  und  die  Recht- 
fertigung des  in  Ungnade  gefallenen  Weisen,  vereinigenden  Erzählung  erhalten 
sind,  so  ist  die  Entscheidung  der  seit  1894  diskutierten  Frage  nicht  leicht.  Wahr- 
scheinlich aber  ward  die  älteste  Gestalt  des  Achikar-Romans  während  der  Kämpfe 
zwischen  den  Seleuciden  und  Ptolemäern  in  aramäischer  Sprache  abgefasst,  und 
deutliche  Einwirkungen  gingen  von  ihrer  späteren  griechischen  Übertragung  in 
die  griechische  Vita  Aesopi  und  in  die  äsopischen  Fabeln  über.  —  Das  Märchen 
vom  überlisteten  Menschenfresser  bildet  das  Thema  einer  vortrefflichen  Arbeit 
von  Cosquin6).     Während    in    einer  um  1000  aufgezeichneten  indischen  Version 


1)  0.  Dubsky,  Les  contes  populaires  sur  l'origine  du  tabac  (Revue  des  trad.  pop. 
24,  161—168). 

2)  Forke,  Die  indischen  Märchen  und  ihre  Bedeutung  für  die  vergleichende  Märchen- 
forschung.    Berlin,  K.  Curtius  1911.   TT  S.  1,80  Mk. 

'■'<)  H.  Oertel,  Contributions  from  the  Jfiiinimya  brabmana  (Transactions  of  the 
Connecticut  Academy  of  arts  and  sciences  15,  155— 21G.    1909). 

4i  G.  Huet,  Le  conto  du  mort  reconnaissant  et  une  coutüme  de  l'ile  de  Timor 
(Revue  des  trad.  pop.  24,  305—310  . 

5)  Job.  Müller,  Beiträge  zur  Erklärung  und  Kritik  des  Baches  Tobit.  —  Rud. 
Smend,  Alter  und  Herkunft  des  Achikar-Romans  und  sein  Verhältnis  zu  Aesop.  Giessen, 
Töpelmann  1908.    125  S.   4,40  Mk.    (Beiheft  13    zur   Zs.    f.  d.  alttestamentl.  Wissenschaft.) 

<>)  E.  Cosquin,  Le  conte  de  la  chaudiere  bouillante  et  la  feinte  maladresse  dans 
Finde  et  hors  de  rinde.  Rennes  1910.  58  S.  (=  Revue  des  trad.  pop.  2."),  1  — IS.  65-86. 
126-141).  —  Nachtrag  von  A.  de  Cock,  ebd.  25,  207 f. 


184  Bolte: 

der  durch  einen  lachenden  Schädel  gewarnte  Vikramäditya  der  Aufforderung-  des 
tückischen  Div,  den  auf  dem  Feuer  stehenden  Kessel  zu  umwandeln,  die  Bitte 
entgegensetzt,  ihm  dies  vorzumachen,  und  dabei  den  Dämon  in  die  siedende  Flut 
hineinstösst,  ist  in  andern  Fassungen  ein  Hineinschieben  in  den  Backofen  (Hansel 
und  Gretel)  oder  eine  Enthauptung  an  die  Stelle  des  Kessels  getreten:  oder  der 
Held  tötet  nicht  die  Hexe  selber,  sondern  überlistet  deren  Tochter,  die  ihn 
schlachten  sollte,  und  setzt  ihr  Fleisch  der  Mutter  vor.  Diese  Motive,  ihre  Um- 
gestaltung und  Kombination  mit  andern  Elementen  werden  gründlich  und  scharf- 
sinnig durch  die  weitschichtige  Literatur  verfolgt  und  der  Ursprung  des  Typus  in 
Indien  gesucht.  —  Umgekehrt  schreibt  Aarne1),  dessen  musterhafte  Untersuchung 
über  die  Märchen  vom  Zauberringe,  vom  Zaubervogel  und  von  Fortunat  oben  18r 
452  erwähnt  wurde,  in  einem  würdigen  Seitenstücke  dazu  dem  Märchen  von  dem 
Speisen  spendenden  Tischtuch,  dem  Goldesel  und  dem  von  selbst  schlagenden 
Knüppel  europäischen,  genauer  südeuropäischen  Ursprung  zu.  Die  besonnene  Be- 
trachtung von  mehr  als  220  Aufzeichnungen  aus  dem  Volksmunde  und  von  drei 
'Buchvarianteiv  in  Basiles  Pentamerone  (1G37),  in  der  georgischen  Sammlung 
Orbelianis  (um  1700)  und  im  mongolischen  Siddhi-Kür  führt  ihn  zur  Scheidung- 
von  drei  Typen  des  Märchens,  in  denen  entweder  drei  oder  zwei  oder  eine  Zauber- 
gabe auftritt,  und  die  sich  mehrfach  gegenseitig  beeinflusst  haben.  Die  älteste 
Form  mit  den  drei  Gaben  drang  aus  Italien  nach  Norden  und  scheint  in  Däne- 
mark zu  dem  Typus  mit  der  vom  Teufel  erhaltenen  Zaubermühle  umgestaltet 
worden  zu  sein.  In  Finnland  existieren  alle  drei  Formen  nebeneinander;  der 
Geber  der  Wunderdinge  ist  hier  häufig  der  Frost  oder  der  Wind.  —  Auf  alte 
keltische  Überlieferungen  führt  v.  Sydow2)  die  eigentümliche,  in  Snorris  Edda 
berichtete  Fahrt  Thors  nach  Utgard  zurück;  besonders  ausführlich  legt  er  dar, 
dass  wir  in  die  Wiederbelebung  der  im  Bauernhause  geschlachteten  Böcke  Thors, 
an  denen  aber  ein  Beinknochen  beschädigt  ist,  eine  bereits  im  griechischen 
Altertum  begegnende  Sage  vor  uns  haben,  die  sich  zu  vier  verschiedenen  Typen 
entwickelt:  1.  die  Schulter  des  Pelops,  2.  die  von  Hexen  verzehrte  und  belebte 
Kuh  des  Bauern,  3.  die  schon  796  bei  Nennius  angeführte  Legende  vom  h. 
Germanus,  4.  die  Thor-Sage  und  ähnliche  irische  Heiligenlegenden.  —  Um  eine 
Wiederbelebung  handelt  sichs  auch  in  der  von  Zwierzina3)  erläuterten  koptischen 
Legende  vom  Apostel  Bartholomäus  aus  dem  5.  bis  6.  Jahrh.  Dieser  wird  samt 
seinen  Genossen  von  den  Heiden  dreimal  verbrannt,  gekreuzigt,  zersägt,  wieder 
verbrannt  und  die  Asche  ins  Meer  geworfen,  doch  immer  wieder  erstehen  sie  zum 
Leben.  Dies  Motiv,  das  die  dem  Christen  zuteil  gewordene  Erlösung  vom  Tode 
sinnfällig  darstellt,  ist  dann  in  die  Legenden  von  Christophorus,  Georg,  Quiricus 
übergegangen.  Z.  vergleicht  damit  das  Märchen  vom  Lebenswasser;  gehören  aber 
nicht  auch  die  Märchen  von  der  Wiederkehr  der  in  einen  Vogel  oder  eine  Pflanze 
verwandelten  Seele  Ermordeter  (Grimm  47.  130.  135)  hierher?  An  den  von 
A.  v.  Löwis  (oben  20,  45— 5G)  beleuchteten  Übergang  der  Gregoriuslegende  zu 
einem  armenischen  Märchen  brauche  ich  unsre  Leser  nur  zu  erinnern.  —  Gegen 
Farinelli,  der  dem  1630  gedruckten  Drama  'El  burlador  de  Sevilla'  die  Originalität 


1)  A.  Aarne,  Die  Zaubergaljen,  eine  vergleichende  Märchenuntersuchung.  Helsing- 
fors  1909.    (Journal  de  la  socicte  finno-ougrienne  27,  1 — 96). 

2)  C.  W.  v.  Sydow,  Tors  färd  tili  Utgärd  (Danske  studier  1910,  65—105.  145-182). 

3)  K.  Zwierzina,  Die  Legenden  der  Märtyrer  vom  unzerstörbaren  Leben  (Inns- 
brucker Festgruss  dargebracht  der  .X).  Versammlung  deutscher  Philologen  in  Graz  1909 
S.  130-158). 


Belichte  und  Bücheranzeigen.  185 

absprach,  ist  Armeto1)  als  Verteidiger  des  spanischen  Ursprunges  der  Don  Juan- 
Sage  aufgetreten.  Wir  sind  ihm  für  die  Mitteilung  dreier  galizischer  Romanzen 
von  dem  zum  Nachtmahle  geladenen  Totenschädel  (S.  34),  vier  galizischer  Volks- 
sagen von  der  geladenen  Statue  (S.  45)  und  einer  Romanze  aus  ßurgos  gewiss 
dankbar;  nur  können  wir  diese  neuerdings  aufgezeichneten  Stücke  nicht  als  voll- 
gültigen Beweis  für  seine  These  ansehen,  zumal  die  zahlreichen  ausländischen 
Zeugnisse  für  die  Sage,  die  1900  von  mir,  1903  von  d'Ancona,  1906  von  Gendarme 
de  Bevotte  angeführt  wurden,  von  ihm  unberücksichtigt  blieben.  Seitdem  haben 
auch  A.  de  Cock  (oben  20,  331)  und  Klapper  (oben  20,  92  3)  wichtige  neue  Funde 
gemacht.  —  Jones2)  versucht,  die  märchenhaften  Elemente  in  einem  französischen 
Epos  des  13.  Jahrh.,  dem  Cleomades  des  Adenet  le  Roi,  festzustellen;  allein  statt 
von  dessen  längst  nachgewiesenem  Vorbilde,  einer  Erzählung  der  1001  Nacht 
(Chauvin,  Bibliographie  arabe  5,  221)  und  von  den  charakteristischen  Zügen,  dem 
hölzernen  Zauberpferde  und  dem  verstellten  Wahnsinn  der  bedrängten  Jungfrau 
(oben  15,  3G5)  auszugehen,  zieht  er  allerlei  fernstehende  Motive,  das  Goldener- 
märchen, die  Luftreise,  die  kunstreichen  Gefährten  u.  a.,  heran.  -  -  Dagegen  dürfen 
wir  die  umfängliche  Arbeit  Wallenskölds3)  über  die  Sage  von  der  durch  ihren 
Schwager  bedrängten  keuschen  Frau  als  eine  gelehrte  und  gediegene  Übersicht 
über  ein  grosses  Gebiet  bezeichnen.  Die  aus  dem  Orient  (Tuti-nameh)  nach 
Europa  gedrungene  Novelle  hat  dort  fünf  Sprossen  getrieben:  1.  die  Fassung  der 
Gesta  Romanorum,  2.  Florence  de  Rome,  3.  Marienmirakel,  4.  Crescentia,  5.  Hilde- 
gardis.  Den  ausführlichen  Nachweisungen  sind  verschiedene  bisher  unedierte 
Texte  beigegeben.  Da  in  den  drei  ersten  Versionen  Ungarn  eine  Rolle  spielt, 
wagt  Karl  die  Vermutung,  schon  bald  nach  ihrem  Tode  sei  die  h.  Elisabeth  von 
Ungarn  (7  1231)  von  den  Franziskanern  als  ein  Exempel  der  verfolgten  keuschen 
Frau  aufgestellt  und  so  in  die  Sage  eingeführt  worden.  —  Zu  dem  Märchen  vom 
Mädchen  ohne  Hände  teilt  Suchier4)  eine  lateinische  Novelle  'Ystoria  regis 
Franchorum  et  filie',  die  er  schon  in  seiner  gründlichen  Einleitung  zu  Beaumanoir 
besprochen  hatte,  aus  einer  Pariser  Hs.  v.  J.  1370  mit.  —  Dem  Märchen  von 
Sneewittchen,  auf  dessen  Verwandtschaft  mit  der  französischen  Bertha-Sage 
Johnston5)  aufmerksam  macht,  widmet  Böklen6)  eine  ausführliche  Untersuchung, 
deren  erster  Teil  eine  dankenswerte  Zusammenstellung  von  75  Aufzeichnungen 
aus  Europa,  Afrika  und  Brasilien  im  Auszuge  sowie  eine  Übersicht  der  30  Motive 
dieser  Versionen  bietet.  Hierbei  tritt  die  reiche  Erfindungsgabe  der  Erzähler 
hervor,  welche  die  verschiedenen  Teile  des  Märchens,  insbesondere  die  durch  ver- 
giftete oder  verzauberte  Speisen,  Kleidungsstücke,  Schmucksachen  usw.  herbei- 
geführte Tötung  der  Heldin,    die  Aufbewahrung,    Auffindung   und  Erweckung    der 


1)  V.  S.  Armesto,  La  lejenda  de  Don  Juan,  origenes  poeticos  de  El  burlador  de 
Sevilla  y  convidado  de  piedra.     Madrid,  Hernando  1908.    303  S. 

2)  H.  S.  V.  Jones,  The  Ok-omades  and  related  folktales  (Publications  of  the  Modern 
language  society  of  America  23,  557—598). 

3)  A.  Wallensköld,  Le  conte  de  la  femme  chaste  convoitee  par  son  beau-frere 
(Acta  societatis  scientiarum  fennicae  34,  1.  1907.  174  S.  4°).  —  L.  Karl,  Florence  de 
Rome  et  la  vie  de  deux  saints  de  Hongrie  (Revue  des  langues  rom.  52,  Hi:'> — 180). 

4)  H.  Suchier,  La  fille  sans  mains  (Romania  39,  61 — 76). 

5)  0.  M.  Johnston,  The  legend  of  Berte  aus  grans  pies  and  the  märchen  of  Little 
Snow-white  (Revue  des  langues  romanes  51,  545—547). 

6)  E.  Böklen,  Sneewittchenstudien,  1.  Teil:  75  Variauten  im  engern  Sinn  gesammelt 
und  unter  sich  selbst  verglichen.  Leipzig,  Hinrichs  1910.  172  S.  6  Mk.  (Mythologische 
Bibliothek  III,  2). 


186  ßolte: 

Leiche  oder  Verwandlung  in  einen  Vogel  und  die  Entzauberung,  vielfach  variieren. 
Zahlreich  sind  namentlich  die  italienischen  Fassungen.  Die  ferner  stehenden 
indischen  Märchen  und  die  nur  teilweise  verwandten  sieben  Raben  oder  Dornröschen 
werden  absichtlich  übergangen,  da  erst  der  2.  Teil  die  Vergleichung  mit  andern  Stoffen 
und  die  mythologische  Deutung  bringen  soll.  Bleich1)    ergänzt  die  bekannte 

Aschenbrödel-Monographie  der  Miss  Cox  (die  bei  Böklen  Coax  und  bei  van 
Gennep  Coxe  heisst)  durch  eine  Betrachtung  der  literarischen  Fassungen  dieses 
Märchens;  nachdem  er  die  Erzählungen  von  Basile,  Grimm  und  Perrault 
charakterisiert  hat,  wendet  er  sich  zu  den  Dramen  von  Etienne,  Piaten,  Grabbe, 
Benedix,  Hopfen,  Kotzebue,  sodann  zu  den  Opern,  Ballets  und  Jugendschriften,  in 
denen  zumeist  Perraults  Einfluss  zu  spüren  ist.  —  Angeregt  durch  seinen  Lehrer 
Voretzsch,  untersucht  Class2)  in  einer  tüchtigen  Doktorarbeit,  wie  weit  die 
Schilderung  der  Tiercharaktere  im  altfranzösischen  Epos  'Renart'  mit  der  Natur 
übereinstimmt,  und  kommt  zu  dem  Ergebnis,  dass,  obwohl  der  Dichter  wie  schon 
seine  Quelle,  die  mündlich  überlieferten  Tiermärchen,  manches  ins  Unwahrschein- 
liche, ja  ins  Phantastische  steigert,  doch  der  Grundcharakter  des  Fuchses,  des 
Bären,  der  Haustiere,  der  Vögel,  insbesondere  der  Meise,  von  ihm  mit  einer  oft 
verblüffenden  Naturtreue  wiedergegeben  wird.  Wenn  dagegen  der  Wolf,  seinem 
wirklichen  Wesen  zuwider,  zu  einem  dummen,  tölpelhaften  Tiere  gestempelt  wird, 
so  liegt  das  an  der  Absicht  des  Dichters,  einen  Gegenspieler  zu  dem  listigen  und 
gewandten  Fuchse  zu  gewinnen.  Vielleicht  ist  der  Wolf  erst  nachträglich  unter 
dem  Einfluss  der  antiken  Fabel  an  Stelle  des  zum  Gegenspieler  des  Fuchses 
besser  geeigneten  Bären  getreten,  wie  schon  Krohn  vermutet  hat.  Zum  Schlüsse 
sucht  C.  durch  Vergleichung  des  Ysengrimus,  der  Fabeln  der  Marie  de  France 
und  paralleler  Märchen  die  Urform  von  12  Abenteuern  im  Renart  (der  Fischfang 
mit  dem  Schwänze,  Fischdiebstahl  des  Fuchses,  Fuchs  und  Wolf,  Pilgerfahrt  der 
Tiere,  Fuchs  und  Hahn  usw.)  zu  ermitteln,  indem  er  gleich  Krohn  einen  selb- 
ständigen europäischen  Fuchsmärchenzyklus  voraussetzt.  —  Keinen  Gewinn  für 
uns  bedeutet  eine  Schrift  über  Perraults  Märchen  von  Tesdorpf3),  da  dieser 
bunten  Reihe  von  allerlei  bibliographischen,  literarhistorischen  und  biographischen 
Notizen  das  rechte  Augenmass  und  die  Kenntnis  der  neueren  Märchenforschung 
abgeht.  —  Weitaus  eingehender  und  gehaltvoller  ist  die  Würdigung  ausgefallen, 
die  Fräulein  Sperber4),  vermutlich  eine  Schülerin  S.  Singers,  der  vortrefflichen 
lothringischen  Märchensammlung  von  Cosquin  angedeihen  lässt.  Umsichtig,  wenn 
auch  etwas  ungleichmässig  prüft  sie  die  Güte  der  Überlieferung,  den  ethischen 
und  den  ästhetischen  Gehalt  dieser  sämtlich  aus  dem  Munde  eines  einzigen  jungen 
Mädchens  herstammenden  Erzählungen,  indem  sie  die  vom  Herausgeber  so  bequem 
bereitgelegten  Varianten  zur  Vergleichung  heranzieht.  25  von  den  75  Nummern 
zeigen  Lücken  und  Störungen,  sind  also  unvollkommen  überliefert.  Die  Legenden 
und  Schwanke,  die  für  den  ethischen  Charakter  vor  allem  in  Betracht  kommen, 
werden  namentlich  auf  ihr  Verhältnis  zum  Christentum  und  zum  Aberglauben,  auf 
die  Freude    an    der    Scherzlüge,    an  Betrug    und  List,    auf   die  Abneigung   gegen 


1)  0.  Bleich,  Das  Märchen  vom  Aschenbrödel,  vornehmlich  in  der  deutschen  Volks- 
und Kunstdichtung  (Zs.  f.  vergl.  Literaturgeschichte  18,  55—102). 

2)  H.  Class,  Auffassung  und  Darstellung    der  Tierwelt  im  französischen  Roman  de 
Renart.    Diss.    Tübingen,  Schnürlen  1910.    XIV,  133  S. 

3)  P.  Tesdorpf,    Beiträge    zur  Würdigung  Charles  Perraults    und  seiner  Märchen. 
Stuttgart,  Kohlhammer  1910.    86  S.    2  Mk. 

4)  Alice  Sperber,  Charakteristik  der  Lothringer  Märchensammlung  von  E.  Cosquin. 
B<  raer  Diss.    Wien  1908.   X,  98  S. 


Berichte  und  Büclieranzeigen.  IST 

Geistliche  und  Gutsherrn,  auf  die  Bestrafung  des  Hochmuts  hin  ausführlich  durch- 
genommen und  bisweilen  auch  die  Entwicklung  eines  Stoffes  nach  diesen  Gesichts- 
punkten skizziert.  Kürzer  fällt  die  ästhetische  Charakteristik  aus,  da  die  gerade 
hierfür  in  Betracht  kommenden  Wundermärchen  nicht  gut  erzählt  sind,  die  Dar- 
stellung überhaupt  knapp  gehalten  und  die  formelhaften  Wendungen  nicht  besonders 
zahlreich  sind.  Für  die  Erforschung  der  Märchen  der  verschiedenen  Volksstämme 
Siebenbürgens  entwirft  Schullerus1)  ein  Programm:  was  haben  die  einzelnen 
Stämme  für  nationales  Sondergut  mitgebracht,  was  haben  sie  gemeinsam  von  aussen 
empfangen,  was  haben  sie  in  Siebenbürgen  selbst  hervorgebracht?  -  Das  Thema 
der  den  Mörder  ihres  Gatten  tötenden  Frau  verfolgt  Anderson2)  in  einer  Er- 
zählung des  Apuleius  (Charite),  Plutarch  (Kamma),  sowie  in  vier  kaukasischen 
Märchen,  ohne  sich  für  die  gemeinsame  Abstammung  zu  entscheiden;  vom 
Nibelungenliede  unterscheiden  sich  jene  Erzählungen  dadurch,  dass  der  Mord  aus 
leidenschaftlicher  Liebe  zu  der  Gattin  des  Erschlagenen  geschieht. 

Für  die  Geschichte  der  Schwankstoffe  wird  sich  Lees3)  Werk  über 
Boccaccios  Decameron  nützlich  erweisen.  Fleissig  hat  der  Vf.  die  von  andern 
Gelehrten  nachgewiesenen  Bearbeitungen  der  darin  enthaltenen  Novellen  zusammen- 
getragen, ohne  jedoch  dabei  Boccaccios  Verhältnis  zu  seinen  Quellen  oder  das 
Verfahren  der  verschiedenen  Nachahmer  näher  zu  untersuchen.  Einiges,  wie 
Goetzes  Veröffentlichung  von  Hans  Sachsens  Schwänken,  ist  ihm  entgangen.  — 
Für  den  Schwank  von  der  neuen  Sündflut  und  der  Rache  des  Schmiedes  an  seinem 
Nebenbuhler,  zeigt  Barnouw4)  drei  Entwicklungsstufen  auf:  1.  eine  noch  unedierte 
nid.  Boerde  des  14.  Jahrh.  von  Heile  van  Bersele,  2.  V.  Schumanns  Nachtbüch- 
lein 1559  Nr.  2,  3.  Chaucers  Milleres  tale  und  eine  lateinische  Dichtung  von 
Cropacius  (1581).  Die  Vorlagen  aller  drei  Versionen  sucht  B.  in  verlorenen 
französischen  Fabliaux.  —  Zu  den  1901  von  Pillet  verfolgten  Bearbeitungen  des 
Fablels  von  den  drei  Buckligen  trägt  Galos5)  vier  ungarische  Fassungen  nach: 
eine  1573  gedruckte  Übersetzung  der  Historia  septem  sapientum,  eine  um  1820 
von  A.  Madass  verfasste  Bearbeitung  Gueulettes  und  zwei  Volksmärchen.  — 
01iverr)  mustert  sorgfältig  alle  bekannten  Versionen  der  beiden  in  der  fran- 
zösischen Farce  vom  Maitre  Pathelin  vereinigten  Schwanke  und  fügt  auch  weitere 
dänische,  jüdische  und  indische  Erzählungen  von  dem  Beklagten  hinzu,  der  vor 
Gericht  nur  ein  Blöken,  einen  Pfiff  oder  eine  Ableugnung  hören  lässt  und  nach 
seiner  Freisprechung  auch  den  Bezahlung  heischenden  Advokaten  ebenso  äfft. 
Vgl.  dazu  noch  oben  16,  34 1.  —  Eine  öfter  erzählte  Anekdote  von  König  Friedrich 
Wilhelm  I.,    der    eine    lange  Dienstmagd    mit    einem  langen  Grenadier  kopulieren 


1)  A.  Schullerus,  Siebenbürger  Märchen;  zur  Methodik  der  Märchenforschung 
(Mitt.  des  Verb,  dtsch.  V.  f.  Volkskunde  Nr.  10,  8-11). 

2)  W.  Anderson,  Zu  Apuleius'  Novelle  vom  Tode  der  Charite  (Philologus  68,  .">;;7 
bis  :>49.) 

3)  A.  C.  Lee,  The  Decameron,  its  sources  and  analogues.  London,  ü.  Nutt  L909. 
XVI,  3G3  S.  8".  —  Völlig  unzulänglich  ist  das  Büchlein  von  Miss  F.  N.  Jones,  Boccaccio 
and  his  imitators  in  german,  english,  french,  spanish  and  italian  literature.  Chicago, 
University  press  1910.    IV,    IG  S. 

4)  A.  J.  Barnouw,  The  milleres  tale  van  Chaucer.  15  S.  (aus  Handelingcn  van  het  6. 
nederlandsche  Philologencongres  191'»  . 

•"»)  R.  Gälos,  Ungarische  Varianten  der  Geschichte  von  den  drei  Buckligen  und  ver- 
wandter Erzählungen  (Zs.  f.  vergl.  Literaturgeschichte  18,  103 — 114). 

<j)  Th.  E.  Oliver,  Some  analogues  of  Maistre  Pierre  Pathelin  (Journal  of  american 
folk-lore  22,  395—430).  —  L.  Jordan,  Zwei  Beiträge  zur  Geschichte  und  Würdigung  des 
Schwankes  vom  Advokaten  Pathelin  (Archiv  f.  n.  Sprachen  123,  342—352). 


188  Holte: 

lassen  will  und  sie  mit  einem  Brief  zum  Kommandanten  von  Potsdam  schickt, 
dann  aber  hören  muss,  dass  an  ihrer  Stelle  eine  kleine  alte  Frau  mit  jenem 
getraut  worden  ist,  wird  von  Damköhler1)  als  unhistorisch  erwiesen;  denn  die- 
selbe Geschichte  begegnet  schon  1713 — 1714  in  der  Römischen  Octavia  des 
Herzogs  Anton  Ulrich  von  Braunschweig  5,  63. 

Unter  den  Textsammlungen,  denen  wir  uns  nunmehr  zuwenden,  haben 
wir  auf  deutschem  Gebiete  zunächst  der  neuen,  nahezu  unveränderten  Auflage  von 
Dähnhardts2)  Märchenbuch  zu  gedenken,  das  durch  eine  Auslese  aus  Haltrich, 
Kuhn,  Müllenhofr,  Pröhle,  Simrock,  Zingerle  u.  a.  die  Grimmsche  Sammlung  vor- 
trefflich ergänzt.  Eine  willkommene  Überraschung  für  viele  Leser  werden  die 
aus  dem  Nachlasse  des  Dichters  und  Malers  Wilhelm  Busch3)  herausgegebenen 
Märchen.  Sagen  und  Lieder  aus  seinem  Heimatsdorfe  Wiedensahl  im  Hannoverschen 
bilden.  Hier  erhalten  wir  wertvolle,  echte  Volksüberlieferungen,  teils  in  der 
Mundart,  teils  in  hochdeutscher  Fassung,  die  vor  etwa  60  Jahren  aufgezeichnet 
wurden,  aber  erst  190O  in  einzelnen  Proben  im  Niederdeutschen  Korrespondenz- 
blatt zur  Veröffentlichung  gelangten.  Auf  die  Lieder  soll  später  eingegangen 
werden;  hier  notiere  ich  von  den  41  Märchen:  Nr.  1  De  Häister  un  de  willen 
Duben  (Wossidlo,  Mecklenburg.  Volksüberlieferungen  2,  47);  2  Die  schwarze 
Prinzessin  (R.  Köhler,  Kl.  Schriften  1,  320);  6  Das  harte  Gelübde  (Wossidlo 
1,  222) ;  7  Die  böse  Stiefmutter  (Grimm,  KHM.  nr.  24);  9  Königin  Isabelle  (Grimm  94): 
10  Die  bestrafte  Hexe  (Grimm  11.  135);  12  Kükeweih  (Grimm  27);  14  Bauer 
Pihwitt  (Grimm  61);  15  Muschetier,  Grenadier  und  Pumpedier  (Köhler  1,  543); 
16  Der  dumme  Hans  (Grimm  143.  Frey,  Gartengesellschaft  Nr.  1);  17  Der  kluge 
Bauer  (Grimm  7);  18  Des  Totengräbers  Sohn  (oben  20,  273 — 278):  19  Rettungs- 
rätsel (Wossidlo  1,  216);  20  Die  launische  Ziege  (Grimm  36);  22  Der  Königssohn 
mit  der  goldenen  Kette  (Köhler  1,  5 — 39);    23  Der  Königssohn  Johannes    (Köhler 

1,  161.  279);  24  Das  verwünschte  Schloss  (Grimm  93);  25  Drei  Königskinder 
(Grimm  96);  26  Der  kluge  Knecht  (H.  Sachs,  Fabeln  und  Schwanke  5,  181  nr.  717); 
27  Die  alte  Slüksche  (Boccaccio,  Decameron  7,  8.  v.  d.  Hagen,  Gesamtabenteuer 
nr.  43);  28  Die  zwei  Brüder  (Grimm  60);  29  Der  Schmied  und  der  Pfaffe  (Grimm 
64.    U.  Jahn,    Vm.  aus  Pommern  1,  239);    30    De  Rabe  un   de  Pogge    (Wossidlo 

2,  57);  31  Der  harte  Winter  (Euphorion  4,  29);  32  Der  Soldat  und  das  Feuer- 
zeug (Grimm  116):  33  Der  Bettler  aus  dem  Paradies  (Frey  nr.  61);  34  Der  ver- 
wunschene Prinz  (Grimm  1):  35  Das  Hemd  des  Zufriedenen  (R.  Köhler,  Aufsätze 
1894  S.  118);  36  Der  Herrgott  als  Pate  (Köhler  1,  537);  37  Aschenpüeling  (Grimm  21); 
3S  Friedrich  Goldhaar  (Köhler  1,  330.  388);  39  Der  Schweinejunge  und  die 
Prinzessin  (Köhler  1,  428.  464);  40  Der  Mordgraf  (Grimm  40);  41  Hans  Hinrich 
Hildebrand  und  der  Pfaffe  (Grimm  95).  Auch  einige  Zeichnungen  Buschs.  die 
Märchenstoffe  zum  Gegenstande  haben,  werden  reproduziert.  —  In  einer  Gedenk- 
schrift  zur  100.  Wiederkehr  von  Reuters  Geburtstag  geht  Wossidlo4)  dem  sich  in 
Redensarten  und  Schwänken  äussernden  mecklenburgischen  Volkshumor  nach;  er 
steigt    zu    den    Quellen    hinab,     aus    denen    der   grosse    niederdeutsche    Humorist 


1)  E.  Damköhler,  Anekdotenübertragung  (Zs.  f.  d.  dtsch.  Unterricht  22,  595—599). 

2)  0.    Dähnhardt,    Deutsches    Märchenbuch,    1.  Bändchen.     2.  Auflage.     Leipzig, 
Teubner  1910.    V,  L53  S.  —  Zuerst  L903  erschienen. 

3)  W.  Busch,    Ut  üler  Welt.     Volksmärchen,    Sagen,    Volkslieder    und  Reime,    ge- 
sammelt.   München,  L.  Joachim  1910.    170  S.    3,50  Mk. 

I  ß.  Wossidlo,  Aus  dem  Lande  Fritz  Reuters.  Humor  in  Sprache  und  Volkstum 
Mecklenburgs.  Mit  einer  Einleitung  über  das  Sammeln  volkstümlicher  Überlieferungen. 
Leipzig,  0.  Wigan.l  1910.    IV.  211  S.    L',K»Mk. 


Berichte  uud  Bücheranzeigen.  1S1I 

schöpfte,  und  die  kein  anderer  so  gut  kennt  als  gerade  Wossidlo.  Zur  Einleitung 
dient  die  Schilderung,  die  er  unsern  Lesern  oben  10,  1  von  seiner  eigenen  Sammel- 
tätigkeit entworfen  hat  und  hier  mit  Kürzungen  und  Zusätzen  wieder  abdruckt: 
dann  folgen  12  Kapitel  vom  Tanzen,  vom  Jungenleben,  von  Schlägereien,  Ernte- 
arbeit, ländlichem  Hofhalt,  Schäfern  und  andern  Gewerken,  Tiermärchen,  Redens- 
arten beim  Kartenspiel,  Schildbürgerstreichen  und  andern  Schwänken,  alle  ungemein 
reichhaltig  und  voll  echten  Volksgutes.  Nicht  um  dem  kundigen  Autor  etwas 
Neues  zu  bringen,  sondern  um  die  Schwankthemata  zu  charakterisieren,  gebe  ich 
einige  Nachweise:  S.  90  Die  drei  Muhmen  (Grimm,  KHM  14),  91  Das  Fieber  in 
der  Jagdtasche  (oben  15,  105),  92  Die  faule  Bauerntochter  (oben  18.  53),  93  Der 
schlaue  Bauer  (Simrock,  Märchen  S.  248),  94  Verkauf  der  Kuh  (R.  Köhler  1,  99), 
96  Der  Tod  als  Huhn  (Montanus  S.  57!»),  97  Peter  Ott  (Frey  S.  284),  98  Die 
lispelnden  Schwestern  (oben  3,  58.  7,  320.  Böhm,  Lett.  Schwanke  nr.  12),  9!»  Die 
Scharfsichtige  (Busch  S.  12).  101  Wahrheit  findet  keine  Herberge  (Pauli,  Schimpf 
und  Ernst  3),  1<>4  Der  Advokat  (Montanus  S.  609),  134  Der  Schäfer  (oben  7,  97), 
136  Das  Aufgebot  (oben  1(5,  292),  139  Der  Schneider  in  Ängsten  (H.  Sachs, 
Fabeln  2,  472.  5,  74),  141  Wie  die  Schmiede  das  Schweissen  lernten  (oben  16, 
28<s),  144  Der  Bauer  in  der  Apotheke  (Bl.  f.  pomm.  Volksk.  7,  40),  145  Das  Gelübde 
des  Schiffers  (Wickrain,  Werke  3,  361),  154  Warum  die  Schweine  in  der  Erde 
wühlen  (oben  17.  133),  156  Fuchs  und  Eichhörnchen  (Grimm  75),  157  Fuchs  und 
Holztaube  (Kirchhof,  Wendunmut  3,  128),  Fuchs  und  Wolf  (Grimm  2),  161  Mäuschen 
und  Mettwürstchen  (oben  15,  344),  191  Der  Zornbraten  (R.  Köhler  3,  43.  Bl.  f. 
pomm.  Vk.  6,  6.  8,  101).  198  Vom  Bauernjungen,  der  studieren  soll  (Montanus 
S.  594),  200  Adam  und  Eva  (Köhler  3,  13),  203  Der  Geldfund  (zur  Schule  gehen: 
oben  18.  457.  19,  94.  Speckregen:  Köhler  1,  342),  206  Lügenmärchen  (Köhler 
1,  322),  207  Döshans  (Montanus  S.  (i02),  208  Peterleewing  (Montanus  S.  591).  — 
In  Holstein  ist  Wisser1)  seit  1894  eifrig  beschäftigt,  den  im  Landvolke  lebenden 
Märchenschatz,  der  in  Müllenhoffs  berühmter  Sagensammlung  (1845)  und  seinen 
hinterlassenen  hsl.  Materialien  bei  weitem  nicht  ausgeschöpft  wurde,  zu  bergen 
und  hat  ausser  den  drei  Bändchen  'Wat  Grotmoder  verteilt'  viele  einzelne  Nummern 
in  Zeitschriften  veröffentlicht.  Jetzt  erstattet  er  Bericht  über  seine  Erzähler  und 
Erzählerinnen,  unter  denen  sich  einzelne  auch  freie  Erfindungen  erlaubten,  und 
über  deren  Vortragsweise  (Exposition  im  Perfekt.  Erzählung  im  Präsens),  sowie 
über  die  Retouchen,  die  er  selber  an  einzelnen  Stücken  vor  der  Publikation  vor- 
genommen hat.  In  der  von  ihm  geplanten  wissenschaftlichen  Ausgabe  sollen  je 
1  bis  2  unter  den  10  bis  20  Fassungen  eines  Märchens  wörtlich  treu  wiedergegeben 
werden  und  von  den  übrigen  ein  Auszug.  —  Wenig  ist  diesmal  aus  dem  mittel- 
und  oberdeutschen  Sprachgebiete  zu  berichten.  Ausser  einigen  schlesischen  Sagen 
und  Märchen  von  Drechsler2)  und  sächsischen  Lügenerzählungen  und  Liedern 
von  Curt  Müller'5)    erschien    eine  populäre  Zusammenstellung  deutschböhmischer 

1)  W.  Wisser,  Die  Entstehung  meiner  Märchensammlung  (Eckart  .">,  168  —  182).  — 
De  twee  Bröder  (Niedersachsen  15,  28  —  32).  —  Hansel  und  Gretel  (Die  Heimat,  Kiel  20, 
112—115).  —  Meine  Märchenwanderungen  auf  der  Insel  Fehmarn  (Fehmarnsches  Wochen- 
blatt 1909,  Nr.  131-133).  -  Der  weisse  Wolf  (ebd.  1910,  Nr.  66).  —  De  witt  Wulf.  De 
"1  Fritz  un  de  Bessenbinner.  Vun  Gnideln  un  Fidein  (Gemeinnütziger  Kalender,  Eutin 
1911).  —  Wie  das  Volk  erzählt  (Quickborn  I.  34—44.  Hamburg  1911).  —  G.  Fock, 
Märchen  von  der  Elbinsel  Finkenwärdcr  (Quickborn    I.    11—47). 

2)  P.  Drechsler,  Märchen  und  Sagen  aus  Oberschlesicn  (Mitt.  der  Schles.  Ges.  f. 
Volkskunde  11,  94—98). 

3)  Curt  Müller,  Lügenmärchen  aus  sächsischem  Volksmunde  (Mitt.  d.  V.  f.  sächs. 
Volkskunde  5,  121-127.  145-151.  189—193). 


15)0  Boltc: 

Überlieferungen  von  Parsche1)  aus  gedruckten  Quellen  wie  Musäus,  Grimm, 
Grohmann,  in  die  aber  fast  nur  Rübezahlgeschichten  und  andere  örtliche  und 
historische  Sagen  aufgenommen  sind  und  eigentliche  Märchen  fehlen.  Aus  der 
Schweiz  ist  F.  Heinemanns  vortreffliche  Bibliographie  der  Sagen  und  Märchen 
(oben  20,  331)  und  Niderbergers2)  uns  nicht  zu  Gesicht  gekommene  Unterwaldener 
Sammlung  anzuführen. 

In  Holland  teilte  Boekenoogen3)  zum  Doktor  Allwissend  und  zur  klugen 
Else  Aufzeichnungen  aus  Schwankbüchern  des  17.  Jahrhunderts  und  aus  neuerer 
Zeit  sagenhafte  Erzählungen  mit.  Aus  Schweden  erwähne  ich  eine  kleine  Sammlung 
von  Langer4),  aus  Wales  zwei  Bücher  von  Trevelyan  und  von  Brusot5), 
aus  dem  französischen  Teile  Belgiens  mehrere  Artikel  der  Wallonia6),  darunter 
eine  von  Leforgeur  mitgeteilte  Verbindung  der  dankbaren  Tiere  und  der  wunder- 
baren Gefährten  mit  dem  Märchen  von  dem  als  Diener  verkleideten  und  von  der 
verliebten  Königin  verleumdeten  Mädchen. 

In  Frankreich  hat  Sebillot7)  seinen  grossen  Verdiensten  um  die  Volks- 
überlieferungen seiner  bretonischen  Heimat  ein  neues  hinzugefügt,  indem  er  uns 
eine  allerliebste  Lese  'lustiger  Geschichten',  die  dort  umlaufen,  vorlegt.  Er  sucht 
damit  auch  die  seit  Chateaubriand  verbreitete  Vorstellung  von  der  stets  düstren 
und  finsteren  Gemütsstimmung  der  Bretonen  zu  widerlegen.  Die  97  Nummern 
enthalten  verbreitete  Schildbürgerstreiche,  die  den  Jaguens,  d.  h.  den  Einwohnern 
von  Saint-Jacut,  nachgesagt  werden,  Schwanke,  Tiermärchen,  Fabliaux  und  komische 
Predigten.  Ich  führe  einige  Beispiele  davon  an:  S.  26  L'äne  qui  devient  moine 
(R.  Köhler  1,  507),  50  L'epreuve  (oben  19,  92:  Sich  tot  stellen),  67  Le  marchand 
de  cuilleres  en  bois  (Bauer  als  Priester:  Wolf,  Hausmärchen  S.  430.  Pröhle,  Feld- 
garben 1859  S.  369.  Jahn,  Schwanke  und  Schnurren  S.  67.  Bl.  f.  porara.  Volks- 
kunde 4,  104.  Schneller,  M.  aus  Wälschtirol  Nr.  60,  3.  Revue  des  trad.  pop. 
23,  240.  Archiv  f.  siebenbg.  Landeskunde  33,  543.  Kristensen,  Fra  Bindestue 
1,  85.  Berntsen,  Folke-Aeventyr  1,  48),  73  Le  pere  Bernard  (Köhler  1,  ßö.  3,  104), 
77  Les  trois  bossus  (Frey,  Gartengesellschaft  1897  S.  281  zu  Schumann  Nr.  19), 
91  L'epi  de  ble  (Cosquin  Nr.  62),  105  Grand  vent  (Grimm  Nr.  36),  112  Celui  qui 
vient  du  paradis,  117  Le  soldat  de  Paris  (Wickram,  Werke  3,  391.  8,  315), 
114  Doktor  Allwissend    (Grimm    Nr.  98),    135    Poil    fin,    138    Le  meunier    et    son 


1)  J.  Parsche,  Märchen  und  Sagen  aus  Deutschböhmen,  für  Volk  und  Jugend  aus- 
gewählt.   Prag,  A.  Haase  [1909].    131  S.    3  Kr. 

2)  F.  Niderberger,  Sagen,  Märchen  und  Gebräuche  aus  Unterwaiden  1—2.  Sarnen, 
Selbstverlag  1909-1910.    172,  VI.  173,  VHS.  (vgl.  Schweizer.  Archiv  14,  90.  312  . 

3)  G.  J.  Boekenoogen,  Nederlandsche  Sprookjes  uit  de  17.  en  het  begin  der 
18.  eeuw  10—11  (Volkskunde  21,  7  —  21).  —  Nederlandsche  Sprookjes  en  Vertelsels  129 
bis  134  (Volkskunde  21,  76-78.  221-22.")). 

4)  Th.  L.  Langer,  Dalsländska  folksägner  samlade  och  utgifna.  Uddevulla, 
T.  Malmgrcn  1908.    40  S.    1  Kr. 

5)  Marie  Trevelyan,  Folklore  and  l'olk-stories  of  Wales,  with  an  introduction  by 
E.  S.  Hartland.  London,  Elliot  Stock  1909.  XIV,  350  S.  (vgl.  Folkdore  21,  117).  — 
M.  Brusot,  Keltische  Volkserzählungen.  Halle,  O.Hendel  [1909].  VI,  57  S.  0,25  Mk. 
(ohne  Quellenangaben). 

('))  O.  Colson,  Pourquoi  Fevricr  n'a  que  29  jours  Pourquoi  les  hommes  ont  de  la 
barbe.  Mariye  et  Janquet  (Wallonia  18,  16— 21).  —  H.  Leforgeur,  La  lille  du  roi  de 
France  (ebd.  18,47  —  51).  —  A.  Moitier,  Pourquoi  les  charretiers  vont  tous  en  paradis  etc. 
(ebd.  18,  52    54).  —  J.  Lemoine,  Contes  du  Hainaut  (ebd.  18,  76-78). 

7)  P.  Sebillot,  Les  joyeuses  histoires  de  Bretagne.  Paris,  E.  Fasquelle  1910.  VIII, 
318  S.    3,50  Fr. 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  ]<)1 

seigneur    (Köhler    1,    233),    142    Celui    qui   mourut    au    troisieme    pet    de    l'äne 
(Köhler  1,  486),    145  Jean    et   Jeanne    (Köhler  1,  341),    148.  152.   108  L'innocent 
(Frey    Nr.  1),    154    Le    sot    seigneur    et    ses  fils   sots    (Montanus,   Schwankbücher 
S.  628.    Grimm    Nr.  120),    174    Le   seigneur  Sans-souci    (Grimm   Nr.  152),    176  Le 
berger  qui  devint  roi  (Köhler  1,  322),  195  La  femme  obstinee  (Montanus  S.  622), 
199  Les  quatre  souhaits  (Grimm  Nr.  87),  205  Moitie  de  coq  (oben  20,  100.    Roche 
p.  117.   Böhm,    Lettische  Schwanke  Nr.  52),    214  L'origine  des  puces    (Dähnhardt, 
Natursagen  2,  111),  216  La  chevre  et  les  sept  gars  (Grimm  Nr.  36),  224  Les  petits 
biquets  (Grimm  Nr.  5),  227  Le  coq  et  le  renard  (Montanus  S.  596),  242  Les  moines 
et  le  bonhomme  (oben  6,   171   zu  Gonzenbach  82.    Trubert  ed.  Ulrich  1904),  248  Le 
testament    de    la  chienne  (Pauli  Nr.  72),    259   Le  recteur  vole   (Wickram  3,  369), 
260  La  chevre  qui  fait  sonner  les  cloches  (Köhler  1,  255),  263  La  creation  de   la 
femme  (Dähnhardt  1,  115),    265  Le  meunier  en  paradis    (Grimm  Nr.  82),    276  Le 
gros  cierge  (Wickram  3,  361),  277  Le  vieux  saint  (H.  Sachs,  Fabeln  1,  224.  2,  413. 
3,  289),  291  La  bonne  femme  qui  pleure   au  sermon    (Wickram  3,  380)-    —    Die 
15  Erzählungen  aus  dem  Limousin,    die  Roche1)    in  der  Mundart    und  in  Über- 
setzung mitteilt,  sind  knapp,  aber  lebendig  dargestellt  und  verschmelzen  bisweilen 
mehrere  verschiedene  Themen.    S.  31  Quatorze  (Grimm  Nr.  90),  42  Jean  de  Tours 
(Köhler  1,  543),    5S  Le  sorcier  (Grimm  Nr.  68),    66  Le   metayer  l'Espiegle    (kein 
Eulenspiegel,    sondern    das  Bürle    mit  eingeschalteten   Streichen    des  Meisterdiebs. 
Grimm  Nr.  i>1  und  192),  83  Le  petit  joueur  (Grimm  110  und  81  nebst  dem  Pervonto- 
Märchen,  Köhler  1,  558),    99  Le  joueur  (Grimm  82),    106  Le  carnaval  des  quatre 
petites  betes  (Grimm  27),  117  Le  conte  du  coq  (oben  20,  100),    135  Grosse-ßotte 
et  La  Ramee  (Grimm   16.    G.Paris  oben   13,  1),  150  Le  gamin  et  les  voleurs  (oben 
zu  Sebillot  p.  242),    157  Les  enfants    qui  se  rendaient  ä  Saint-Jacques    (Hackman, 
Polyphem  1904),    169    La    faineante    (Grimm   14).      Beachtenswert    sind    mehrere 
Schlussformeln,    die   sich   den   von  Petsch   1900  gesammelten   Beispielen  gut  ein- 
reihen lassen.  —  Aus  verschiedenen  Gegenden  von  Frankreich  stammen  die  in  der 
Revue  des  traditions  populaires*)  gedruckten  Märchen;    z.  B.  24,    137  Le  mouton 
noir  (Wickram  3,  378),  141  Mon  Jean  (Frey  S.  215),    143  L'agneau  Martin  (Mon- 
tanus S.  591),   345  Le  petit  sorcier  gris  (Grimm    192),   442   Comment  Jean  trouva 
la  peur  (Grimm  4);  25,  466  La  reconnaissance  du  diable  (vgl.  Hein-Müller,  Mehri- 
Texte  S.  136.    Boccaccio,  Decameron  3,  9:   Giletta  von  Narbonne).  —  Italienische 
Stücke  aus  der  Romagna  gab  Fabbri3):    L'innamorato   che  getta  gli  occhi  delle 
pecore    alla   amante    (Frey   Nr.  1),    Le    tre    montagne    d'oro    e    l'albero    del    sole 
(R.  Köhler  1,  166),    La  fontana  di  Babilonia  (ebd.  1,  562),    I  du'  barocciai    (ebd. 
1,  281),  II  capo  assassino  (Grimm  Nr.  46).  —  Griechische  Rätsel  aus  Kythera  und 
sechs  von  Polites  trefflich  kommentierte  Rätselmärchen  verdanken  wir  Stathes*); 
in  Atolien  und  Epirus  sammelten  Lukopulos  und  Evangelides. 


1)  D.  Roche,  Contes  limousins,  recueillis  dans  l'arroudissement  de  Rochechouart, 
texte  patois  et  texte  fran(,ais.     Paris,  Nouvelle  librairie  nationale  [1909].     179  ö.   2  Fr. 

2)  E.  Quintin  u.  a.,  Contes  et  legendes  de  la  Basse-Bretagne  (Revue  des  trad.  pop. 
24,  70.  136.  290.  439-445.  487-489.  25,  185 f.  271-274.  372-375.  410-415).  -  Contes 
et  legendes  de  la  Haute-Bretagne  (24,  146.  202.  249.  372.  25,  422).  —  L.  Desaivre,  Le 
mouton  noir  (24,  137).  —  F.  Petigny,  Contes  de  la  Beauce  et  du  Perche  (24,  275—280). 
—  J.  Filippi,  Contes  de  Pile  de  Corse  (25,  466-468) 

3)  P.  Fabbri,  Novelle  popolari  raecolte  sui  monti  della  Roir.agna  Toscana  (Archivio 
delle  trad.  pop.  24,  153-161).  -  Favole  (ebd.  21,  162-170). 

4)  S.  E.  Stathes,  KvOrjoa'ixa  alviy/iatixä  rraoa/tv&ia.  (Laographia  2,  360—370).  — 
N.    G.    Polites,     IJariazi/orjoei;    sig    tu    alviyftanxä    TtaQa/iv&ta     (ebd.    2,    -!71 — 384).      — 


192  Bolte: 

Über  die  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  slawischen  Märchenforschung 
muss  ich  auf  die  Berichte  der  Herren  Brückner  und  Polivka  verweisen  und  führe 
neben  zwei  eingehenden  Inhaltsangaben  Polivkas1)  über  eine  neue  grossrussische 
und  eine  ruthenische  Sammlung  nur  die  willkommene  Fortsetzung  der  Ver- 
deutschung an,  die  Fräulein  Anna  Meyer2)  1906  (oben  16,  454)  von  der  be- 
rühmten grossen  russischen  Märchensammlung  Afanassjews  begonnen  hat.  Enthielt 
der  erste  Band  hauptsächlich  Tiermärchen,  so  setzt  der  zweite  uns  20  Wunder- 
märchen vor,  in  denen  die  Volksphantasie  aus  fremdem  Gut  und  eigenen  Er- 
findungen reizvolle  Gebilde  gestaltet  hat.  So  beginnt  das  erste  S.  1  'der  Traum" 
mit  dem  oben  20,  74  erwähnten  Motiv  des  verschwiegenen  Traumes,  knüpft  daran 
die  den  streitenden  Erben  abgenommenen  Zaubergaben  und  schliesst  mit  einer  an 
Grimms  Nr.  133  gemahnenden  Belauschung  der  nachts  ausfliegenden  Mädchen 
und  der  Gewinnung  der  Rätselprinzess.  S.  56  'der  ZauberspiegeF  ist  eine  von 
Böklen  (oben  S.  185)  übersehene  Variante  des  Sneewittchen- Kreises.  Zu  S.  12 
(Das  Federchen  vom  hellen  Falken  Finist)  vgl.  Grimm  88  'Löweneckerchen';  zu 
104  (Die  Zarewna  löst  Rätsel)  R.  Köhler,  Kl.  Schriften  1,  218.  321;  zu  108 
(Schwesterchen  und  Brüderchen)  Grimm  11;  zu  114  (Die  weisse  Ente)  Grimm  13: 
zu  128  (Elend)  R.  Köhler,  Aufsätze  1*94  S.  110;  zu  136  (Wassili  Zarewitsch  und 
Elena  die  Wunderschöne)  die  Wette  um  Frauentreue:  R.  Köhler,  Kl.  Sehr.  1,  581 
und  Romania  32,  481;  zu  145  (Schemjaks  Richtsprüche)  Benfey,  Pantschatantra 
1,  398  und  Chamissos  Gedicht  v.  J.  1832  'Das  Urteil  des  Schemjäka';  zu  149 
(Der  Töpfer)  den  von  Wisser  im  Eutiner  Kalender  1911  mitgeteilten  holsteinischen 
Schwank  'De  ol  Fritz  un  de  Bessenbinner';  zu  158  (Die  versprochenen  Kinder) 
R.  Köhler  1,  197.  2,  602;  zu  163  (Blendwerk)  Köhler  2,  210  und  Chauvin, 
Bibliogr.  arabe  7,  100;  zu  171  (Der  Geizhals)  oben  20,  325.  Leider  fehlt  jeder 
Hinweis  auf  die  Nummern  des  russischen  Originals.  —  Eine  sehr  erfreuliche  Gabe 
sind  die  von  Böhm3)  aus  dem  grossen  Sammelwerke  von  Lerchis-Puschkaitis  ver- 
deutschten lettischen  Schwanke,  54  an  der  Zahl,  deren  Alter  und  Verbreitung  uns 
ausführliche  yergleichende  Anmerkungen  darlegen.  Gerade  von  lettischer  Volks- 
literatur ist,  abgesehen  von  den  in  Dähnhardts  Natursagen  verwerteten  Stücken, 
in  Westeuropa  sehr  wenig  bekannt.  Hier  erscheint  z.  B.  das  mittelalterliche 
Märchen  vom  Unibos  (Nr.  19),  das  Fablel  von  Prinzess  und  Dümmling  im  Rede- 
kampfe (Nr.  26),  der  oben  zu  Wossidlo  S.  98  erwähnte  Schwank  von  den  drei 
lispelnden  Schwestern  (Nr.  12)  oder  das  zu  Sebillot  p.  205  zitierte  Märchen  vom 
Halbhähnchen.  Hoffentlich  gelingt  es  dem  Vf.  bald,  die  im  Vorworte  verheissene 
grössere  Sammlung  lettischer  Märchen  herauszugeben.  Aus  Ungarn  haben  wir 

eine  aus  dem  Volksmunde  geschöpfte  Märchensammlung  von  H orger  (oben  20,  338) 
und  eine  neue  Folge  der  von  Frau  Rona-Sklarek  ausgewählten  und  ver- 
deutschten Märchen  (oben  20,  432)  zu  verzeichnen,  welche  im  Text  und  den  aus- 
führlichen Anmerkungen  wissenschaftlichen  Sinn  und  feinen  Geschmack   offenbart. 


I).  Lukopulos,  Tgla  .-rcwa/nrOta  ahwXixa  (ebd.  2,  385—398).  —  D.  Evangelides, 
Hjibiqodtixov  .-T<i.n<inrihov  (ebd.  2,   175 — -477). 

1)  G.  Polivka,  Oncukovs  nordgrossrussische  Märchen  (Archiv  f.  slav.  Phil.  31,  259 
bis  286).  —  Hnatjuks  ruthenisches  ethnographisches  Material  ans  Ungarn  (ebd.  31, 
594-603). 

•2}  A.  N.  Afanassjew,  Russische  Volksmärchen,  neue  Folge,  deutsch  von  Anna 
Meyer.     Wien,  R.  Ludwig  1910.    III,  174  S. 

3)  M.  Böhm,  Lettische  Schwanke  und  verwandte  Volksüberliei'erungen,  aus  dem 
Lettischen  übersetzt  und  mit  Anmerkungen  versehen.  Reval,  F.  Kluge  1911.  XI,  12.")  S.  — 
A.  Dido,  Contes  estoniens  7  (Revue  des  trad.  pop.  24,  236—241).  —  H.  Bourgeois, 
La  legende  de  Suur-Töll.  lc  geant  d'Oesel  (ebd.  25,  154—172). 


Berichte  und  Bücherauzeigen.  193 

Asien.  Interessante  armenische  Märchen  teilten  Fräulein  C.  Daniel  (oben 
20,  74—78.  323 — 326)  und  Wingate1),  ein  chaldäisches  Märchen  von  dem  Feen- 
lande, wo  man  nicht  stirbt  (R.  Köhler,  Kl.  Schriften  2,  406),  und  ein  andres  von 
dem  jüngsten  Sohne,  der  drei  Nächte  an  seines  Vaters  Grab  wacht  und  endlich 
Gatte  einer  Königstochter  wird  (R.Köhler  1,551),  Macler2)  mit.  Unter  mehreren 
indischen,  chinesischen  und  nordasiatischen  Sammlungen  hebe  ich  ausser  den  Er- 
hebungen von  Shakespear3)  in  dem  zwischen  Bengalen  und  Birma  gelegenen 
Lushai-Lande  besonders  Ramstedts  kalmückische  Märchen  hervor.  Diese  18  Stücke, 
denen  eine  deutsche  Übersetzung  beigegeben  ist,  tragen  zwar  das  Gepräge  des 
Nomadenlebens  auf  der  weiten  Steppe  und  mischen  Züge  der  lamaistischen  Religion 
ein,  enthalten  jedoch  fast  lauter  internationale  Märchenthemen.  Zu  Nr.  1  (Narren- 
streiche des  Dümmlings)  vgl.  Frey,  Gartengesellschaft  Nr.  1;  zu  3  (Dieb  stiehlt 
Ochsen  durch  Hinlegen  von  Schuhen)  R.  Köhler  1,  210;  (stiehlt  die  Eier  aus  dem 
Vogelneste  und  die  Hosen  des  Diebs)  Jean  Bedels  Fablel  Barat  et  Haimet  (Bedier, 
Les  fabliaux  1895  p.  448)  und  Lidzbarski,  Geschichten  aus  neuaramäischen  Hss. 
1896  S.  241,  auch  Rhodokanakis,  Dialekt  im  Dofär  S.  21;  zu  4  (Gefährten  mit 
wunderbaren  Eigenschaften)  Grimm  71;  zu  6  (Vertrag  zwischen  Herr  und  Diener 
wegen  des  Ärgers)  R.  Köhler  1,  262.  326;  zu  9  (Gewinn  bringender  Tausch)  Cos- 
quin,  Contes  pop.  de  Lorraine  2,  205;  zu  10  (Glücksvogel  von  zwei  Brüdern  ver- 
zehrt, die  drei  Wunschdinge  gewinnen)  R.  Köhler  1,  409;  zu  11  (der  jüngste 
Bruder  verfolgt  das  Ungeheuer,  befreit  drei  Mädchen;  treulose  Brüder)  R.  Köhler 
1,  292.  543;  zu  13  (Doktor  Allwissend)  ebd.  1,  39  und  (Ritt  gegen  das  feindliche 
Heer)  ebd.  1,  510;  zu  14  (Däumling)  Grimm  37  und  45;  zu  15  (der  dankbare  Tote 
mit  Zügen  aus  dem  Buche  Tobit:  Hund  und  Galle  der  Katze)  R.Köhler  1,5;  der 
Schluss  ähnlich  dem  treuen  Johannes  (Grimm  6),  doch  folgt  der  Held  seinem  Er- 
retter in  die  Unterwelt  und  holt  ihn  ins  Leben  zurück.  Zu  16  (zwei  Brüder  und 
treulose  Schwester)  vgl.  R.  Köhler  1,  304;  zu  17  (Züge  aus  der  verbrannten  Haut 
des  Tierbräutigams  und  aus  den  belauerten  Schwanenjungfrauen)  ebd.  1,  315  und 
444.  —  Arabische  Erzählungen  aus  der  älteren  Literatur  führt  uns  Basset4)  zu, 
darunter  (Revue  24,  192)  Abulfedas  Version  der  Rügenglocke  (Oesterley  zu  Gesta 


1)  J.  S.  Wingate,  Armenian  folk-tales  1—3  (Folk-lore  21,  21 7 -±22.  365— ."»77). 

2)  F.  Macler,  Contes  chaldeens  3—4  (Revue  des  trad.  pop.  24,  24-32.  25,20—31). 

3)  D.  Bodding  &  C.  H.  Bompas,  Folk-tales  and  legends  of  the  Santal  Parganas. 
London,  D.  Nütt  1909.  483  S.  12/6.  (vgl.  Folk-lore  21,  124).  —  J.  Shakespear,  Folk- 
tales  of  the  Lushais  and  their  neighbours  (Folk-lore  20,  388— 420).  —  Y.  T.  Woo,  Chinese 
inerry  tales,  translated  into  english.  Shangai,  Presbyterian  mission  press  1909.  IV,  58  S.  — 
Mary  Hayes  Davis  &  Chow-Leung,  Chinese  fables  and  folk  stories.  New  York, 
American  book  co.  1909.  214  S.  (vgl.  Folk-lore  20,  517).  —  G.  J.  Ramstedt,  Kalmückische 
Sprachproben  gesammelt  und  hsg.  1.  Teil:  Kalmückische  Märchen  1  (Memoires  de  la  soc. 
üuno-ongrienne  27,  1—154).  —  .1.  Nippgen,  Contes  mogols  (Revue  des  trad.  pop.  24,93. 
181.  341.  458).  —  Contes  kalmouks  (nach  Ramstedt.  ebd.  25,  324f.).  Contes  des  Ten'a 
(nach  Jesse.    Ebd.  25,  88-100.  174-184.  219—227.  2S0f.). 

4)  R.  Basset,  Contes  et  legendes  arabes  749— 7S3  (Revue  des  trad.  pop.  24,  1  —  20. 
loT-115.  189-200.  257-261.  353-359.  25,  209-215.  458;.  —  R.  Gragger,  Eine  ara- 
bische Gestalt  der  Bürgschaftssage  (Zs.  1*.  vgl.  Literaturgesch.  18,  123 — 126j.  —  N.  Rho- 
dokanakis, Der  vulgärarabische  Dialekt  im  Dofär  (Zfär)  1:  Prosaische  und  poetische 
Texte,  Übersetzung  und  Indices.  Wien,  A.  Holder  1908.  X,  144  S.  fol.  (Südarabische 
Expedition  Bd.  8).  —  W.  Hein,  Mehri-  und  Hadrami-Texte  gesammelt  im  Jahre  1902  in 
Gischin,  bearbeitet  und  hsg.  von  D.H.  .Müller.  Wien,  Holder  1909.  XXVIII,  200  S.  fol. 
(Südarabische  Expedition  Bd.  9). 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.   1911.   Heft  2.  l:; 


L94  Bolt,-: 

Romanoram  105.     Lidzbarski  1896  S.  153);    eine    aus    einem   neueren    türkischen 
Buche    stammende    Abwandlung    der    'Bürgschaft'     (Gesta   Rom.  108.    Lidzbarski 
S.  163)  in  mohammedanische  Weltanschauung  gibt  Gragger;    sie  findet  sich  aber 
bereits    in    der    1001  Nacht  (Chauvin,  Bibliogr.  arabe  5,  216    Nr.  125).     Von  dem 
gross  angelegten  Bericht    über    die  von  der  Wiener  Akademie  der  Wissenschaften 
unternommene  südarabische  Expedition,  dessen  wir  schon  mehrfach  (oben  16,458. 
17,  339)  rühmend  zu  gedenken  hatten,    sind    zwei  weitere  Bände    erschienen,    die 
ausser  den  sprachlichen  Ergebnissen  auch  der  Märchenforschung  Gewinn  bringen. 
Rhodokanakis  hat  1904    aus    dem  Munde    eines    in  Wien    weilenden  Beduinen 
Mhammed  eine  grosse  Zahl  von  Liedern  und  17  Prosaerzählungen  in  der  Mundart 
von  Dofär  am  persischen  Meerbusen  aufgezeichnet,  die  er  nebst  einer  Verdeutschung 
und    erläuternden  Anmerkungen    veröffentlicht.     Einige    der  Erzählungen  schildern 
Kämpfe  und  Abenteuer,    andere  tragen  märchenhaften  Charakter.     So  enthält  S.  1 
(Die  Stiefmutter)  die  oben  16,  340  zu  S.  52  nachgewiesenen  Elemente  des  Brüder- 
märchens, des  Fortunat-Romans  und  den  bei  Benjamin  versteckten  Becher;  ebenso 
Hein-Müller,  Mehri-Texte  S.  91.    S.  5  (bü  Zed)    die  Befreiung    einer  der  Schlange 
geopferten  Jungfrau.    S.  21  (Die    drei    diebischen  Brüder)    die  Streiche    des  Eier- 
diebes   (oben    zu    Ramstedt  Nr.  3),    des  Eseldiebes    (R.  Köhler   1,  507)    und    des 
Räubers  von  Rhampsinits  Schatz    (Köhler  1,  208  f.).    S.  26  (Der  fliegende   Kasten) 
die    Entführung    einer   Prinzessin    mit   Hilfe    eines    treuen  Gefährten    und    eines 
fliegenden  Kollers  (Chauvin,  Bibliogr.  arabe  5,  232);  zur  Erprobung  des  Gefährten 
vgl.  Hein-Müller,  Mehri-Texte  S.  50.  S.  34  (El  mimrit)  ein  Gottesurteil  mit  heissem 
Eisen  (Grimm,  Rechtsaltertümer3  S.  913).    S.  36  (Die  Tochter  des  Sonnenaufgangs) 
die  Trennung  eines  fliehenden  Liebespaares  und  ihres  Kindes  durch  einen  Wunder- 
vogel, doch  anders  als  im  Mageionenroman  und  in  der  Placiduslegende  (Warbeck, 
Magelone  ed.  Bolte  1894  S.  XVI1.    Basset,   Contes    herberes  2,  244).     S.  42    (Be- 
nuwäs)  erscheint  der  listige  Abu  Nuwäs  bald  als  Fuchs,    der    die  Hyäne    um    ihr 
Mahl  betrügt  und  sich  von  ihr  tragen  lässt    (wie    in    den  Tiermärchen  bei  Krohn, 
Bär  und  Fuchs  1889  S.  75  und  55),    den    Leuten    einen   Silberschmuck    tragenden 
Baum  und  eine  Tote  erweckende  Katze  verkauft  (vgl.  Unibos  bei  R.  Köhler  1,  233), 
die  Aufgabe,  nicht  geritten,  nicht  gegangen  zu  kommen,  löst    (Köhler  1,  447),    und 
andre,    auch    dem  Nasreddin  Chodja  zugeschriebene  Streiche.     S.  48   (Sibeyr)    die 
zweideutige    Frage    der  vom    Knecht   getäuschten  Mädchen    (Köhler  1,   150f.   291. 
Chauvin  6,  180.    F.  Hahn,    Kols  1906  S.  21).    S.  56    (Des  Knaben  List)    der  hab- 
gierige Käufer  wird    durch    die    Forderung    einer  Dose   Schnakenfett    überwunden 
wie  in  1001   Nacht    durch    die  Forderung    eines  Scheffels    Flöhe.    —    Der    andere 
Band    enthält    die   1902  von    dem    seither   verstorbenen   Wiener  Orientalisten    und 
Ethnologen  Hein,  einem  geschätzten  Mitarbeiter  unserer  Zeitschrift,  in  Gischin  an 
der  südarabischen  Küste  aufgezeichneten  Materialien  zur  vulgärarabischen  Dialekt- 
kunde und  Volksliteratur,    Erzählungen,    Lieder,    Rätsel,    Sprüche  und  Spiele,  die 
sein  Lehrer  Prof.  D.  H.  Müller  mit  aller  Sorgfalt  bearbeitet  hat.   Auch  hier  kann 
nur  auf  einige  der  58  Erzählungen  hingewiesen  werden,  die  nicht  immer  gute  und 
vollständige  Fassungen  enthalten.     S.  3    (Abu  Nuwäs  Hirsekorn)    ist  das  oben  16, 
339  und  21,    193    zu  Ramstedt    Nr.  9    erwähnte  gewinnbringende  Tauschgeschäft. 
S.  10  Der  Fuchs  betrügt  die  Hyäne  und  entrinnt  ihrer  Gefangenschaft.    S.  15  (Die 
sieben    Brüder)    und    139    (Die    Milch    der  Wildziege)    Brandmarkung    der  hoch- 
mütigen Schwäger  wie  oben  6.   164  und  Wetzel,  Söhne  Giaffers  1895  S.  215;  vgl. 
Frobenius,  Dekameron  S.  76.    S.  19   (Hirtin   und  Werwolf).    S.  20    (Der    Töchter- 
ieind)    oben  16,  459  und  17,  340  zu  Müller  2,  57  und  3,   102.    S.  31    (Der    Kern 
im  Schlünde)  und  138  (Der  Knochen  im  Schlund)  ein  Häufungsmärchen,  s.  R.  Köhler 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  15)5 

3,  355.  S.  32  (Zwei  Diebe)  und  58  (Die  beiden  Diebe)  ist  Rhampsinits  Schatzhaus 
(oben  zu  Rhodokanakis  S.  21).  S.  37  (Die  drei  Töchter)  die  verleumdete  und 
vom  Vater  zur  Tötung  bestimmte  Jungfrau  und  der  von  den  neidischen  Schwestern 
verwundete  Gatte.  S.  43  (Die  Tochter  der  Abessynierin)  gehört  ebenfalls  zum 
Kreise  der  verfolgten  Frau;  das  von  der  Stiefmutter  verstossene  Mädchen  wird  im 
Walde  von  einem  Prinzen  gefunden  und  geheiratet;  später  verleumdet  ein  ab- 
gewiesener Buhler  sie  und  tötet  ihre  drei  Kinder.  S.  54  und  111  (Die  drei 
Schwäger)    ist    das    Märchen    von    den  Tierschwägern,    s.  R.  Köhler  1,  418.  551. 

5.  »iü  (Die  Töchterfeindin)  zwei  Mädchen  entrinnen  einer  Menschenfresserin.  S.  62 
(Die  drei  "Wunderdinge)  entspricht  Grimms  Nr.  3G  'Tischchendeckdich';  vgl.  Aarnes 
oben  S.  1*4  angeführte  Monographie.    S.  80    (Die  Wildziege)    gehört  zu  den  oben 

6,  170  erwähnten  Erzählungen  von  den  drei  Lehren,  deren  vornehmste  lautet: 
Vertraue  keiner  Frau  ein  Geheimnis  an!  und  nähert  sich  den  Proben  der  Frauen- 
verschwiegenheit in  den  Gesta  Romanorum  124,  Cosquin  Nr.  77  u.  a.  S.  84  (Der 
schlaue  Kadi)  vgl.  Wickram,  Werke  3,  386  Nr.  79  'Von  einem  Pfaffen,  der  Köpf 
könnt  machen'.  S.  91  (Die  zwei  Waisen)  s.  oben  zu  Rhodokanakis  S.  1.  S.  9t) 
(Die  zwei  Kinder)  stimmt  zu  Grimm  Nr.  1 1  'Brüderchen  und  Schwesterchen'. 
S.  116  (Die  Portia  von  Gischin)  ist  die  oben  17,  339  zu  Müller  3,  23.  73  be- 
sprochene Geschichte  vom  Fleischpfande  S.  126  (Mahaynni  und  Leylenot)  schliesst 
mit  den  aus  den  Gräbern  der  Liebenden  aufwachsenden  Bäumen.  S.  131  (Der 
närrische  Mann)  enthält  die  rätselhaften  Antworten  bei  R.  Köhler  1,  197.  2,  601 
und  Basset,  Contes  herberes  2,  147.  350.  S.  133  (Der  Spiegel  und  der  Spinn- 
rocken) vgl.  Wetzel,  Söhne  Giaffers  S.  203  über  Zauberspiegel.  S.  136  (Das  Siegel 
und  der  Männergürtel)  erinnert  auffällig  an  das  oben  S.  191  angeführte  korsische 
Märchen  in  der  Revue  des  trad.  pop.  25,  466. 

Afrika1).  In  Algier  sammelte  Desparmet  26  recht  ausführlich  erzählte 
Kindermärchen,  die  sämtlich  von  den  Ghuls  handeln.  Dies  sind  menschenfressende 
Dämonen,  die  ein  grosses  Reich  mit  eigener  Verfassung  bilden,  sich  in  Tiere, 
Pflanzen,  Winde  verwandeln,  doch  auch  menschliche  Gestalt  annehmen  können 
und  dann  nur    nachts    gleich    den  Werwölfen  und  Vampyren    ihrer    schauerlichen 


1)  J.  Desparmet,  Contes  populaires  sur  les  ogres,  recueillis  ä  Blida,  tome  1.  Paris, 
Leroux  1V)09.  449  S.  (Collection  de  contes  et  chansons  populaires  35).  —  R.  Basset,  Le 
reve  du  tresor  sur  le  pont,  version  kabyle  (Revue  des  trad.  pop.  25,  86—88).  —  Y.  Artin 
Pacha,  Contes  populaires  du  Soudan  egyptien,  recueillies  en  1908  sur  le  Nil  blanc  et  le 
Nil  bleu.  Paris,  Leroux  1909.  57  S.  (Collection  de  contes  34).  —  L.  Frobenius,  Der 
schwarze  Dekameron,  Belege  und  Aktenstücke  über  Liebe,  Witz  und  Heldentum  in  Inner- 
afrika gesammelt.  Mit  Zeichnungen  von  F.  Nansen  und  photographischen  Aufnahmen. 
Berlin-Ch.,  Vita  [1910].  389  S.  8  Mk.  —  E.  Dayrell,  Folk  stories  from  Southern  Nigeria, 
West  Africa,  with  au  introduction  by  A.  Lang.  London,  Longmans,  Green  &  co.  1910. 
XVI,  15«.)  S.  4/6.  —  A.  J.  N.  Tremearne,  Fifty  Hausa  folk-tales  1—18  (Folklore  21, 
199—215.  351—365).  —  H.  G.  Harris,  Hausa  stories  and  riddles.  Weston-super-Mare, 
Mendip  1908.  XV,  111,  33  S.  (vgl.  Folk4ore  20,  :)74f.).  -  A.  Joseph,  Contes  de  la 
Cote-d'ivoire  (Revue  des  trad.  pop.  25,  3141'.  4391'.).  —  K.  Weule,  Negerleben  in  Ost- 
afrika. Leipzig,  Brockhaus  1908.  XII,  524  S.  geb.  10  Mk.  —  G.  Lademann,  Tierfabeln 
und  andere  Erzählungen  in  Suaheli,  übersetzt  von  L.  Kausch  und  A.  Reuss.  Berlin, 
G.  Reimer  1910.  120  S.  2,25  .Alk.  (Archiv  f.  d.  Studium  deutscher  Kolonialsprachen  12).  — 
A.  Werner,  The  Bantu  dement  in  Swahili  folk-lore  (Folk-lore  20,  432-  156).  — 
E.  Jacottet,  The  treasury  of  Ba-suto  lorc,  being  original  Se-suto  texts,  with  a  literal 
english  Translation  and  notes,  vol.  1.  London,  Kegan,  Paul,  Trench,  Trubner  &  co.  1908. 
XXVIII,  287  S. 

13* 


1«),,  Bolte: 

Neigung  nachgehen.      Sie  zu  Tertiigen,   gibt    es    nur   ein  Radikalmittel,    das  Ver- 
brennen;   wer   von  ihrem  Blute    bespritzt  wird,    verwandelt    sich  selber    in   einen 
Ghul.     Wenn    die  Ghuls    öfter   als  Neger   geschildert   werden,    so    hat  wohl    die 
Kunde  von  Menschenfressern  in  Innerafrika  mitgewirkt.     Hilfe  gegen  jene  Feinde 
gewähren    den  Menschen    die  guten  Genien    (Djan),    die    öfter   ihre    Töchter   mit 
diesen  vermählen.     In  den  Märchen  sind  viele  bekannte  Züge  eingewebt,    so    das 
ausserhalb    des  Leibes  aufbewahrte  Leben,    die   Liebe    durch  Traum,    die  Brüder 
mit  wunderbaren  Eigenschaften,  der  an  Stelle  der  Entflohenen  antwortende  Speichel, 
die  Sicherung   des  Helden    durch  Saugen    an    der  Brust    der  Dämonin  u.  a.;    aber 
auch  die  Hauptthemen  entsprechen  häufig  verbreiteten  Erzählungen:  S.  1'27  (L'enfant 
allaite  par  une  Ghoule)  entspricht  unserer  Frau  Holle  (Grimm  24.    Cosquin  2,  120). 
S.  140  (Bent  Essaq  et  son  frere)  die  treulose  Schwester  des  Drachentöters  mit  den 
drei  Hundeu    (R.  Köhler,  Kl.  Schriften  1,  303).     S.  183    (La  caverne  des  Ghouls) 
Ali  Baba  und  die  vierzig  Räuber  (Chauvin  5,  79.    Grimm  142).    S.  343  (La  femme 
qui  se  sauva    de  chez  un  Ghoul)    stimmt    im  Eingange    zu  Grimm  12    'Rapunzel" 
und  in  der  Fortsetzung    zu  Grimm  3    'Marienkind';    der  Raub    der    neugeborenen 
Kinder  und  die  Verdächtigung  der  Frau  als  Menschenfresserin  begegnet  auch  p.  233. 
S.  397  (Le  Ghoul  du  puits)  die  nächtliche  Wache  am  Baum,  der  verfolgte  Unhold 
und  die  aus  dem  Brunnen    befreiten  Jungfrauen    (R.  Köhler  1,  292.   543).    S.  407 
(Le  Ghoul  blesse   en  maraude)  die  Aufgabe,    das  Flohfell   zu  erraten    (R.  Köhler 
1,  389)  und  die  Räuberbraut  (Grimm  40.  46).   —  Eine  kabylische  Erzählung  vom 
Traum  vom  Schatz  auf  der  Brücke  veröffentlicht  Basset  mit  Hinweis    auf  unsere 
Zeitschrift  19,  289.  —  Neunzehn  kurze  Märchen  verschiedener  Völkerschaften  am 
oberen    Nil    gibt   Artin    Pascha   heraus,    dem  wir    schon    eine   1895    erschienene 
ägyptische  Lese  verdanken.     Erwähnung  verdient  Nr.  4   (Le  renard  et  le  corbeau) 
der  Friede  unter  den  Tieren  (Kirchhof,  Wendunmut  3,  128),  Nr.  7    (Le  marchand 
et  les  singes)  der  Schwank,    wie    ein  von    den  Affen    bestohlener  Kaufmann  diese 
die  Mützen  aufsetzen  und  dann  wegwerfen  lehrt,  Nr.  14  (Le  feu)  und  15  (Ne  bats 
pas  ton  chien)  die  Entdeckung  des  Feuers,  Nr.  18  (Inegalite  dans  la  vie)  die  Ent- 
stehung  der  schwarzen    und    der    weissen    Rasse.  Weitere  Kreise    sucht   der 
Afrikaforscher  Frobenius  für  die  Volksliteratur  der  Neger  zu  interessieren,  deren 
Wert  er  durch  den  Titel  'Dekameron'  und  die  selbstbewusste  Widmung  an  Meister 
Boccaccio    (Drehen  Sie  sich,    bitte,    im  Grabe  ein  wenig  um    und  blättern    Sie  in 
diesem  Büchlein!      Ich    hoffe,    Sie  werden    nicht    zu    enttäuscht  sein)    anzudeuten 
strebt.     Am  eigenartigsten  wirken  die  im  ersten  Teile  'Von  Rittertum  und  Minne1 
vereinigten  Heldenlieder,  die  zu  einer  primitiven  Gitarre  gesungen,  ein  vom  mittel- 
alterlichen Europa    oder  späteren  Serbien  nicht  allzusehr    abweichendes  Bild    ent- 
rollen:  kleine  Adelssitze,  deren  unabhängige  Herren  gern  auf  Abenteuer  ausziehen, 
oft  nur  von    einem  Knappen    und    einem   Sänger   geleitet,    männlicher   Tatendurst 
und    rasches    Minnewerben,    die    rohe    Kraft    durch  Ehrgefühl   beherrscht.      Näher 
schildert    diese    entschwundene  Heroenzeit  Frobenius    in  Petermanns  Geogr.    Mit- 
teilungen, 166.  Ergänzungsheft.      Die    beiden  andern  Teile    sind  betitelt    'Reineke 
und  Cie  im  Busch'  und  'Charaktertypen',  d.  h.,  nüchterner  ausgedrückt.  Tiermärchen 
und  arabische  Novellen.     Offenbar    gibt    F.    keine  wörtliche  Übersetzung,  sondern 
eine  Nacherzählung  der  von    ihm  selber    in   Innerafrika  gesammelten  Stücke,    wie 
w  auch  sein  Buch  als  eine  Erholung  von  gelehrter  Arbeit    bezeichnet.     Trotzdem 
wird  auch  die  vergleichende  Märchenforschung  dankbar  das  reiche  hier  dargebotene 
Material  in  Empfang  nehmen,  zumal  der  Vf.  mit  seinen  bekannten  mythologischen. 
Ansichten  zurückhält.      An  Einzelheiten  notiere  ich    S.  76    (Der  Rassenreine)    Be- 
schämung der  hoffärtigen  Schwäger,  oben  zu  Hein-Müller.  Mehri  S.  15.    —    S.  154 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  107 

(Die  kluge  Hatumata)  Zeichenbotschaft,  vgl.  oben  18,  69  *•;  der  Mörder  bestellt 
die  ihn  verratende  rätselhafte  Botschaft,  oben  6,  59  zu  Gonzenbach  1.  —  S.  181 
und  198  (Kuh  angeblich  bis  auf  den  Schwanz  in  den  Sumpf  versunken)  R.  Köhler, 
Kl.  Schriften  1,  150.  327  f.  —  S.  188.  208.  287  (Der  Hund  verspottet  den  Schakal, 
er  habe  eine  Wurzel  statt  seines  Pusses  gepackt)  Krohn,  Bär  und  Fuchs  1895 
S.  62.  —  S.  19;;  (drei  Wahrheiten  sagen)  R.  Köhler  1,  554.  S.  2(52  (Tischlein 

deck  dich)  Grimm  Nr.  36  und  Hein-Müller,  Mehri  S.  62.  —  S.  310  (Der  Lügen- 
künstler) R.  Köhler  1,  230.  —  S.  331  (Ein  Bastard)  Wetzel,  Söhne  Giaffers  1896 
S.  198.  S.  342    (Der  Listige)    R,  Köhler   1,  65.   190.   3,   164.  S.  364    (drei 

Haare  erraten)  Monteil,    Contes  soudanais  1905    p.  148.  S.  368    (Liebesprobe) 

Unland,  Der  Wirtin  Töchterlein.  —  S.  380  (Hurenrache)  Frey,  Gartengesellschaft 
S.  286  zu  V.  Schumann  Nr.  47.  —  Auch  die  40  Erzählungen,  die  Dayrell  im 
britischen  Nigeria  bei  Calabar  aufgenommen  hat,  sind  frei  wiedergegeben  und 
schliessen  öfter  mit  einer  humoristischen  Nutzanwendung,  die  eher  europäisch  als 
afrikanisch  klingt,  enthalten  aber  manche  wertvolle  Aufschlüsse  über  Anschauungen 
und  Gebräuche.  Fast  die  Hälfte  davon  sind  naturdeutende  Tiermärchen.  Auf  Be- 
rührungen mit  europäischen  Märchen  haben  Andrew  Lang  in  seinem  Vorworte 
und  A.  R.  Wright  (Folk-Iore  21,  260)  bereits  hingewiesen;  doch  möchte  ich 
gleichfalls  einige  Parallelen  anführen:  Nr.  3  (The  woman  with  two  skins)  vgl. 
R.  Köhler  1,  319  und  Maynadier,  The  wife  of  Bath's  tale  1901.  Nr.  4  (The 
king's  magic  drum)  scheint  aus  dem  Tischleindeckdich  entstellt;  s.  Probenius 
S,  262.  Nr.  6  (The  pretty  stranger)  Judith  und  Holofernes.  Nr.  8  (The  disobedient 
daughter  who  married  a  skull)  und  28  (The  king  and  the  juju  tree)  vergleicht  sich 
der  zu  Despar met  1,  407  zitierten  Räuberbraut;  nur  ist  der  Bräutigam  ein  Schädel, 
der  sich  von  seinen  Freunden  im  Geisterlande  die  übrigen  Gliedmassen  geborgt 
hat;  dem  Mädchen  gelingt  es,  aus  dem  Lande  der  Toten  zu  entrinnen.  Nr.  22 
(The  hippopotamus  and  the  tortoise)  das  Erraten  des  Namens,  doch  unter  andern 
Umständen  als  oben  6,  172  (zu  Gonzenbach  84).  Nr.  24  (The  fat  woman  who 
melted  away)  die  Wiederbelebung  der  allein  übrig  gebliebenen  Zehe  erinnert  an 
R.  Köhler  1,  275  und  Montanus,  Schwankbücher  S.  591  f.  Nr.  28  (The  slave  girl 
who  tried  to  kill  her  mistress)  entspricht  Grimm  11,  nur  dass  anstatt  des  in  ein 
Reh  verwandelten  Brüderchens  eine  misshandelte  kleine  Schwester  der  Heldin 
tritt.  In  Ostafrika  hat    Lademann  hundert  kurze  Erzählungen  in  Suaheli  ge- 

sammelt und  ediert,  denen  zugleich  eine  deutsche  Übertragung  beigegeben  ist. 
Neben  einigen  Tiermärchen,  in  denen  der  schlaue  Hase  eine  besondere  Rolle 
spielt,  finden  wir  manche  bekannten,  im  Orient  wie  in  Europa  umlaufenden 
Schwanke,  bisweilen  allerdings  in  entstellter  Form:  Nr.  5  (Seliman  bin  Daud)  ist 
das  Märchen  von  der  Tiersprache;  R.  Köhler,  Kl.  Schriften  2,  610.  —  Nr.  12  (Die 
Fliege  holt  das  Feuer)  Dähnhardt,  Natursagen  3,  106.  —  Nr.  19  (Kibwana  und 
die  sieben  Diebe).  Der  Dumme  wirft  sein  Schaf  weg,  weil  andre  es  Ratte  nennen; 
vgl.  Benfey,  Pantschatantra  1,  355  und  Oesterley  zu  Pauli,  Schimpf  und  Ernst 
c.  632.  —  Nr.  23  (Der  Dumme  und  der  Schlaue)  ist  Ser  Giovannis  Novelle  vom 
Unterricht  in  der  Liebeskunst;  s.  H.  Sachs,  Fabeln  ed.  Goetze-Drescher  3,  291 
nr.  142.  -  Nr.  30  (Die  Bettlerin  und  ihr  Sohn)  drei  Wunschdinge  den  streitenden 
Erben  abgenommen;  R.  Köhler  1,  312.  Nr.  31   (Der  Löwe  und  die  Schlange) 

und  50  (Der  Fallensteller)  Schlange  lösen;  oben  6,  166  und  R.  Köhler  1,  581.  - 
Nr.  34    (Sultan  Mnganya)    die    Aufgabe,    Leopard,    Ziege   und  Blätter    über    einen 
Fluss  zu  bringen;  oben   13,  95.  311.  —  Nr.  35    (Der  Sohn  der  Ehebrecherin  stellt 
sich  blind)    oben  10,  74.      Montanus,    Schwankbücher  S.  611.  Nr.  liö    (Fragen 

aufgetragen)  R.  Köhler  1,  46f>.    —    Nr  69  (Dank   der    aus    der  Grube   gezogenen 


jii,s  Bolte,  Brückner: 

Tiere  und  des  Menschen)  Benfey  1,  192.  Oesterley  zu  Gesta  Romanorum  c.  119.  — 
Nr.  71  (Der  dankbare  Tote)  R.  Köhler  1,  5.  —  Miss  Werner  mustert  die  Abenteuer 
des  Hasen,  die  in  den  Suaheli-Erzählungen  hauptsächlich  das  afrikanische  Element 
repräsentieren,  doch  auch  durch  die  arabischen  Schwanke  von  Abu  Nuwasi 
beeinflusst  worden  sind. 

Auf  die  neuerdings  in  Amerika1)  und  Australien2)  aufgezeichneten  Märchen 
der  Eingeborenen  einzugehen,  würde  uns  hier,  wo  wir  nur  die  in  Europa  ver- 
breiteten Stoffe  verfolgen  wollen,  zu  weit  führen. 

Berlin,  Johannes   Holte. 


Neuere  Arbeiten  zur  slawischen  Volkskunde. 

I.   Böhmisch  und  Polnisch. 

Wir  stellen  diesmal  das  Böhmische  voran,  denn  gegenüber  der  Reichhaltigkeit 
und  Fülle  seiner  volkskundlichen  Literatur  tritt  die  polnische  erheblich  zurück. 
Unter  den  Böhmen  selbst  geht,  wie  bisher  immer,  der  unermüdliche  Cenek  Zibrt 
voran,  stets  Neues  sinnend,  um  seinem  geliebten  Gebiete  Verständnis  und  Interesse 
in  den  weitesten  Kreisen  zu  sichern.  Diesmal  schlug  er  einen  originellen  Weg 
ein;  unter  dem  Gesamttitel  'Vesele  chvile  v  zivote  lidu  ceskeho'  (Kurzweil  im 
böhmischen  Volksleben),  gab  er  in  sieben  reich  illustrierten  Heften  eine  Art 
böhmischen  Festkalenders  heraus;  des  ersten  Heftes  war  schon  im  vorigen  Bericht 
(oben  20,  219)  gedacht,  das  Bilder  von  den  einstigen  Spinnabenden  brachte;  das 
zweite  'Masopust  drzime'  (Wir  halten  Fastnacht),  146  S.,  behandelt  die  Zeit  von 
Neujahr  bis  zum  Donnerstag  nach  Fastnacht,  wo  die  letzten  Fastnachtsreste  'aus- 
o-ebeutelt'  werden;  gar  ausführlich  werden  die  Dreikönigsumzüge  mit  der  Perchta 
(Peruchta,  Sperechta  usw.,  in  Südböhmen  eine  Pferdemaske  darstellend;  in  Nord- 
böhmen und  Mähren  vermummte  Frauen  mit  schrecklichen  Larven)  geschildert. 
In  einem  besonderen  Werkchen  'Masopust  z  Koblihovic  a  Bachus  souzen  a  pocho- 
v;in'  (Urteil  und  Begräbnis  der  Krapfenfastnacht  und  des  Bacchus)  werden  die 
städtischen  Fastnachtbräuche  dargestellt,  namentlich  der  Streit  zwischen  Fastnacht 
und  Fasten  und   ihr  zu  Grabe  tragen,   S.  60    (im  ersten   Teile   Abdruck   mehrerer 


1)  Harriet  Maxwell  Converse,  Myths  and  legends  of  the  New  York  state  Iroquois, 
ed.  by  A.  C.  Parker.  Albany,  N.  Y.  1908.  195  S.  (New  York  state  Museum  bulletin  125. 
Vgl.  Folklore  21,  12G).  —  C.  H.  Merriam,  The  dawn  of  the  world,  myths  and  weird  tales 
told  by  the  Mewan  Indians  of  California.  Cleveland,  A.  H.  Clark  1910.  273  S.  — 
F.  A.  Golder,  Eskimo  and  Aleut  stories  from  Alaska  (Journal  of  american  folk-lore  22, 
10-24).  —  H.  Hüll  St.  Clair,  Traditions  of  the  Coos  Indians  of  Oregon  (ebd.  22,  25—11). 
Shoshone  and  Comanche  tales  (ebd.  22,  265-282).  —  J.  Curtin,  Achoinawi  myths  (ebd. 
22,  283—287).  —  P.  Radin,  Winnebago  tales  (ebd.  22,  2SS-313).  —  R.  B.  Dixon, 
Shasta  myths  (ebd.  23,  8—37).  —  F.  Stähelin.  Tiermärchen  der  Buschneger  in  Surinam 
(Hess.  Bl.  f.  Volkskunde  8,  173—1*1 

2)  A.  A.  Grace,  Folktales  of  the  Maori.  Wellington,  N.  Z.,  Gordon  &  Gotsch  1909. 
■_'57  S.  (vgl.  Folk-lore  21,  128).  —  M.  Archambault,  Contes  et  legendes  de  la  Nouvelle 
Calödonie  (Revue  des  trad.  pop.  24,  117—127).  —  R.  H.  Mathews,  Australian  folk-tales 
(Folk-lore  20,  485f.).  —  The  Wallarco  and  the  willy-wagtail  (ebd.  20,  214-216).  — 
Jos.  Meier,  Mythen  und  Erzählungen  der  Küstenbewohner  der  Gazelle-Halbinsel  (Neu- 
Pommern;,  im  Urtext  aufgezeichnet  und  ins  Deutsche  übertragen.  Münster.  Aschendorü 
L909.    XII,  291  S.    SMk.  (vgl.  DLz.  1910,  1525 f.). 


Berichte  und  Bücheranzeigen.      .  199 

Fastnachtspiele;  im  zweiten  Auszug  aus  dem  Buch  des  Rvaeovsky  'Masopust', 
Fastnacht,  vom  Jahr  1580).  Das  3.  Heft,  142  S.  'Smrt  nesem  ze  vsi'  (Wir  tragen 
den  Tod  aus  dem  Dorfe),  behandelt  Bräuche  und  Feste  vom  Blasientage  an,  das 
Dorotheenspiel,  den  Gregorstag  in  der  Schule,  den  Totensonntag  (Judica,  nicht 
Lätare,  wie  anderswo;  seit  dem  16.  Jahrh.  wird  fälschlich  das  Todaustragen  als 
aus  Polen  eingeführt  betrachtet,  bei  dessen  Christianisierung  man  an  einem  be- 
stimmten Tage  im  ganzen  Lande  die  Götzen  ins  Wasser  geworfen  hätte);  Palm- 
sonntag, Osterrute,  die  Spiele  mit  den  Ostereiern.  Heft  4  (04  S.)  'Krälov«'  a  kra- 
lovnieky'  (Könige  und  Königinnen),  bringt  die  Pfingstspiele,  Pfingstritt  (bei  den 
Slowaken  in  Mähren,  Schlesien  usw.)  und  das  Vogelschiessen.  Heft  5  'Obzinky' 
(Erntefestlichkeiten);  Heft  6  'Den  se  kräti,  noc  se  dlouzT  (Die  Tage  werden 
kürzer,  die  Nächte  länger),  76  S.,  bringt  die  Bräuche  vom  Martins-,  Andreas-  und 
Nikolaustag,  sowie  von  der  h.  Lucie,  die  die  faulen  Spinnerinnen  straft,  ausserdem 
ein  Barbaraspiel.  Das  letzte  (7.)  Helt,  59  S.  'Hoj,  ty  stedry  ve^ere'  (O  du 
Weihnacht),  behandelt  die  Tage  vom  24.  Dezember  bis  Neujahr,  bringt  eine  Aus- 
lese von  Weihnachtsliedern,  druckt  des  Kozmanek  Weihnachtsspiel  (2.  Hälfte  des 
17.  Jahrh.),  ab.  Ich  kenne  keinen  Versuch,  die  Volksüberlieferung  durch  Wort 
und  Bild  besser  auszunutzen,  als  es  Zibrt  tut:  er  verfolgt  zwar  in  dieser  Publikation 
weniger  wissenschaftliche  Zwecke,  noch  hat  er  es  auf  Vollständigkeit  abgesehen 
(erwähnt  nicht  einmal  des  Holesovsky^  Weihnachtstraktat  aus  dem  Ende  des 
14.  Jahrh.),  aber  die  Fülle  von  Material  aus  alter  und  neuer  Zeit,  die  Menge 
Bilder  von  alten  Holzschnitten  an  bis  zur  Photographie,  der  warme  Ton,  in  dem 
der  Text  gehalten  ist,  die  Anregungen,  die  nach  allen  Seiten  ausgehen  (es  wird 
z.  B.  Dilettanten  geradezu  Stoff  für  Aufführungen  geliefert),  die  gründlichste  Sach- 
kenntnis, gestalten  das  Ganze  zu  einem  wahren  Volksbuche,  so  populär  und  so 
instruktiv  zugleich,  so  systematisch  und  doch  so  unterhaltend,  dass  ich  es  geradezu 
als  Muster  hinstellen  möchte,  wie  man  das  Gold  der  Tradition  auszumünzen  hat. 
Gleichzeitig  nahmen  die  zahlreichen  anderen  Publikationen  des  Verf.  ihren 
ungestörten  Fortgang.  Von  kleineren  sei  genannt  'Staroeesky  rukohled  a  novoceskv 
rukozpyt'  (Altböhmische  Chiromantie  und  neuböhmische  Handforschung),  Nr.  819 
bis  821  der  Prager  Svetovä  knihovna  (Weltbibliothek),  222  S.  kl.  8°,  wo  mit 
reichhaltigen  Einleitungen  eine  altböhmische  Chiromantia  Philonis  (15.  Jahrh.)  und 
ein  moderner  handschriftlicher  Traktat  (des  Fr.  Hekel  von  1895),  abgedruckt, 
sowie  nachgewiesen  wird,  dass  der  böhmische  Physiologe  Purkyn^  der  Erfinder 
der  Daktyloskopie  ist.  In  der  'Pestra  knihovna  zäbavy  a  kultury'  (Bunte 
Bibliothek  für  Unterhaltung  und  Kultur),  nr.  IM — 14,  gab  Zibrt  Skizzen  unter  dem 
Titel  heraus  'Panna,  Zenitba,  Zena'  (Jungfrau,  Heirat,  Frau),  eine  Sammlung  alt- 
böhmischer Aphorismen  und  gereimter  wie  prosaischer  Traktate  über  das  Weib, 
im  2.  Teil  die  böhmische  Überarbeitung  eines  polnischen  Dialoges  des  Nik.  Rej 
(um  1540)  über  Mädchen  und  Frauen:  das  böhmische  Unikum  ersetzt  das  verloren 
gegangene  polnische  Original  (102  S.).  Unter  seiner  Redaktion  erschien  auch  eine 
interessante,  hübsch  ausgestattete  Gelegenheitsschrift  aus  Anlass  der  Vereinigung 
von  Podskali  (dem  alten  Flösserort)  mit  Prag  'Praha  se  louci  s  Podskalim'  (1910, 
04  S.),  mit  historischen  (archivalischen)  und  ethnographischen  Skizzen  aus  Ver- 
gangenheit und  Gegenwart  der  eigenartigen  Bevölkerung.  Besonders  umfangreich 
ist  die  Sammlung  'Pivo  v  pisnich  lidovych  a  znarodneKch',  das  Bier  im  Volks- 
und volkstümlichen  Liede  (Prag  1910,  402  S.),  das  sich  anschliesst  dem  im  vor- 
jährigen Bericht  angezeigten  Buch  von  den  Trinkerzünften  und  -Sitten;  678  Lieder 
sind  es,  die  alles,  was  mit  Schenke,  Trinken,  Festen  zusammenhängt,  zum  Gegen- 
stande haben,  auch  aus  älterer  Zeit. 


-_>00  Brückner: 

Aus  dem  reichen  Inhalt  des  'Cesky  Lid1  (Bd.  19,  Heft  5— 10  und  Bd.  20, 
Heft  1 — 3),  seien  zuerst  genannt  die  Fortsetzungen  der  Denkwürdigkeiten  eines 
kleinen  Prager  Sängers  und  Handwerkers,  Fr.  Haiss,  die  anheimelnd  das  Leben 
aus  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts,  seine  Last  und  Mühen  schildern.  Beendigt 
ist  die  Studie  von  Dr.  Jos.  Volf  über  die  Rosenkreuzer  in  Böhmen  und  ihre 
Weissagung  für  das  Jahr  1G22  (jetzt  auch  im  Separatabdruck  erschienen,  72  S.); 
der  Verf.  zieht  in  immer  weiteren  Kreisen  die  Geschichte  der  böhmischen 
Protestanten  und  Exulanten  herein,  hierher  gehört  auch  seine  in  den  Sitzungsber. 
der  böhm.  Ges.  d.  Wiss.  1910  (histor.  Kl.,  Abh.  8,  55  S.)  erschienene  Studie 
'Beitrag  zum  Streite  über  die  böhmische  Konfession  in  Sachsen  in  den  Jahren 
16:;i  — 1G:;7',  wo  die  Memoriale  eines  Stransky  und  Regius  in  ihrem  Glaubens- 
prozess  vor  dem  lutheranischen  Konsistorium  abgedruckt  und  erläutert  werden. 
Weiter  bringt  der  Lid  die  Studie  von  Dr.  J.  Branberger  über  das  weltliche 
böhmische  Volkslied  des  16.  Jahrh.,  speziell  seine  Melodien,  und  über  den  Einfluss 
der  slowakischen  Musiker;  Ho molka  gibt  lehrreichen  Aufschluss  über  Verbreitung 
von  Kunstliedern  unter  dem  Volke.  Abdruck  alter  Texte  (z  B.  des  Spieles  von 
Tob.  Moufenin  vom  Frevelhaften  Sohn  von  1604,  Zutrinken  den  Brautjungfern  von 
1775,  des  Schäfers  Jif.  Volnv  Bearbeitung  des  Schwankes  von  den  drei  Frauen, 
welche  am  besten  ihren  Mann  zum  Narren  hält,  aus  den  Frantove  Präva,  um 
1730  usw.);  dann  eine  Menge  Material  jeglicher  Art,  des  Gewohnheitsrechtes  (wie 
man  den  neuen  Nachbar  aufnimmt  u.  dgl.),  des  Volksglaubens  (Beschwörungen 
u.  dgl.),  Lieder,  Tänze,  Märchen,  Sagen,  aus  alten,  urkundlichen,  und  neuen 
Aufzeichnungen,  Proben  der  Volkskunst  (z.  B.  die  Leisten  und  Initialen  der  ge- 
schriebenen Gesangsbücher),  Trachten,  Bräuche  (beim  Dreschen,  Taufe  usw.), 
alles  reich  illustriert  (besonders  die  Aufsätze  Ztbrts  selbst,  z.  B.  über  einen  Ausflug 
unter  die  mährischen  Slowaken  u.  a.),  sowie  eine  reichhaltige  Bibliographie  machen 
den  bunten  Inhalt  der  einzelnen  Hefte  aus,  die  Sinn  und  Liebe  für  alles  Volks- 
tümliche wecken  und  wahren  sollen. 

Von  Casopis  Musea  Kralovstvi  Öeskeho  unter  Zibrts  Redaktion,  ist  der  84.  Bd. 
abgeschlossen  (480  S.)  und  der  85.  begonnen.  Die  Hefte  (vier  jährlich),  bringen  Bei- 
träge zu  Comenius  (z.  B.  über  die  älteste  deutsche  Übersetzung  der  Perle  der 
älteren  böhmischen  Literatur,  des  Weltlabyrinthes  und  Herzensparadieses,  Leipzig 
1788;  über  seinen  Namen;  den  Abschied  seines  Schwiegervaters  von  der  Welt, 
ein  Lissaer  Lied);  zur  Geschichte  der  Glaubensbewegungen  in  Böhmen  im 
18.  Jahrh.  (von  Dr.  J.  Volf);  zur  Geschichte  des  Husitismus  (ein  trefflicher  Artikel 
von  J.  Volf,  der  des  Convertiten  Hilarius  von  Leitmeritz  angeblich  verloren  ge- 
gangenen Traktat  Arcus  gehennalis,  gegen  Rokycana  und  die  Utraquisten,  nach- 
weist) u.  a.;  der  ausführlichste  Artikel,  von  Zibrt  selbst,  Bd.  85,  91—159,  be- 
handelt auf  Grund  des  literarischen  Nachlasses  von  Dr.  Engel  die  Geschichte  der 
literarischen  Gesellschaften  der  60er  Jahre,  die,  heute  vergessen,  den  Grund 
gelegt  haben  zum  Erstarken  und  Aufblühen  der  neueren  Literatur.  Die  Auszüge 
aus  der  Korrespondenz  des  grossen  Slawisten  Safah'k  (vgl.  vorigen  Bericht),  sind 
beendigt;  die  Tätigkeit  und  die  Ideen  des  patriotisch  gesinnten  Grafen  Joh. 
Harrach,  werden  erörtert.  Unter  bibliographischen  Angaben  verdient  Erwähnung 
der  Bericht  Ezers  über  Reste  böhmischer  Volkslieder  und  alter  religiöser  Lieder, 
in  den  Pisne  modlitebni  (Gebetlieder),  des  M.  Morävek  Melnicky  von  1610,  aus 
der  Druckerei  des  H.  von  Waldstejn  auf  dessen  Schloss  in  Dobrovice,  ein  Unikum 
der  Zittauer  Stadtbibliothek. 

Von  der  Bibliografie  Öeske  historie  ist  Bd.  5,  Heft  1  erschienen,  S.  1—320, 
Nr.  11  82 1  —  1 7  254,    die    Jahre  1628— 1669  umfassend.      Von    welcher    Bedeutung 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  201 

diese  Bibliographie  ist,  nicht  nur  für  einen  böhmischen  Geschichtsforscher,  mag 
man  z.  B.  aus  dem  Artikel  über  'Wallenstein'  ersehen;  er  umfasst  beinahe 
2000  Nummern,  hauptsächlich  in  deutscher  und  lateinischer  Sprache,  nicht  nur 
Drucke,  sondern  auch  Handschriften,  Artikel  in  historischen  Zeitschriften  und 
Publikationen  jeglicher  Art;  dabei  ist  die  Belletristik,  zumal  das  Drama,  aus- 
geschlossen geblieben,  denn  Prof.  Arn.  Kraus  wird  in  der  Fortsetzung  seines  be- 
kannten Buches  über  Bearbeitung  böhmischer  Stoffe  in  der  deutschen  Literatur, 
besonders  darüber  handeln  und  Zibrt  selbst  die  ausserdeutsche  dramatische  Literatur 
anderswo  verzeichnen;  so  blieb  nur  der  Artikel  'Lieder,  Epitaphien  und  Satiren 
vom  Waldsteiner',  nr.  13  523— 13  G04;  die  einzelnen  Nummern  bringen  mitunter 
erschöpfende  bibliographische  Abhandlungen,  z.  B.  nr.  13538  die  Geschichte  des 
Liedes  'Historie  etc.'  von  1638.  Nr.  13  605 — 13  766  beziehen  sich  auf  den  Wald- 
steiner in  der  Kunst  (Münzen,  Gemälde  usw.),  Nr.  13  767—13  814  Waldstein  als 
Herr  und  im  Kreise  seiner  Familie,  die  Nationalitätenfrage,  wobei  Feuilletone  in 
Tageszeitungen  genannt  werden  usw.  Aber  mit  ebensolcher  Ausführlichkeit  wird 
z.  B.  der  Böhme  W.  Hollar,  der  berühmte  Kupferstecher,  behandelt,  Nr.  14  626 
bis  14  736,  wo  sogar  die  Landtagsrede  Dr.  Riegrs  über  den  Ankauf  von  Stichen 
des  Hollar  ausführlich  genannt  wird.  Diese  Stichproben  mögen  die  überwältigende 
Fülle  des  Riesenwerkes  verbildlichen,  auf  seinen  Nutzen  und  Bedeutung  hinweisen; 
es  bleibt  ein  einziges  in  seiner  Art. 

Neben  dem  Lid  besteht  in  Ehren  der  Närodopisny  Vestnik  ceskoslovansky, 
herausgegeben  von  Prof.  J.  Polivka,  "240  S.  und  72  S.  Beilage.  Er  bringt  wie 
immer  wenige,  aber  erschöpfende  Abhandlungen  volkskundlicher  Art,  eine  genaue 
Übersicht  aller  ethnographischen  Unternehmungen  (Ausstellungen,  Museen  usw.) 
in  allen  slawischen  Ländern,  sowie  eine  ausgewählte  Bibliographie,  wissenschaft- 
liche Rezensionen;  es  sei  z.  B.  nur  erwähnt  die  eingehende  und  in  Einzelheiten 
stark  abweichende  Anzeige  Poli'vkas  von  Gordon  Hall  Gerould,  The  grateful  dead ; 
oder  die  Anzeige  über  Panzers  Beowulf-Deutung  und  das  Versagen  von  Panzers 
Methode  bei  der  Frage  nach  dem  eigentlichen  Ursprung  des  Epos  selbst  u.  dgl.  m. 
In  der  Beilage  wird  von  Polivka  die  Glatzer  Märchensammlung  des  Jos.  Kubin 
weiter  herausgegeben  und  erläutert,  vgl.  vorigen  Bericht;  Polivkas  oft  seitenlange 
Ausführungen  sind  direkt  vergleichende  Märchen-  oder  Sagen-  (auch  Schwank-)  künde, 
so  namentlich  die  Ausführungen  zum  Schwank  vom  Messias- Schuster  und  dem 
Judenmädchen,  S.  15—20,  wo  die  deutschen  und  mittelalterlichen  Varianten  des 
Boccaccio,  der  Prediger  usw.  bis  zum  Pancatantra,  zu  Olympias  und  Nectanebus, 
Cimon  in  Troja  usw.,  zurückverfolgt  werden.  Ich  vermisse  nur  polnische 
Varianten,  die  den  Glatzer  Schwank  unmittelbar  berühren,  z.  B.  Ciszewski, 
Krakowiacy  nr.  221:  Kollataj  in  seinem  Stan  oswiecenia  w  Polsce  erzählt  von  einem 
Jesuiten  und  einer  polnischen  Edelfrau  ähnliches.  Von  den  Abhandlungen  sei  eine 
Würdigung  des  19.  Januar  1910  verstorbenen  Prof.  0.  Hostinsky  und  seiner  Ver- 
dienste um  die  Pflege  der  böhmischen  Volksmelodien  und  Lieder  sowie  des 
böhmischen  ethnographischen  Museums  genannt;  dann  eine  Studie  über  die  Marionetten 
und  das  Puppentheater  in  Böhmen  (mit  zahlreichen  Abbildungen,  auch  der  Theater- 
zettel der  wandernden  Schausteller,  in  deren  Familien,  Kopecky  u.  a.,  diese  Kunst 
sich  traditionell  vererbt);  dann  der  kritische  Bericht  über  die  wichtige  Sammlung 
mährischer  Volkstrachten  in  dem  Buche  von  Hörn,  Mährens  ausgezeichnete  Volks- 
trachten 1837;  ausserdem  Buseks  Studien  über  Leben  und  Treiben  in  der  Gemeinde 
Bilov,  wo  besonders  ausführlich  die  Vermummungen  am  Faschingsdienstag  ge- 
schildert sind  und  zugleich  hervorgehoben  wird,  wie  alle  diese  alten  Bräuche 
entschieden  im  Aussterben  begriffen  sind. 


202  Brückner: 

Die  Sprichwörtersammlung  (Ceska  Pfislovf)  von  Prof.  Dr.  V.  Flajshans  (vgl. 
vorigen  Bericht)  schreitet  rüstig  vorwärts;  sie  ist  bereits  bis  Heft  7  (Mele, 
Spalte  896)  gediehen;  freilich  berührt  sie  sich  öfters  mit  einer  Phrasensammlung, 
enthält  sie  doch  nicht  ausschliesslich  Sprichwörter,  sondern  alle  übertragenen 
Wendungen,  Schimpfwörter,  Beinamen  u.  dgl.  Die  Auslegung  des  einzelnen,  die 
Parallelen  und  Nachweise  sind  von  erstaunlicher  Fülle  und  Genauigkeit:  der  an- 
gekündigte Umfang  wird  allerdings  nicht  innegehalten,  das  Werk  wird  den  ur- 
sprünglichen Rahmen  weit  überschreiten,  doch  wird  mit  dieser  Leistung  die 
böhmische  Literatur  wieder  um  ein  wahrhaft  monumentales  Werk  (in  würdigster 
Austattung  zugleich)  bereichert;  für  ältere  Volkskunde,  Bräuche,  Anschauungen, 
für  das  Wandern  von  Motiven  und  Worten,  bleibt  das  Werk  eine  unerschöpfliche 
Fundgrube,  und  die  hingebende  Mühe,  mit  der  jede  Einzelheit,  vom  Sinn  bis  zum 
Wortlaute  gesichtet  wird,  kann  nicht  genug  gerühmt  werden. 

Das  Werk  von  Prof.  C.  Ho  las  über  böhmische  Volkslieder  und  Tänze  (vgl. 
vorigen  Bericht)  ist  mit  Teil  4—6  (Prag  1909 — 1910)  abgeschlossen;  es  enthält 
etwa  2000  Lieder  (nur  aus  Böhmen,  nicht  aus  Mähren  usw.),  von  denen  etwa  1/3 
neu  sein  dürften,  den  "Rest  bilden  Varianten  zu  bereits  bekannten,  vgl.  den  ein- 
gehenden Bericht  im  Närodopisny  Vestnfk  1910,  S.  114—119.  Hier  hebt  der  Rez. 
(Horak)  besonders  die  'Balladen'  hervor  und  hält  sich  über  den  Widerhall  alter 
religiöser  Bewegungen  in  dem  sektenreichen  östlichen  Böhmen  auf;  in  der  Tat 
wird  einmal  Zizka  aufgerufen,  dass  er  endlich  mit  den  Mönchen  aufräumen  möchte; 
in  einem  andern  Liede  (im  Bänkelsängerton)  hat  Bocek  von  Kunstat,  als  die 
Geistlichkeit  seinen  Richter  nicht  beerdigen  wollte,  mit  dem  Fleische  des  Ver- 
storbenen die  Eingeladenen  bewirtet:  so  wird  doch  mein  Richter  mit  euch  auf 
einer  Stätte  liegen,  unter  ehrbaren  Leuten.  Die  Klagen  über  das  vollständige 
Schwinden  des  Volksliedes  erscheinen    nach  Ausweis    der  Sammlung    übertrieben. 

Einen  prächtigen  Beitrag  zur  böhmischen  Kulturgeschichte  lieferte  Professor 
Jos.  Pekar  in  seiner  'Kniha  o  Kosti,  kus  ceske  historie'  (Buch  vom  Schlosse  Kost, 
im  oberen  Egerlande;  ein  Stück  böhmischer  Geschichte;  erster  Teil.  Prag  1910, 
202  S.),  mit  einer  Fülle  von  Kunstbeilagen  (Ansichten  des  imposanten  Schlosses, 
Faksimile  von  Urkunden  und  Briefen  u.  dgl.).  Ein  Stück  böhmischen  Gut-  und 
Bauernlebens  aus  der  alten  Zeit,  zumal  aus  dem  Dreissigjährigen  Kriege,  so  flott 
erzählt,  dass  es  sich  wie  ein  fesselnder  Roman  liest,  die  Menschen  und  Zeiten 
wie  lebend  vor  uns  erstehen,  die  langwierigen  archivalischen  Vorstudien  des  Verf. 
wie  vergessen  scheinen:  die  Liebe  zu  dieser  Vergangenheit,  zu  diesen  Heimats- 
gegenden, hat  dem  Buch  den  warmen  Ton  geliehen;  besonders  lebhaft  geschildert 
ist  das  Aufeinanderstossen  zweier  entgegengesetzter  Kulturen,  der  heimischen, 
protestantischen,  und  der  fremden,  italienisch-katholischen,  mit  ihren  energischen, 
zielbewussten,  selbstsüchtigen  Vertretern.  Kürzer  erwähnt  seien  andere  Orts-  und 
Provinzialgeschichten  auf  breitem  kulturhistorischen  Hintergrund:  F.  A.  Slavik, 
Moravske  Slovensko  od  XVI 1  stoleti  (1.  Teil  1903;  2,  1909;  Geschichte  der 
mährischen  Slowakei,  mit  besonders  zahlreichen  statistischen  Nachweisen);  Jindr. 
Baar  und  Fr.  Teply  gaben  die  Monographie  des  Städtchens  Klenci  1 909,  221  S.)  u.  a. 
Die  immer  zahlreicheren  und  reicheren  städtischen  historischen  Museen  statten 
ihre  Jahresberichte  mit  Abhandlungen  zur  lokalen  Kulturgeschichte  aus,  z.  B.  der 
Vestnik  des  Klatauer  Museums  (1909)  bringt  Aufsätze  über  die  Klatauer  Glocken- 
und  Kannengiesser  und  zur  alten  Topographie  der  Stadt;  der  Sbornik  des  Pilsener 
Museums  bringt  neben  einer  trefflichen  Topographie  der  Stadt  vor  den  Hussiten- 
kiimpfen,  Berichte  über  Ausgrabungen  u.  dgl.,  auch  Beiträge  zur  Lebensgeschichte 
des  Pilsener  Arztes  Franta,    der    an    den  Frantove  prava,   jenem   durch  Zibrt  und 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  203 

Spina  bekannten  Nürnberger  Schelmenbuch  beteiligt  ist.  Alle  ähnliche  Publikationen 
übertrifft  weit  an  Umfang  und  Fülle  Jos.  Teiges  'Zaklady  stärebo  mi'stopisu 
Prazskeho  1437— 1620'  (Grundlagen  der  alten  Prager  Topographie,  Bd.  1,  830  S.  4"), 
eine  Fortführung  des  Werkes,  das  Prags  Geschichtsschreiber,  Tomek,  bis  1417 
abgeschlossen  hatte,  nur  auf  breiterer  Grundlage;  es  ist  dies  die  Geschichte  jeder 
Prager  'Realität'  auf  Grund  der  Akten,  Testamente,  Chroniken  usw.,  mit  aus- 
führlichen Einzelheiten,  Instruktionen,  Beschreibungen  der  festlichen  Aufzüge 
(z.  B.  bei  der  Einholung  König  Ferdinands  1558,  in  zwei  Sprachen),  Kirchen  usw., 
für  den  Kulturhistoriker  eine  Fundgrube  von  höchster  Bedeutung. 

Von  den  Publikationen  der  Prager  Akademie  der  Wissenschaften  sei  zuerst 
genannt  das  Verzeichnis  der  Handschriften  der  überreichen  Prager  Bibliothek  des 
Domkapitels  (Soupis  rukopisti  etc.)  von  A.  Patera  und  Ant.  Podlaha:  der  erste 
Teil  umfasst  846  Handschriften;  namentlich  reich  wird  der  Gewinn  für  die  Literatur 
des  15.  Jahrh.,  für  die  verschiedenen  hussitischen  Traktate  eines  Ph'bram  u.  a.  der 
erste  Teil  eines  böhmischen  bibliographischen  Lexikons,  herausgegeben  von  Zd. 
Tobolka,  umfasst  die  böhmischen  Inkunabeln  (von  146.S,  die  Trojanerchronik, 
Pilsener  Druck,  bis  1500,  25  erhaltene  und  fünf  verschollene  Druckwerke  aus 
Pilsen,  Prag  und  Kuttenberg).  Von  mittelalterlichen  Texten  sei  die  Herausgabe 
des  Petrus  Comestor,  seines  Kommentars  zur  Bibel,  genannt  (1.  Teil,  äusserst 
sorgfältig,  der  Historia  scholastica,  durch  Dr.  J.  Noväk;  320  S.,  bis  zum  Buch  der 
Richter);  ausserdem  das  Verzeichnis  der  böhmischen  Handschriften  der  Prager 
Universitätsbibliothek  durch  Jos.  Truhlar  (Katalog  ceskych  rukopisu  etc.,  Teil  1). 
Der  unermüdliche  Lexikograph  Fr.  Kott  hat  'Beiträge  zum  mährischen  Dialekt- 
wörterbuch des  Bartos'  (Dodatky  k  Bartosovu  Slovniku  etc.),  aus  neueren  Publi- 
kationen gesammelt  (166  S.  gr.  «'S0,  doppelspaltig).  Zu  der  nationalen  Wieder- 
geburt im  18.  Jahrh.  sind  zwei  Beiträge  zu  verzeichnen;  der  Prager  Germanist 
Arn.  Kraus  handelt  über  'die  Prager  Zeitschriften  1770 — 1774  und  das  böhmische 
Erwachen'  (Prazske  Casopisy  etc.,  89  S.,  hauptsächlich  über  Löpers  'Neue  Literatur 
und  die  Prager  Gelehrten  Nachrichten';  wie  die  drei  lebenden  Sprachen,  deutsch, 
böhmisch,  französisch,  gemeinsam  den  Angriff  gegen  das  Latein  führen);  Jos. 
Hanns  zeichnet  das  Lebensbild  und  die  literarische  Wirksamkeit  des  Deutsch- 
böhmen Nik.  Adauct.  Voigt,  wie  er  an  der  nationalen  Wiedererweckung  als 
Historiker  beteiligt  ist  (100  S.),  seine  Beziehungen  zu  Dobner,  Pelzl  u.  a.  Eine 
besondere  Rubrik  in  den  Publikationen  der  Akademie  bildeten  die  Schriften  des 
Komensky,  von  denen  im  Laufe  der  Jahre  sechs  Bände  erschienen  waren,  darunter 
seine  Korrespondenz  von  dem  Dorpater  Theologieprofessor  Jan  Kvacala  in  drei 
Teilen,  das  Theatrum  universitatis  rerum  usw.;  nun  hat  der  Zentralverein  der 
böhmischen  Lehrer  Mährens  die  Gesamtausgabe  unter  der  Redaktion  von  Kvacala 
in  die  Hände  genommen  und  will  sie  bis  1923  in  30  Teilen  vollenden;  erschienen 
ist  eben  der  15.  Teil,  in  dem  ein  trefflicher  Comeniuskenner,  Prof.  J.  Noväk, 
sieben  böhmische  Schriften  herausgegeben  hat;  als  Ergänzung  der  ganzen  Aus- 
gabe dient  das  'Archiv  pro  badani  o  zivote  a  spisech  J.  A.  Komenskcho",  dessen 
erstes  Heft  der  Herausgeber,  Prof.  J.  Kvacala,  fast  ausschliesslich  mit  eigenen 
Beiträgen  ausgefüllt  hat  (Bibliographie;  Beziehungen  des  Comenius  zu  Karl  Gustav 
von  Schweden;  Polemik  mit  Valer.  Magni  u.a.).  Von  Publikationen  zum  1!>.  Jahrb. 
sei  erwähnt  die  Herausgabe  der  bisher  ungedruckten  satirischen  Allegorie  des 
Vojt.  Nejedly  'Bohync'  (Göttin,  in  acht  Gesängen,  eine  Parodie  auf  die  Angrille 
von  Jungmann  und  Safarik  gegen  die  akzentuierende  böhmische  Metrik,  vom 
Jahre  1819),  durch  Ferd.  Strejcek  (187  S.);  sowie  die  Fortsetzung  der  Korrespondenz 
des  Fr.  Celakovsky  (2,  1,  320  S.,  1829—1833). 


2<  »4  Brückner 

Der  von  den  Professoren  Jar.  Goll  und  Jos.  Pekai-  herausgegebene  Gesky 
Casopis  historicky  (Jahrgang  IG,  480  S.  und  Bibliographie  böhmischer  Geschichte 
für  1909,  78  S.)  bringt  in  seinen  Vierteljahrsheften  eine  ausserordentlich  reiche 
Chronik,  die  sich  nicht  auf  böhmische  oder  slawische  Geschichte  beschränkt, 
obwohl  sie  ja  diese  vor  allem  berücksichtigt,  Inhaltsangaben  von  Zeitschriften  u.  dgl. 
Von  den  Abhandlungen  ist  die  Xeubaurs  über  den  Hussitenführer  Prokop  Holy 
vollendet;  die  übrigen  fallen  aus  dem  Rahmen  unserer  Berichte  heraus;  ich  er- 
wähne nur  noch  die  Kritik  Zd.  Wirths  über  die  Herausgabe  der  Prager  Kunst- 
denkmäler, die  in  dem  gesamten  Soupis  pamätek  historickych  a  umeleckych  (die 
vergleichbar  den  geplanten  Monumenta  artis  Germaniae,  seit  1897  erscheinen, 
davon  einzelnes  auch  deutsch  herausgegeben  wird,  z.  B.  Heft  "21  über  Schloss 
Raudnitz  der  Rosenberg  und  Lobkovvitz,  böhmisch  1907,  deutsch  1910)  eine  be- 
sondere Stellung  einnehmen  wird.  Der  Musikhistoriker  Zd.  Nejedly  bringt  eine 
knappe,  aber  energische  Würdigung  des  Lebenswerkes  von  Ott.  Hostinsky,  der 
nicht  nur  als  Musikhistoriker,  sondern  gerade  als  Förderer  der  Volkskunde,  Mit- 
begründer des  Prager  ethnographischen  Museum,  sich  bleibende  Verdienste  er- 
worben hat.  Auf  die  eingehende  Bücher-  und  Zeitschriftenschau  des  Casopis  sei 
namentlich  wegen  der  reichen  lokalgeschichtlichen  Forschungen  verwiesen,  wie  sie 
in  den  Pamatky  archaeologicke  a  mi'stopisne  (archäologische  und  topographische 
Denkwürdigkeiten,  bisher  -2o  Bände);  in  den  mährischen  Zeitschriften  (Casopis 
matice  Moravske,  bisher  ;>3  Jahrgänge;  Casopis  moravskeho  musea  zemskeho, 
bisher  neun  Jahrgänge),  im  Casopis  spolecnosti  pratel  starozitnosti  eeskycti  v 
Praze  (böhm.  Altertumsverein,  17  Jahrgänge),  im  Sbornik  historickeho  Krouzku 
(Sammelschrift  der  histor.  Vereinigung,  zehn  Jahrgänge),  in  der  Hlidka  (Rundschau: 
im  letzten,  26.  Jahrgang,  sehr  interessante  Beiträge  zu  Hus,  Traktate  und  Briefe 
an  ihn),  u.  dgl.  m.  veröffentlicht  werden. 

Von  polnischen  Texten  sei  zuerst  der  Lemberger  Lud,  Kwartalnik  etnogra- 
iiczny,  genannt  (Bd.  15,  Heft  4;  16,  1 — 3).  Ihn  eröffnet  eine  besonders  interessante 
Arbeit:  Bron.  Pilsudski  hat  15  Jahre  auf  Sachalin  zugebracht  und  ist  zu  den  dor- 
tigen Ainos  in  nahe  Beziehungen  getreten;  er  lernte  ihre  Sprache,  richtete  Schulen 
für  ihre  Kleinen  ein,  und  auf  Grund  so  erworbener  Kenntnisse  spricht  er  über  ihr 
Schamanentum.  Es  scheint,  dass  dieses  bei  ihnen  nur  importiert  ist  (vom  Amur 
her;,  daher  keine  überragende  Rolle  spielt  und  gegen  den  alten  Ahnenkult  nicht 
aufzukommen  vermag.  Es  werden  einzelne  Schamanen  (nach  Alter,  Geschlecht, 
Vermögen;  nach  ihren  physischen  und  psychischen  Anlagen  sowie  nach  ihren 
Praktiken)  vorgeführt,  einzelne  'Seancen'  eingehend  beschrieben,  und  man  gewinnt 
einen  fesselnden  Einblick  in  diese  Mischung  von  Glauben  und  Gaukelei;  der  Ar- 
tikel verdiente  wohl  weitere  Verbreitung;  in  einem  folgenden  soll  das  Schamanen- 
tum der  anderen  Eingeborenen,  der  Ghilaken  und  Oroken,  geschildert  werden. 
Des  Zusammenhanges  wegen  nenne  ich  gleich  eine  andere  Arbeit  über  die  Völker 
des  fernsten  Ostens:  der  Arzt  J.  Talk o-Hry nee wiez,  der  unter  ihnen  viele  Jahre 
verbracht  und  gesammelt  hat,  wird  seine  Materialien  durch  die  Petersburger  Akad. 
d.  Wiss.  herausgeben  und  hat  vorläufig  eine  erschöpfende  Inhaltsangabe  bei  der 
Krakauer  Akad.  d.  Wiss.  erscheinen  lassen  u.  d.  T.  Materialy  do  etnologii  i  antro- 
pologii  ludow  Azii  srodkowej,  Mongolowie,  Buriaci  i  Tungusi  (Krakau  1910,  96  S.); 
in  dieser  Skizze  wird  über  Traditionen,  Geschichte,  den  Lamaismus  usw.  und  auf 
Grund  eigener  Forschungen  und  Messungen  über  die  physischen  Merkmale  der 
Chalchas-  und  Buriaten-Mongolen  wie  der  Tungusen,  gehandelt.  Doch  kehren  wir 
zum  Lud  zurück.  Eine  andere  Zierde  seiner  letzten  Hefte  sind  die  Aufzeichnungen 
des  Bauern-Künstlers  (Bildhauers)  W.  Brzega  aus  dem  Munde  des  greisen  Tomasz 


Belichte  und  Bücheranzeigen.  205 

Gadeja  in  Zakopane  (dem  bekannten  Höhenkurort  in  der  polnischen  Tatra):  der 
alte  Bauer,  einst  selbst  an  Raubfahrten  beteiligt,  erzählt  in  dem  interessanten 
Bergdialekt  Märchen,  Sagen,  Geschichten,  Lieder,  in  der  kernigen  und  knorrigen, 
leicht  humoristisch  und  satirisch  angehauchten  "Weise  seiner  engsten  Heimat,  ohne 
die  Reserve,  die  er  sich  sonst  Fremden  gegenüber  auferlegen  würde:  diese  Auf- 
zeichnungen teilt  mit  und  erläutert  (sachlich  und  sprachlich)  Prof.  Fr.  Krczek.  In 
anderen  Beiträgen  handelt  Br.  Gustawicz  über  die  S.  Martinsbräuche  (namentlich 
auch  die  deutschen)  und  schildert  eingehend  Land  und  Volk  der  Szekler  (mit 
Illustrationen),  ihre  Lebensart,  Sagen  u.  dgl.  Dr.  St.  Schneider  erörtert  den 
Schlangenkult,  speziell  den  Schlangenkönig,  namentlich  auch  in  der  klassischen 
Welt,  sowie  Hausgötter,  Schwalbe  und  Hahn  (als  Göttertiere),  mit  einzelnen  inter- 
essanten, aber  allzu  gewagten  Kombinationen.  A.  Fischer  bringt  schöne  Nach- 
träge aus  slawischen  Quellen  zu  0.  Dähnhardts  Natursagen,  ausserdem  zu  seinem 
eigenen,  im  vorigen  Bericht  genannten,  Aufsatz  über  das  Motiv  vom  blühenden 
Stecken.  Bol.  Slaski,  unter  andern  Beiträgen,  erwähnt  das  Petruswasser  der 
deutschen,  die  Piotrowina  der  polnischen  Flösser  (wo  das  Wasser  zurückfliesst, 
warum  es  so  heisst).  Vieles  (Materialien  aus  alten  Hexenprozessen  u.  dgl.)  muss 
ich  übergehen,  doch  sei  besonders  hervorgehoben  der  Bericht  des  Musikhistorikers 
A.  Chybinski  über  die  Ethnographie  auf  dem  •'!.  internationalen  Musikerkongress 
in  Wien  1909,  wo  namentlich  die  Vorträge  von  Frau  Linev  (über  neue  Methoden 
des  Folklore  in  Russland,  speziell  das  Volkslied  und  dessen  musikwissenschaft- 
liche Wertung),  und  des  Prof.  Hostinsky  (s.  o.  S.  201)  Referate  über  das  böhmische 
Volkslied  sowie  über  die  Vorarbeiten  des  Komitees  für  das  Volklied  in  Österreich 
(einberufen  vom  Ministerium  d.  Unterr.).  eingehend  gewürdigt  werden.  Die  Artikel 
im  Lud  gewinnen  von  Jahr  zu  Jahr  an  Umfang  und  Bedeutuag,  sie  beschränken 
sich  längst  nicht  mehr  auf  polnische  Ethnographie  allein  und  können  jetzt  auf 
rohe  Stoffsammlungen  desto  eher  verzichten,  als  in  der  Warschauer  Ziemia  'Land', 
einer  illustrierten  Wochenschrift,  die  unter  der  Redaktion  von  Kaz.  Kulwiec  in  den 
zweiten  Jahrgang  eingetreten  ist.  ein  Organ  geschaffen  ist,  das  in  erster  Reihe,  an 
den  Prager  Lid  erinnernd,  das  heimische  Material  aufzunehmen  bestimmt  ist. 
Eine  Aufzählung  der  meist  kleineren  Skizzen,  Feuilletons  u.  dgl.  der  Ziemia  wäre 
unmöglich;  das  geographisch  beschreibende  Element,  Aufnahmen  von  Bauten, 
Sehenswürdigkeiten  jeglicher  Art,  nimmt  breiten  Platz  ein;  doch  fehlt  es  auch  nicht 
an  wissenschaftlichen  Beiträgen,  z.  B.  von  dem  jetzigen  Prof.  der  Ethnologie  an 
der  Univ.  Lemberg,  St.  Ciszewski,  über  die  Quellen  des  Drachenkampfes  in  der 
Gründungssage  von  Krakau  beim  Mgr.  Vincencius,  wo  an  eine  ähnliche  Episode 
vom  Iskender  im  Schachnameh  erinnert  wird,  vgl.  dazu  A.  Fischer  im  Lud  16, 
281 — 285  und  S.  Fränkel,  die  Sage  von  der  Gründung  Krakaus,  in  den  Siebschen 
Mitteilungen  der  schlesischen  Ges.  usw.  13,  1—4.  Vincencius  hat  auch  andere 
Züge  von  Alexander,  die  bei  Pseudokallisthenes  fehlen,  aus  mündlicher  orienta- 
lischer Tradition?  Oder  von  Z.  Gloger,  über  das  Brot  und  die  Bräuche  beim  Brot- 
backen u.  a. 

Der  Tod  hat  uns  Z.  Gloger  entrissen  und  eine  nicht  auszufüllende  Lücke  in 
der  Pflege  polnischer  Volkskunde  geschaffen.  Seine  Sammlertätigkeit,  die  so  vieles 
vom  Untergange  gerettet  hat,  begann  vor  einem  halben  Jahrhundert;  die  Zahl 
der  Artikel  und  Bücher,  die  er  geschrieben,  ist  Legion  (vgl.  die  kurze  Aufzählung 
im  Lud  16,  "243 — 245)  und  vieles  ist  unveröffentlicht  oder  unvollendet  gelassen,  so 
namentlich  sein  Budownictwo  drzewne  i  wyroby  z  drzewa  w  dawnej  Polsce  Cohce 
(poln.  alt.  Holzbauten),  wovon  nur  die  beiden  ersten  Bände,  A — L,  erschienen  sind 
(1907  und  1909);  die  Artikel  sind  alphabetisch  geordnet  und  ausserordentlich  reich 


•_'(ii'.  Brückner: 

illustriert,  die  Art.  chata  (Hütte)  und  dwor  (Hof)  allein  umfassen  je  60  Seiten  gr.  8° 
und  bieten  eine  ganze  Galerie  aller  möglichen  Typen  aus  dem  Gebiete  des  alten 
Polen;  namentlich  sind  für  das  Werk  verwertet  worden  alte  Inventare  vom  16. 
bis  18.  Jahrb.,  die  in  chronologischer  Folge  für  jeden  einzelnen  Artikel  aus- 
genutzt werden.  Es  wäre  sehr  zu  bedauern,  wenn  dieses  Wörterbuch  unvollendet 
bleiben  sollte. 

Wir  gehen  zu  anderen  periodischen  Publikationen  über.  In  Litauen  ent- 
wickelt die  Gesellschaft  der  Freunde  der  Wiss.  rege  Tätigkeit.  Aus  ihren  Jahr- 
büchern (Rocznik  Towarzystwa  Przyjaciol  Nauk  w  Wilnie  II,  Wilno  1908,  145  S.; 
111  1909,  152  S.)  seien  genannt:  J.  Rur<zewski,  Nachricht  von  den  Pfarrschulen 
in  der  Diözese  Wilno  eine  Übersicht  des  gesamten  Volksunterrichtes  seit  1397: 
des  verdienten  Archäologen  Wand.  Szukiewicz  Aufwerfen  der  Frage,  wem  eigentlich 
die  litauischen  Grabhügel  (aus  der  Eisenzeit)  mit  ihrem  reichen,  von  Kultur 
zeugenden  Inventar  angehören,  da  die  historischen  Litauer  von  den  Chronisten  als 
ein  unsäglich  armes  und  zurückgebliebenes  Volk  geschildert  werden;  Dr.  Bara- 
nowski  schildert  einen  Epigonen  des  Feudalismus  in  Litauen  (Fürst  Sapieha  auf 
Bychow  aus  der  Mitte  des  18.  Jahrb.)  und  sein  unumschränktes  Walten  im  Lande; 
andere  historische  und  bibliographische  Abhandlungen  müssen  wir  übergehen. 
Eine  Ergänzung  finden  die  Roczniki  der  Gesellschaft  in  dem  Kwartalnik  litewski, 
den  J.  Obst  „den  Denkmälern  der  Vergangenheit,  der  Geschichte,  der  Topographie 
und  Ethnographie  Litauens,  Weissrusslands  und  Liflands"  bestimmt  (Petersburg, 
jedes  Vierteljahrsheft  zu  160  S.  mit  schönem  Bilderschmuck);  aus  dem  Vielerlei, 
was  die  bisherigen  Hefte  brachten,  sei  genannt:  W.  Szukiewicz,  Die  Spuren  des 
Steinalters  im  Gouvern.  Wilno;  des  bekannten  polnischen  Forschers  und  Kenners 
livländischer  Vergangenheit,  Baron  G.  Manteuffel.  Beschreibung  des  mächtigen 
Felsvorsprunges  Stabu  rags  an  der  Düna,  und  der  daran  geknüpften  Überlieferungen ; 
einzelne  Volkslieder  (weissrussische);  über  Volksarznei  und  ein  Album  weiss- 
russischer  Volkstypen  (Bettler,  Holzfäller  u.  a.). 

Aus  dem  34.  und  35.  Bande  der  Roczniki  der  Posener  Gesellschaft  der  Freunde 
der  Wissenschaften  sei  ein  mittelalterliches  lat.-deutsch-polnisches  Glossar  (Ende 
des  15.  Jahrh.)  genannt,  wegen  der  Erklärungen  (über  Form  des  Backwerkes; 
Hütten  u.a.),  die  der  Herausgeber,  Dr.  B.  Erzepki,  hinzugefügt  hat;  der  Katalog 
der  Hdschrr.  der  Gnesener  Kapitelsbibliothek  enthält  einige  sehr  alte  und  reich 
illustrierte  Codices:  die  Biographie  und  das  Testament  des  Leibarztes  König 
Sigismund  I.,  Peter  Wedelicius  (zubenannt  so  wegen  der  Annahme  des  Wappens 
der  Herren  von  Wedell),  gest.  1544,  enthält  für  den  Kulturhistoriker  manches  Be- 
merkenswerte; ebenso  die  Beschreibung  des  Barokbaues  der  Wallfahrtskirche 
in  Zdziez  bei  Borek  u.  a.  Den  'Rocznik'  der  Thorner  Gesellschaft  füllt  aus  die 
kritische  Geschichte  des  Tages  von  Tannenberg-Grunwald  durch  den  aus- 
gezeichneten Kenner  westpreussischer  Geschichte,  Pfarrer  St.  Kujot  (Bd.  17,  37s  S., 
Thorn  1910);  dagegen  enthalten  die  vierteljährlich  erscheinenden  'Zapiski'  (Me- 
moiren) derselben  Gesellschaft,  von  denen  der  erste  Band,  286  S.,  jetzt  ab- 
geschlossen ist,  allerlei  archäologisches,  volkskundliches,  historisches  und  genea- 
logisches Material  sowie  Bücherbesprechungen.  Die  in  Behrend  (Westpr.)  er- 
scheinende Monatsschrift  'Gryf,  pismo  dla  spraw  kaszubskich',  herausgegeben  von 
Dr.  Majkowski,  bringt  in  jedem  Hefte  kaschubische  Märchen,  Lieder  und  Sagen. 

Die  von  der  Krakauer  Akademie  herausgegebene  "Biblioteka  pisärzow  pols- 
kich'  brachte  gerade  im  Jahre  1910  reichen  Ertrag  für  unsere  Zwecke.  Zuerst  gab 
Ign.  Chrzanowski  in  mustergültiger  Weise  das  interessanteste  Buch  der  alt- 
polnischen  Literatur  heraus,    den  Aesop    des  Biernat  von  Lublin,    des  Begründers 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  207 

der  neueren  Literatur  (23  und  .">14  S.  nebst  den  Holzschnitten  des  Originals, 
Krakau  1910).  Das  Werk  enthält  in  achtsilbigen  Reimpaaren  das  Leben  Aesops 
und  die  Fabeln,  vermehrt  zu  Ende  um  eine  Auswahl  aus  des  Joh.  von  Capua 
Directorium  humane  vite  1-180  (Aesops  Leben  nach  Steinhövel,  die  Fabeln,  210  an 
der  Zahl,  nach  einem  Rimicius  und  Romulus,  wobei  jede  Fabel  im  Titel  ein  pol- 
nisches Sprichwort  trägt,  so  dass  das  Buch  zugleich  die  älteste  Sprichwörtersamm- 
lung ist);  im  Anhang  wird  die  gesamte  ältere  polnische  Fabelliteratur,  bis  auf 
Mickiewicz,  durch  zahlreiche  Proben  charakterisiert;  das  Werk  des  Biernat  selbst 
zeichnet  sich  durch  grosse  Selbständigkeit  aus,  durch  das  Einflechten  stark  de- 
mokratischer und  antigeistlicher  Züge.  Von  den  folgenden  Nummern  (der  älteste 
poln.,  halb  lutherische  Katechismus  von  1543  u.  a.)  seien  besonders  Nr.  58  und  59 
genannt,  beide  von  K.  Badecki  herausgegeben:  Pisma  Jana  Dzwonowskiego  (118  S.) 
sind  ein  Muster  poln.  Eulenspiegelliteratur,  d.  i.  einer  Literatur  aus  kleinbürger- 
lichen Kreisen,  die  Sitten  und  Treiben  der  Zeitgenossen,  in  der  Stadt  und  auf 
dem  Lande,  durchhechelt;  sie  enthalten  'Häusliche  Constitutionen'  (satirische  An- 
weisungen für  Familie  und  Diener),  'Statut'  (nach  Art  der  böhmischen  Frantove 
prava,  wonach  alle  Tagediebe  usw.  abgeurteilt  würden),  'Gänsekrieg7  (des  unbot- 
mässigen  Adelsaufgebotes,  das  dem  Lande  schädlicher  ist  als  dem  Feinde),  'Kozak 
Plachta'  (eine  komische  Schilderung  eines  Kosaken,  wie  sie  in  Schlesien  1620 
grassierten,  mit  einem  Liede,  das  als  Perle  kleinrussischer  Balladendichtung  von 
Kleinrussen,  Dr.  Franko  u.  a.  herausgegeben  und  bearbeitet  wurde,  zugleich  älteste 
Probe  eines  kleinruss.  Volksliedes,  gedruckt  1G25,  in  Wirklichkeit  von  dem  Polen 
Dzwonovvski  —  ein  fingierter  Name,  wie  bei  allen  diesen  Eulenspiegeleien,  nach 
kleinruss.  Mustern  verfasst).  Die  zweite  Nummer  (49  S.)  'Walna  wyprawa  do 
Woloch  ministrow  na  wojne'  von  1617  (Kriegszug  der  Prädikanten  in  die  Moldau) 
ist  eine  andere  Eulenspiegelei  auf  konfessionellem  Hintergrunde;  1590  waren  zwei 
Intermedien  erschienen,  die  in  volkstümlicher  Weise  die  Ausrüstung  und  die  Heim- 
kehr des  Dorfküsters  vom  Kriege  schilderten;  1617  wurde  dasselbe  auf  einen 
Prädikantensohn  übertragen  und  merkwürdigerweise  lebt  heute  noch  diese  Ge- 
schichte im  Munde  des  oberschlesischen  Volkes. 

Von  der  von  K.  Badecki  herausgegebenen  Sammlung  'Biale  Kruki'  (Weisse 
Raben,  d.  i.  bibliographische  Seltenheiten)  ist  nach  dem  ersten  Hefte,  das  eine 
Bearbeitung  der  'ungleichen  Kinder  Evas'  enthielt,  Nr.  2  erschienen  'Przygana 
wymyslnym  strojom  bialoglowskim' (Tadel  weiblicher  Putzsucht,  des  P.  Zbylitowski 
von  1600),  das  das  Faksimile  der  satirischen  Broschüre  und  den  Abdruck  enthält, 
mit  eingehenden  bibliographischen,  lexikalischen  u.  a.  Notizen. 

Zur  Geschichte  des  Handwerkes  in  Polen,  der  Zünfte  und  Bräuche,  ist  die 
umfassendste  und  wichtigste  Quellenpublikation  vollendet;  es  erschien  nämlich  in 
den  Krakauer  Acta  historica  der  Akademie  nr.  XII  das  Schlussheft,  S.  XXIII, 
1107 — 150'.»,  worauf  die  sorgfältigen  Indices  (S.  1511 — 1625,  lex.  8°  doppelspaltig) 
zum  ganzen  Bande  folgen.  Es  sind  dies  die  Privilegien,  Rechte  und  Statuten 
Krakaus  von  15S7 — 16!»6  in  poln.  und  lat.  Sprache;  da  das  Handwerk  von  Deutschen 
hauptsächlich,  nach  Krakau  eingeführt  war,  ja  es  hier  noch  im  17.  Jahrh.  deutsche 
Handwerker  gab,  so  ist  vor  allem  die  Terminologie  deutsch  und  sind  die  poln. 
Ausdrücke  erst  aus  deutschen  zu  erklären.  So  sind  z.  B.  die  Kupferschmiede  ver- 
pflichtet, ihren  Gesellen  zu  S.Michael  einen  ligesz  (!)  zu  geben,  worauf  diese 
von  S.  Michael  bis  zu  den  Fasten  oder  bis  zum  Gründonnerstag  bei  Lichte  ar- 
beiten müssen  (im  Jahre  1672);  das  erklärt  sich  aus  dem  lat.  Statut  der  deutschen 
Kupferschmiede  in  Krakau  vom  Jahre  1669,  wo  es  heisst  an  derselben  Stelle: 
magister  socio  obligatur    ad    unam    coenam    vulgo    lichtkanz    (es    ist    somit  die 


•_)Qg  Brückner,  Feist: 

Lichtgans  gemeint,  poln.  li(ch)g§£);  aber  in  einer  späteren  poln.  Redaktion  vom 
Jahre  1689  wird  diese  coena  burkat  genannt,  ein  deutsches  Wort,  das  ich  jedoch 
nicht  zu  deuten  weiss.  So  ist  das  verdienstvolle  Werk  nach  dem  Tode  des  Her- 
ausgebers (Prof.  Piekosinski)  zu  Ende  geführt. 

Auf  den  Inhalt  der  zahlreichen  historischen  Publikationen  und  zweier  historischer 
Zeitschriften  (Kwartalnik  historyczny  in  Lemberg,  24.  Jahrg.,  7.34  S.:  Przeglad 
historyczny  in  Warschau,  11.  Bd.,  noch  unvollendet),  kann  nicht  näher  eingegangen 
werden:  genannt  sei  jedoch  die  Abhandlung  von  Prof.  0.  Balzer  in  Kwartalnik, 
S.  359 — 406,  die  Chronologie  der  ältesten  Typen  des  slawischen  und  polnischen 
Dorfes:  der  aus  Deutschland  (in  der  Altmark  usw.)  wohl  bekannte 'Rundling' wird 
als  eine  nachweislich  spätere,  nicht  urslawische  Spezialität  und  die  Entstehung  des 
Strassendorfes  aus  ältesten  Einzelhöfen  (nach  der  Angabe  des  Procop  im  6.  Jahrh.) 
erwiesen.  Zur  Geschiebte  der  deutschen  Juden,  namentlich  seit  wann  sie  Aschkenaz 
heissen,  brachte  einen  Beitrag  Dr.  Th.  Modelski  ('Der  König  Gebalim  im  Briefe 
des  Chasdaj\  eines  spanischen  Juden,  an  den  Chazarenchan  Joseph  von'.1").").  122  S., 
Lemberg  1910),  der  nachwies,  dass  der  in  diesem  Briefe  genannte  König  der  Slawen 
Otto  der  Grosse  ist,  der  auch  König  der  Berge,  d.  i.  der  Alpen  genannt  wird. 
Auf  den  Inhalt  der  literarhistorischen  und  der  Revuen  gemischten  Inhaltes  (Biblio- 
teka  Warzawska  usw.)  kann  ebensowenig  eingegangen  werden,  wie  auf  Publikationen 
alter  Dichter,  obwohl  in  beiden  mancherlei  volkskundliche  Beiträge  zu  linden  sind. 
Der  4.  Band  der  'Materialy  i  prace'  der  linguistischen  Kommission  der  Krakauer 
Akademie  enthält  eine  eingehende  Charakteristik  der  schlesischen  Dialekte  von 
Kar.  Nitsch  (S.  85—356,  mit  einer  Dialektmappe);  derselbe  Verfasser  hat  in  den 
Krakauer  philologischen  Abhandlungen  (Bd.  46,  1910)  den  Versuch  einer  Gruppierung 
sämtlicher  poln.  Dialekte  unternommen;  für  das  Material,  d.  i.  für  die  Eintragung 
mehr  oder  minder  zuverlässiger  Isoglossen  auf  der  Karte,  sind  wir  ihm  sehr  zu 
Danke  verpflichtet;  die  ethnischen  u.  a.  Kombinationen  jedoch,  die  er  auf  diesen 
Isoglossen  aufbaut,  sind  entweder  verfehlt  (wie  z.  B.  die  über  den  Zetacismus  der 
Polen)  oder  zum  mindesten  verfrüht;  zudem  hebt  eine  Einteilung  die  andere  auf. 
Von  zahlreichen  Publikationen,  die  nur  grammatikalisches  und  lexikalisches 
Interesse  bieten  (z.  B.  die  neue  Zeitschrift,  Rocznik  Slawistyczny,  Bd.  1—3  u.  dgl. 
ra.),  sehen  wir  gänzlich  ab;  die  Warschauer  'Prace  filologiczne'  (6  Bände)  bringen 
wenigstens  reichhaltiges  dialektologisches  Material. 

Berlin.  Alexander  Brückner. 


Hans  Hahne,  Das  vorgeschichtliche  Europa.  Kulturen  und  Völker. 
(Monographien  zur  Weltgeschichte,  30.  Band).  Bielefeld  und  Leipzig, 
Velhagen  und  Klasiug  1910.    130  S.    Mit  151  Abbildungen;   gr.  8°.   4  Mk. 

Richtung  und  Tendenz  des  vorliegenden  Werkes  werden  durch  das  Titelbild 
charakterisiert.  Es  .stellt  eine  angebliche  Germanenbüste  etwa  aus  dem  zweiten 
nachchristlichen  Jahrhundert  dar,  dieselbe,  die  auch  als  Titelvignette  der  Zeitschrift 
'Mannus'  dient.  Der  Verfasser  segelt  also  im  Fahrwasser  Kossinnascher  A'or- 
geschichtsklitterung.  Er  ist  Privatdozent  für  Prähistorie  an  der  technischen  Hoch- 
schule zu  Hannover  und  hat  sich  durch  Grabungen  in  Mittel-  und  Xordwest- 
deutschland  und  die  literarische  Darstellung  ihrer  Ergebnisse  verdient  gemacht. 
Seine  Darlegungen  in  dem  hier  zu  besprechenden  Buche  beginnen  mit  der 
palaoüthischen  Zeit,  deren  Werkzeuge,  Skelettreste,  Höhlenmalereien  und  glyptische 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  200 

Leistungen  uns  zunächst  in  Wort  und  Bild  vorgeführt  werden.  Es  folgen  die 
Kulturstufen  der  sogenannten  Ancyluszeit  und  der  Muschelhaufen  (Kjökkenmöd- 
dinger)  in  der  Litorinazeit  (beide  Benennungen  stammen  von  charakteristischen 
Muscheln  der  Ostsee).  Nach  einem  Ausblick  auf  die  vorgeschichtliche  Kultur 
des  Orients  wendet  sich  der  Verfasser  der  mitteleuropäischen  Bandkeramik  und 
nordischen  Megalith-  und  Schnurkeramik  zu  und  wirft  auch  einen  Blick  auf  die 
mächtigen  Grabbauten  des  Nordens.  Es  folgt  eine  Darstellung  der  Rassen- 
verteilung im  steinzeitlichen  Europa,  gegen  die  sich  nichts  einwenden  lässt;  nur 
weiss  ich  nicht,  weshalb  Verf.  mit  apodiktischer  Gewissheit  die  nord-  und  mittel- 
europäischen Rassen  aus  Frankreich  kommen  lässt.  Das  kann  man  bei  dem  bis 
jetzt  vorliegenden  dürftigen  Material  doch  kaum  als  Tatsache  hinstellen.  Überhaupt 
die  Auswanderungen!  Sie  spielen  eine  grosse  Rolle  in  Hahnes  Werk  sowohl  in 
der  Schilderung  des  Endes  der  Steinzeit  wie  der  auf  sie  folgenden  Bronzezeit.  Die 
Aunjetitzer  Auswanderung  z.  B.  (nach  einem  Fundort  in  Böhmen  benannt)  in  der 
ersten  Periode  der  Bronzezeit  soll  aus  Mittel-  und  Süddeutschland  nach  Süd- 
osten erfolgt  sein,  weil  in  der  zweiten  bronzezeitlichen  Periode  jene  Gebiete 
fundarm  werden  und  die  Skelette  der  Aunjetitzer  liegenden  langschädligen  Hocker 
sich  dem  nordischen  Typus  nähern.  Aber  neue  Funde,  die  sich  tagtäglich  ein- 
stellen, können  diese  ganze  Siedelungstheorien  doch  über  den  Haufen  werfen. 
Auf  S.  54  tauchen  endlich  (hurra!)  als  Krone  aller  bisherigen  Erörterungen  die 
Indogermanen  auf,  und  nun  kann  man  versuchen  „mit  den  Mitteln  der  Vor- 
geschichtsforschung das  indogermanische  Rätsel  zu  lösen  und  die  Spuren  zu  finden, 
die  uns  sicherer  als  rein  sprachliche  Untersuchungen  in  die  Heimat  der  Indo- 
germanen führen."  Nach  Kossinnas  neuester  Theorie  werden  die  'Ostseevölker 
als  die  Westindogermanen,  die  mitteleuropäischen  Bandkeramiker  als  die  Ost- 
indogermanen hingestellt,  ohne  dass  irgend  ein  zwingender  Grund  für  diese 
Gleichstellung  angegeben  wird,  ausser  Kossinnas  Dogma  von  der  nordischen  Rasse 
und  der  europäischen  Urheimat  der  Indogermanen.  Ehe  aber  ihre  weiteren  Schick- 
sale verfolgt  werden,  wendet  sich  Hahne  der  Betrachtung  der  Kultur  des  Mittel- 
meerkreises zu,  wohin  er  jene  um  1600  v.  Chr.  gelangen  lässt.  Auch  nach  dem 
Orient  verfolgt  er  sie,  wir  hören  von  den  Medern,  Baktrern,  Persern  und  Indern, 
die  aus  Europa  nach  Asien  gewandert  seien.  Neu  sind  dabei  die  Behauptungen, 
Zoroasters  Religion  gehe  auf  den  indogermanischen  Götterglauben  zurück,  das 
Sanskrit  sei  die  heilige  Buchstabenschrift  der  Inder,  und  ihre  Dichtungen  muteten 
uns  an,  „als  seien  sie  griechischen  oder  altdeutschen  Ursprungs".  Die  Lieder 
der  Veden  also,  die  doch  etwa  bis  1000  v.  Chr.  zurückreichen,  werden  mit  den 
mindestens  1800  Jahre  jüngeren  althochdeutschen  Dichtungen  auf  eine  Stufe  gestellt! 
Auch  durch  den  ganzen  übrigen  Rest  des  Buches  zieht  sich  wie  ein  roter  Faden 
die  fortwährende  Verquickung  prähistorischer  Funde  mit  sprachlichen  Begriffen. 
So  heisst  es  auf  S.  79:  „Seit  etwa  1200  v.  Chr.  beginnt  das  Germanenfundgebiet 
sich  nach  allen  Seiten  auszudehnen."  Mit  welchem  Recht  benennt  Hahn  jene 
bronzezeitliche  Kulturstufe  als  germanisch?  Aber  noch  mehr:  auch  ost-  und  west- 
germanische Funde  werden  unterschieden!  Man  bedenke:  mehr  als  1000  Jahre 
vor  Christus,  während  wir  sprachlich  die  beiden  Gruppen  erst  viele  Jahrhunderte 
nach  Christus  kennen!  Ebenso  unsinnig  ist  es,  die  sogenannten  Gesichtsurnen  als 
ostgermanisch,  die  Hausurnen  als  westgermanisch  zu  bezeichen.  Eine  derartige 
willkürliche  Verwendung  sprachgeschichtlicher  Termini  muss  doch  ganz  falsche 
Vorstellungen  erwecken.  Wo  sich  der  Verfasser  auf  seine  Domäne,  das  archäo- 
logische Gebiet,  beschränkt,  sind  seine  Darlegungen  zuverlässig;  sowie  er  auf  das 
geschichtliche  und  sprachliche  Gebiet  übergreift,  muss  Vorsicht   gegenüber  seinen 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1911.    Heft  2.  ^4 


•_>!()  Feist,  Samter: 

Behauptungen  empfohlen  werden.  Es  kann  uns  nach  dem  oben  Gesagten  nicht 
überraschen,  dass  das  Buch  in  einen  Panegyrikus  des  germanischen  Wesens  und 
der  germanischen  Rasse  ausklingt.  Diese  ist  natürlich  auch  die  indogermanische 
Rasse,  blond  und  blauäugig  sind  die  Edlen  aller  Völker  indogermanischer  Zunge, 
langschädlig  müssen  sie  der  Theorie  zu  Liebe  auch  sein  usw.,  ganz  nach  Chamberlain, 
Woltmann,  Penka,  Wilser.  Das  Beste  an  dem  in  etwas  schwülstiger,  prätentiöser 
Sprache  geschriebenen  Buche  sind  entschieden  die  Abbildungen,  deren  Auswahl 
als  geschickt  bezeichnet  werden  muss.  Auch  die  Ausstattung  ist  zu  loben;  freilich 
ermüdet  das  Lesen  auf  dem  spiegelnden  Kunstdruckpapier  die  Augen.  Doch  das 
ist  ein  Fehler  fast  aller  modernen  Illustrationswerke. 

Berlin.  Sigmund   Feist. 


Die  Anthropologie  und  die  Klassiker.  Sechs  Vorlesungen,  gehalten  vor 
der  Universität  Oxford  von  Arthur  J.  Evans,  Andrew  Lang,  Gilbert 
Murray,  F.  B.  Jevons,  J.  L.  Myres,  W.  Warde  Powler.  hrsg.  von 
R.  R.  Mar ett.  Übersetzt  von  Johann  Hoops.  Heidelberg,  Carl  Winter, 
1910.     226  S.     8°.     5  Mk. 

Das  Komitee  für  Anthropologie  in  Oxford,  „das  vom  Beginn  seiner  Laufbahn 
an  stetig  das  Bedürfnis  im  Auge  behalten  hat,  klassische  Gelehrte  zu  bewegen, 
die  niedrigere  Kultur  zu  studieren,  da  sie  für  die  höhere  von  Bedeutung  ist," 
forderte  im  Jahre  1908  sechs  hervorragende  Gelehrte,  deren  Interessen  und  Ar- 
beiten sich  in  gleicher  Weise  auf  die  klassische  Philologie  wie  auf  die  Anthropo- 
logie erstrecken,  dazu  auf,  an  der  Universität  Oxford  eine  Reihe  von  Vorträgen 
über  'Anthropologie  und  die  Klassiker'  zu  halten.  Der  englischen  Ausgabe  dieser 
Vorlesungen  ist  jetzt  eine  deutsche  Übersetzung  gefolgt. 

Evans  eröffnet  den  Zyklus  mit  einem  Vortrage  'Die  europäische  Verbreitung 
der  Schriftmalerei  und  ihre  Bedeutung  für  den  Ursprung  der  Schreibschrift.'  Von 
den  Zeichnungen  der  Höhlenbewohner  der  spät-paläolithischen  Perioden  führt  er, 
unterstützt  durch  21  Abbildungen,  zu  der  Schriftmalerei  der  kretischen  Funde.  „Die 
konventionalisierte  Schriftmalerei  Kretas,  wenn  sie  uns  auch  nicht  den  wirklichen 
Ursprung  der  späteren  phönizischen  Buchstaben  gibt,  bietet  uns  wenigstens  die  beste 
Erklärung  der  Elemente  dar,  woraus  sie  sich  entwickelt  hat.  Und  man  wird  aus 
dem  bereits  Gesagten  erkennen,  dass  das  ursprüngliche  Feld  der  Schriftmalerei,  aus 
dem  dieses  konventionalisierte  kretensische  System  hervorging,  selbst  nur  ein 
Zweig  einer  weit  verbreiteten  europäischen  Familie  der  Bilderschrift  ist,  deren 
Urkunden  von  Lappland  bis  zu  der  Strasse  von  Gibraltar  und  vom  Atlantischen 
Ozean  bis  zu  dem  Ägäischen  Meer  verfolgt  werden  können,  und  die  wieder  ihre 
Fortsetzung    auf   der  afrikanischen  und  der  asiatischen  Seite  findet."  Andrew 

Lang  gibt  in  der  zweiten  Vorlesung  'Homer  und  die  Anthropologie'  eine 
Schilderung  der  homerischen  Zustände.  Er  betont,  Homer  sei  keine  reiche  Quelle 
für  den  Anthropologen,  weil  er  die  Überreste  des  Barbarischen  und  Rohen,  die 
sicher  auch  zu  seiner  Zeit  existierten,  ignoriert  aus  Rücksicht  auf  das  aristokratische 
Publikum,  für  das  die  homerischen  Gedichte  bestimmt  sind.  —  Murray  in  der 
dritten  Vorlesung  über  'Die  Anthropologie  in  der  griechischen  epischen  Tradition 
ausser  Homer'  hebt  hervor,  dass  bei  seinem  Thema  die  entgegengesetzte  Schwierig- 
keit bestehe  wie  bei  dem  vorhergehenden,  da  hier  ein  überreiches  Material  zur 
Verfügung  stehe.     Hauptsächlich  handelt  er  von  der  göttlichen  Kraft    der  Könige, 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  211 

die  Regen  machen    und  dg].,   wobei    er    Vorstellungen    der  Naturvölker    mit    alt- 
griechischen   Überlieferungen    in    Parallele    stellt.      Diese    'Medizin-Könige',    wie 
Murray    sie  nennt,    werden    häufig    von    ihren  Nachfolgern  verdrängt  und  getötet. 
Einen  Nachklang    dieser    Tatsache    findet  M.  in  der  Erzählung  Hesiods    von    dem 
Verdrängen  des  Uranos  durch  Kronos  und  des  Kronos  durch  Zeus.    Wenn  Kronos 
statt  des  Zeus  einen  Stein  verschluckt  und  später  wieder  ausspeit,  so  sieht  Murray 
die  Vorstellung  durchschimmern,  dass  Zeus  der  Stein  ist,    —    als  Analogie  stellt 
er    andere    als  Gottheiten    geltende  Steine    zusammen.     Diese   'Medizinhäuptlinge' 
oder  Gott-Könige  identifiziert  M.  mit  den  vorhellenischen  Göttern.    Wenn  Herodot 
von  den  namenlosen  Göttern  der  Pelasger  im  Gegensatz  zu  den  Olympiern  spricht, 
so  fasst  Murray    diesen  Gegensatz    als    den  zwischen  Medizinhäuptlingen  und  den 
homerischen  Göttern  auf  und  vermutet,    dass    dieser  Gegensatz    einer    der  Haupt- 
unterschiede der  hellenischen  und  vorhellenischen  Religion  sei.    Vorsichtigerweise 
schliesst  er  jedoch  mit  der  Bemerkung:    „Ein    klareres  Beweismaterial  wird  ohne 
Zweifel  von  einem  besser  ausgerüsteten  Anthropologen  beigebracht  werden,"  woran 
man  bis  auf  weiteres  wohl  noch  zweifeln  darf.    —    Jevons    geht  in  seinem  Vor- 
trage  'Die  gräco-italische  Magie'  von  australischen  und  an  der  Torres-Strasse  ge- 
übten Zauberriten  aus,  in  denen  jemandem  durch  'Singen'  ein  Unheil  zugefügt  wird, 
und  zeigt,  dass  solcher  Zauber  durch  Singen  auch  Griechen  und  Römern  vertraut 
war,  ebenso  auch  das  in  Australien  und  an  der  Torres-Strasse  im  Zauber  übliche 
Zeigen  mit  einem  Stocke,    —    Jevons    führt   hierauf   den    Stab    zurück,    mit    dem 
Kirke,  Hermes,  Athene  zaubern.    Weiter  weist  er  auf  die  Verwendung  von  Bildern 
und  Namen  im  Zauber  hin,    die    man  statt  des  betreffenden  Menschen   selbst  ver- 
wundet, festnagelt  usw.,      -  ein  Brauch,    der    sich  ebenso  in  Amerika,    Australien, 
Afrika,  wie  bei  den  Indern,  Griechen  und  Römern  findet.    Ganz  dieselben  magischen 
Riten,  durch  die  man  Schaden  über  eine  Person  bringt,  dienen  auch  zum  Liebes- 
und Heilzauber,  —    auch    hier    herrscht    völlige  Übereinstimmung    zwischen    den 
Eingeborenen  an  der  Torres-Strasse  und  den  Griechen  und  Römern.     Ebenso  wie 
erstere  oder  Indianer  oder  Australneger  ihre  Magie  ausführen,  ohne  einen  Gott  zu 
Hilfe  zu  rufen,    so    konnte    dies  auch  der  Grieche  und  Römer.     Zwei  Drittel   der 
attischen  Verwünschungstafeln  und  ebenso  auch  zahlreiche  der  römischen  Bleitafeln 
dieser  Art  enthalten  keine  Bezugnahme  auf  eine  Gottheit;  entgegen  der  Auffassung, 
dass  man  auch  da,  wo  keine  Götter  genannt  werden,  voraussetzen  müsse,  irgend- 
welche Götter  würden  gebeten,    die    bösen  Wünsche    des  Schreibers    zu  erfüllen, 
nimmt  Jevons  an,  dass  die  Verwünschung  ursprünglich  rein  magisch  war  und  dass 
erst  später  dem  Zauber  eine  Anrufung  der  Götter  hinzugefügt  wurde,  bis  schliess- 
lich in  den  attischen  Täfelchen  der  Zauber    fast    verschwindet    und    die  Anrufung 
der  Gottheit  das  Wesentliche  wird,  während  im  römischen  Reiche  in  den  späteren 
Inschriften  das  magische  Element  sich  steigert,  bis  es  das  religiöse  gänzlich  verdrängt: 
alle  Arten  von  Gottheiten  werden  angerufen,  aber  nur,  um  von  dem  die  Magie  Übenden 
Aufträge    zu    erhalten,    zu    deren    Ausführung   sie    gezwungen  werden   sollen. 
Myres  behandelt  indem  fünften  Vortrag  nach  einer  Einleitung  über  die  griechischen 
anthropologischen    Theorien    der    vorangehenden    Zeit    die    anthropologischen  An- 
schauungen   Herodots.     Den  Schluss  des  Buchs    bildet  Fowlers  Vorlesung    über 
die  'Lustration'.     F.  bemerkt,    es    gebe  im  Lateinischen  Ausdrücke  für  Reinigung, 
die  älter  sind  als  lustrare  und  lustratio    und  einer  'praeanimistischen  Periode'  an- 
gehören,   nämlich    februum,    februare,    februatio.     Februum    ist    ein    körperlicher 
Gegenstand   mit  einer  magisch  reinigenden  Kraft,    eine  Art  Zaubermittel  derselben 
Kategorie  wie  die  bulla  der  Kinder,  der  apex  des  Flamen,  —  ein  Überbleibsel  aus 
einer  älteren  Periode  religiösen  Denkens,    wo    magische  Vorgänge   die  Regel  und 

1! 


-2\2  Samter,  Heusler: 

religiöse  Vorgänge  die  Ausnahme  bildeten,  aus  einem  Zeitalter,  wo  man  von  einer 
körperlichen  Verunreinigung,  z.  B.  durch  Leichen  oder  durch  Blut,  mit  magischen 
Mitteln  gereinigt  werden  konnte.  Lustratio  dagegen  gehört  einem  Zeitalter  an,  wo 
die  zu  vertreibende  Sache  in  dem  Einlluss  feindseliger  Geister  besteht.  Das  Wort 
bezeichnet  eine  feierliche  Prozession,  wie  sie  ursprünglich  der  italische  Bauer  voll- 
führte, um  die  bösen  Geister,  die  in  der  Waldung  rings  um  ihn  wohnten,  zu  hindern, 
die  Grenzen  seiner  Lichtung  zu  überschreiten. 

Wie  diese  Inhaltsübersicht  zeigt,  enthält  das  Buch  mancherlei  Interessantes. 
Nach  dem  Titel  freilich,  der  eine  allgemeinere  Einführung  in  die  Bedeutung 
der  Anthropologie  für  die  Erforschung  des  griechisch-römischen  Altertums  zu  ver- 
sprechen schien,  und  nach  den  Namen  der  Verfasser  hatte  ich  grössere  Erwartungen 
auf  das  Buch  gesetzt;  es  steht  an  Bedeutung  sehr  weit  hinter  manch  anderem 
englischen  Buche  aus  diesem  Gebiete  zurück,  das  einer  Übersetzung  ins  Deutsche 
nicht  teilhaftig  geworden  ist  (z.  B.  Andrew  Längs  'Custom  and  myth'  und  'Myth, 
ritual  and  religion'  und  besonders  Prazers  Schriften).  Recht  störend  ist  vielfach 
das  mangelhafte  Deutsch  der  Übersetzung. 

Berlin.  Ernst  Samter. 


Sophus  Bugge,  Der  Runenstein  von  Rök  in  Östergötland,  Schweden. 
Nach  dem  Tode  des  Verfassers  hsg.  von  der  k.  Akademie  der  schönen 
Wissenschaften,  Geschichte  und  Altertumskunde  durch  Magnus  Olsen, 
unter  Mitwirkung  und  mit  Beiträgen  von  Axel  Olrik  und  Erik  Brate. 
Stockholm,  Ivar  Hseggströms  Boktryckeri  A.  B.,  1910.  VIII  u.  314  S. 
8°  nebst  4  Tafeln. 

Drei  Anläufe  hat  Sophus  Bugge  genommen,  um  der  grössten  der  nordischen 
Runeninschriften  Herr  zu  werden.  Der  erste  Versuch  war  einer  der  glänzendsten 
Lntdeckerzüge,  die  die  germanische  Altertumswissenschaft  erlebt  hat.  Den  dritten 
legt  uns  hier  der  verständnisvolle  Schüler  und  Mitarbeiter  vor.  Das  Bild  Bugges, 
des  vielseitigen  Meisters,  stellt  sich  dem  Verehrer  in  diesem  Werke  einseitig  be- 
leuchtet dar:  Bugge  ist  hier,  so  entschieden  wie  in  keinem  andern  seiner  umfäng- 
licheren Werke,  der  Rätselrater.  Wo  die  Runen  nur  noch  sinnlose  Lautreihen 
darbieten  oder  wo  Geheimschriften  verschiedener  Gattung  hundert  Möglichkeiten 
eröffnen,  da  wendet  und  dreht  er  das  Gegebene  und  rastet  nicht,  die  Lösung  muss 
sich  linden,  koste  es,  was  es  wolle.  Und  auf  der  schmalen  Basis  dieser  paar 
Dutzend  Zeilen  führt  er  dann  eine  Pagode  auf,  immer  höher;  mag  es  merkbar 
wackeln,  immer  noch  einmal  wird  ein  Stockwerk  aufgesetzt.  Dieser  Baumeister 
Solness  hat  bis  zuletzt  den  Schwindel  nicht  gelernt.  Eine  andere  Frage  ist  die 
nach  der  Haltbarkeit  des  Turmes. 

Unser  Buch  bringt  einerseits  neue  Lesungen  der  verzweifelt  schwierigen 
Stellen.  Ich  hebe  folgendes  hervor.  Wo  man  bisher  zu  lesen  pflegte:  ynd  göänar 
hosli  ('unter  dem  Haselgebüsch  der  Erde'  oder  ähnlich),  da  verficht  jetzt  B.  die 
Worte:  ynd  kvänar  hüss  lini,  und  die  sollen  heissen:  'unter  dem  Leinen  der 
Gattin  des  Hauses',  nämlich  wurde  ein  Sohn  geboren.  Dem  widersetzt  sich: 
1.  die  Wortstellung:  der  abhängige  Gen.  hüss  als  Keil  getrieben  zwischen  die  eng 
zusammengehörigen  kvänar  und  lini  (das,  worauf  sich  S.  131  beruft,  ist  kein  Gegen- 
stück): 2.  kvän  =  uxor,  kona  =  femina,  daher  ist  eine  Verbindung  hüskona  mög- 
lich, eine  Verbindung  hüss  kvän  nicht;  kvän  hat  neben  sich  den  genitivus  mariti: 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  213 

3.  das  Leinen  der  Braut,  woran  B.  denkt,  war  ein  Kopfputz;  'unter'  dem  bräut- 
lichen Leinen  kann  aus  doppeltem  Grunde  kein  Sohn  zur  Welt  kommen!  An  das 
Leintuch  des  Ehebettes  zu  denken,  hindern  sachliche  und  sprachliche  Gründe.  - 
Eine  sehr  entfernte  Möglichkeit  oder  nicht  einmal  das  (Brate  S.  296f.)  ist  der  Gott 
Thor,  den  B.  als  Vorfahren  konstruiert,  und  es  ist  innigst  zu  wünschen,  dass 
nicht  etwa  die  künftigen  Mythologen,  unter  Berufung  auf  den  Rökstein,  mit  einem 
Thor  als  Stammvater  schwedischer  Gemeinfreien  aufwarten.  Auch  von  der  Wieder- 
geburt Theoderichs  d.  Gr.  in  dem  Gauten  WamoO'  gilt  im  günstigsten  Falle,  dass 
sie  ebensowenig  widerlegt  wie  bewiesen  werden  kann. 

Zweitens  gibt  es  die  sprachlich  klaren  Stellen,  deren  Inhalt  einer  Aufhellung 
bedürfte.  Hier  erwähne  ich  den  langen  Auslauf  zu  den  seltsamen  zwanzig  Königen 
auf  Seeland.  B.  wagt  die  kühne  Folgerung:  das  nom.  pr.  RäO'-ulf  meint  den 
Krieger,  der  die  neben  ihm  Genannten  beherrscht,  den  Oberkönig.  Diese  lose 
Vermutung  wird  das  Schwungbrett  zu  einem  Flug  in  die  Wolken  hinauf.  B.  ist 
alsbald  bei  Jordanes  und  seinem  König  Rodulf,  bei  den  Schlachten  der  Lango- 
barden mit  den  Herulern,  der  Hadebarden  mit  den  Dänen.  Und  hier  verliert  nun 
der  kühne  Flieger  die  alte  tragbare  Erde  vollkommen  aus  dem  Auge.  Ein-  über 
das  anderemal  heisst  es,  die  Röker  Inschrift  erzähle  davon,  wie  der  norwegische 
Oberkönig  RaOulf  auszog  und  auf  Seeland  fiel.  Aber  nicht  nur,  dass  die  Inschrift 
den  RaO'ulf  als  blossen  Namen  kennt:  ihre  Rechnerei  schliesst  es  kategorisch  aus, 
dass  RaiVulf  an  diesem  Zuge  teilnahm;  denn  dann  wären  es  nicht  20  Könige, 
sondern  "21!  Und  weiter  wird  dann  jeder  einräumen:  zwischen  einem  Kriege, 
worin  ein  Hröpulf  fiel,  und  einem  Kriege,  den  ein  RäcVulf  nicht  mitmachte, 
ist  keine  sehr  schlagende  Ähnlichkeit. 

Dass  Bugge  mit  diesem  'Rök  III'  die  früheren  Erkenntnisse  um  sichere  ver- 
mehrt habe,  kann  man  nicht  behaupten.  Schon  der  von  Brate  beigesteuerte  An- 
hang bringt  eine  lange  Reihe  von  Zweifeln  vor.  Ein  eigentümliches  Verfahren, 
dass  so  im  Rahmen  eines  Buches  zuerst  der  tote  Autor,  dann  der  lebende  Gegner 
das  Wort  ergreift!  Der  Negation  Brätes  kann  ich  meistens  zustimmen.  Seine 
eignen  Aufstellungen  scheinen  mir  ebenso  gewagt  und  oft  künstlich,  ausgenommen 
die  Befürwortung  von  Birnar  statt  des  so  unglaubhaften  Airnar  S.  271  f.  Man  lese 
den  zusammenhängenden  Text  der  Inschrift  S.  301  f.:  lässt  er  nicht  alle  die  logischen 
Unverdaulichkeiten  bestehen,  die  dieser  gautische  Runensonderling  Bjari  der  Nach- 
welt vermacht  hat? 

Zwischen  den  beiden  spannebreiten  Felsgräten,  die  wir  an  Bugges  und  Brätes 
Hand  ängstlich  überklettern,  liegt  ein  kleiner  grüner  Wiesengrund:  das  sind  die 
fünf  Seiten  Olriks  über  die  Könige  auf  Seeland.  Mit  wohltuendem  Gefühl  für 
das,  was  ein  solches  Denkmal  überhaupt  hergeben  kann,  verzichtet  Olrik  darauf, 
unsichere  x  mit  denkbaren  y  und  möglichen  z  zu  potenzieren,  und  begnügt  sich, 
mit  leiser  Hand  den  allgemeinen  Horizont  zu  umreissen,  der  zu  dieser  Namen- 
gebung  hinzuzudenken  ist.  Es  ist  nicht  Heldensage,  sondern  Wikingstil,  8./!».  Jahr- 
hundert, nicht  Völkerwanderungszeit;  es  ist  halbe  Geschichte,  aber  zu  fiktiven 
Formeln  ausgestaltet;  viel  Genaueres  lässt  sich  nicht  sagen.  Möchte  von  dem 
hier  betätigten  Wirklichkeitssinne  und  der  Zurückhaltung  schon  in  der 
Stellung  der  Fragen  recht  viel  auf  die  Spezialisten  der  Runenforschung  über- 
gehen ! 

Noch  ein  paar  Worte  zu  der  Dietrichstrophe!     Ihre  erste  Hälfte  lautet: 

Raip  piaurikr,  stillir  ilutna, 

hinn  purmupi,  strantu  Hraipmarar. 


OJ4  Heusler,  Beucke: 

Bugge  will  jetzt  das  Beiwort  in  V.  2  nicht  mehr  als  'der  Wagemutige'  fassen, 
sondern  als  'der  wie  Thor  Zornige'.  Aber  das  nachgestellte  schwache  Adjektiv  mit 
dem  Artikel  weist  doch  auf  ein  ruhendes  epitheton  ornans,  und  hierzu  eignet  sich 
der  gelegentliche  Jähzorn  nicht  —  gleichviel  ob  man  in  V.  1.  4  die  Anspielung  auf 
eine  bestimmte  Sagen  Situation  erblickt.  B.  allerdings  neigt  dazu,  das  raip  'ritt'  in 
ein  rep  'herrschte'  zu  emendieren.  Aber  kann  man  in  einer  altgermanischen  Mund- 
art sagen,  ein  König  habe  über  einen  'Strand'  geherrscht?  Der  'Strand'  ist  ein 
(sandiger)  Küstengürtel;  unter  Umständen,  wie  in  einigen  isländischen  Ortsnamen, 
wird  das  Wort  auf  Küstenstriche  von  massiger  Tiefe  ausgedehnt.  Aber  dass  man 
die  am  Meere  gelegenen  Lande  eines  grossen  Königs  'strond'  nennen  konnte,  be- 
zweifle ich.  (Die  metaphorische  Verwendung  bei  jungen  Skalden,  strond  =  regio, 
terra,  kommt  hier  nicht  in  Betracht,  da  ja  strantu  mit  dem  Genitiv  des  Meeres 
verbunden,  also  in  seiner  echten  Bedeutung  verstanden  ist.)  Es  bleibt  daher  bei 
dem  überlieferten  'er  ritt  ...  auf  dem  Strande'.  Dann  aber  darf  man  fragen,  ob 
nicht  eine  bestimmte  epische  Sachlage  vorschwebt.  Der  uns  aus  den  spätma. 
Quellen  bekannte  Dietrichskreis  böte  eine  solche  Lage  dar:  die  Verfolgung  Wi- 
teges  an  den  Meeressaum  (Rabenschlacht  921— 9G8,  vgl.  Thidr.  s.  c.  336):  es  ist 
einer  der  heroischen  Augenblicke  des  sagenhaften  Dietrich,  ein  Höhepunkt  der 
einen  der  Dietrichsfabeln,  der  Sage  von  den  Etzelsöhnen.  Da  man  den  Kern 
dieser  Sage  als  uralt  nehmen  darf,  braucht  es  nicht  zu  befremden,  wenn  das  ein- 
zelne Motiv  für  das  9.  Jahrhundert  bezeugt  wird.  Es  ergibt  sich  dann  auch  eine 
logische  Beziehung  zwischen  den  beiden  Halbstrophen:  der  Ausgangspunkt  für  den 
Dichter  war  die  zweite  Hälfte,  das  Aachener  Reiterstandbild.  Dieser  gegossene 
Dietrich  zu  Pferd  erinnerte  den  Sagenkundigen  an  den  Augenblick,  da  der  lebende 
Dietrich  einen  dichtunggefeierten  Ritt  vollführte.  Mag  sein,  dass  im  Bewusstsein 
des  Dichters  ein  Gegensatz  mitklang  zwischen  dem  Einst  und  dem  Jetzt:  der  wilde 
Verfolgungsritt  und  das  ruhige  Sitzen  auf  dem  Gotenrosse,  'den  Schild  im  Gehäng- 
riemen'. Zugleich  braucht  man  dann  für  die  Angabe  in  V.  1—4  keine  geschicht- 
lichen Kenntnisse  von  Theoderich  und  seinem  Reiche  am  Mittelmeer  anzustrengen, 
Kenntnisse,  die  nur  aus  gelehrter  Vermittlung  fliessen  könnten.  Es  würde  sich 
alles  aus  der  schriftlosen  Sage  erklären.  Bugge  betont  freilich  zu  den  Namen 
Hraipmarr  und  Maringar  (S.  45.  55),  unsere  Inschrift  bewahre  historische  Er- 
innerungen an  Theoderich,  im  Gegensatz  zu  den  Sagenzeugnissen  des  12./13.  Jahr- 
hunderts. Allein  die  beiden  Namen  sind  ja  den  Geschichtswerken  des  Mittelalters 
unbekannt,  sie  wurden  gewiss  nur  in  der  Sagendichtung  vererbt.  Der  Unterschied 
zwischen  dem  Röksteine  und  den  jungen  Dietrichsquellen  beruht  also  nicht  darauf, 
dass  dort  geschichtliche,  hier  heldensagliche  Tradition  fortlebt,  sondern  darauf, 
dass  dort  noch  ältere  Sagennamen  zutage  treten  —  dieselben  wie  in  der  ungefähr 
gleichzeitigen  altenglischen  Sagenpoesie.  Schucks  Bemerkung,  für  den  Ritzer  unserer 
Inschrift  sei  piaurikr  der  sagenhafte  Dietrich  gewesen  (S.  55),  besteht  zu  Recht. 

13 e r  1  i n.  Andreas  Heusler. 

Landeskunde  der  Provinz  Brandenburg,  unter  Mitwirkung  hervorragender 
Fachleute  herausgegeben  von  Ernst  Friedel  und  Robert  Mielke. 
Band  2:  Die  Geschichte  von  Gustav  Albrecht,  Theodor  Meinerich, 
.1.  G.  Gebauer,  Friedrich  Holtze,  Spatz,  Carl  Brinkmann,  Max  Fiebel- 
korn,  Conrad  Matschoss  und  August  Foerster.  Berlin,  Dietrich  Reimer 
(Ernst  Vohsen)  1910.  XII,  496  S.,  mit  71  Abbildungen  im  Text,  zwei 
Tabellen  und  fünf  Karten.     4  Mk.,  geb.  5  Mk. 


Berichte  und  Bücheranzcigen.  215 

Dem  ersten  Bande  der  „Landeskunde  der  Provinz  Brandenburg"  ist  binnen 
Jahresfrist  der  zweite  gefolgt.  Er  umfasst  die  Geschichte  und  behandelt  in  seinen 
Unterabteilungen  die  Landesentwicklung,  die  Bevölkerung,  die  Religions-,  Rechts-, 
Verwaltungs-  und  Wirtschaftsgeschichte.  Eine  reichliche  Beigabe  von  Abbildungen 
schmückt  auch  diesen  zweiten  Band.  Seinem  kurzen  Abriss  der  Landesentwicklung 
der  Mark  gibt  Dr.  Gustav  Albrecht  zwei  farbige  Karten  mit,  von  denen  die  erste 
die  allmähliche  Gebietserweiterung  unter  den  Askaniern,  die  andere  die  Er- 
werbungen der  Hohenzollernschen  Herrscher  veranschaulicht.  Gleichfalls  zwei 
farbige  Karten  (über  'Wachstum'  und  'Dichtigkeit')  erläutern  neben  zahlreichen 
Tabellen  den  Text  des  zweiten  Abschnittes,  in  welchem  Dr.  Theodor  Meinerich 
die  Variation  der  Bevölkerung  nach  Dichtigkeit  und  Zunahme,  nach  Geschlecht, 
Alter  und  Familienstand,  nach  Herkunft,  Bekenntnis,  Sprache  und  Beruf  bespricht. 
Hier  sehen  wir  überall  den  überwiegenden  Einüuss  hervortreten,  den  die  Ent- 
wicklung Berlins  in  den  letzten  100  Jahren  auf  alle  Bevölkerungsverhältnisse  der 
Mark  ausgeübt  hat.  Die  Religionsgescbichte  von  Dr.  J.  Gebauer  weist  zunächst 
die  Spuren  vorwendischer  und  wendischer  Gottesverehrung  in  der  Mark  nach, 
führt  den  Leser  weiter  zu  den  Zeiten  germanischer  Kolonisation  und  Mission, 
insbesondere  zu  den  Kulturtaten  der  Zisterzienser,  schildert  die  Ausbildung  der 
kirchlichen  Seelsorge  und  verweilt  bei  dem  Heiligendienste  und  den  geistlichen 
Brüderschaften.  Ausführlicher  wird  die  Einführung  der  Reformation  und  die 
Organisation  der  lutherischen  Kirche  besprochen.  Ein  kurzer  Überblick  des  kirch- 
lichen Lebens  der  letzten  Jahrhunderte  beschliesst  den  Abschnitt.  Das  mannig- 
faltige Gebiet  der  Rechtsgeschichte  behandelt  Kammergerichtsrat  Dr.  Friedrich 
Holtze.  Von  den  Ursprüngen  des  märkischen  Rechts  ausgehend  grenzt  er  den 
Umfang  landesherrlicher,  städtischer,  ständischer  und  patrimonialer  Gerichtsbarkeit 
gegeneinander  ab,  verzeichnet  die  Versuche  einer  Kodifizierung  des  gesamten 
Rechts  und  schildert  die  Bestrebungen  nach  Vereinfachung  und  Verallgemeinerung 
der  Gerichtsverfassung  und  im  weiteren  Verfolg  das  allmähliche  Zurücktreten  des 
märkischen  Rechtes  hinter  dem  allgemeinen  Landrechte.  Mit  der  Rechtsgeschichte 
wird  uns  zugleich  ein  gutes  Stück  Kulturgeschichte  gegeben.  Das  gilt  nicht 
minder  von  dem  nächsten  Teile,  der  'Verwaltungsgeschichte'  von  Dr.  Spatz.  Der 
Gegensatz  zwischen  der  Entwicklung  der  Städte  und  der  dörflichen  Gemeinden 
ist  es,  der  im  Vordergrunde  steht;  dort  Aufsteigen  zu  hoher  Blüte  und  Selb- 
ständigkeit, gleichzeitig  hier  Herabsinken  des  Bauern  zu  niedriger  wirtschaftlicher 
und  rechtlicher  Stellung.  Es  folgt  die  Periode  der  erstarkenden  Fürstenmacht, 
die  die  Städte  zu  Ohnmacht  und  Abhängigkeit  verurteilt,  bis  das  19.  Jahrhundert 
den  städtischen  und  schliesslich  auch  den  ländlichen  Gemeinwesen  die  Selbst- 
verwaltung bringt.  Die  ersten  drei  Abschnitte  der  nun  folgenden  Wirtschafts- 
geschichte von  Dr.  Carl  Brinkmann  beschäftigen  sich  mit  der  landwirtschaftlichen 
Bevölkerung,  mit  der  Geschichte  des  Acker-,  Garten-  und  Weinbaus,  der  Vieh- 
zucht, des  Forst-,  Jagd-  und  Fischereiwesens,  ferner  mit  der  Entwicklung  des 
Handels,  des  Post-,  Schiffs-  und  Eisenbahnverkehrs  und  des  Gewerbes  in  der 
Mark,  insbesondere  mit  dem  Aufschwünge  des  Gewerbfleisses  in  Berlin.  Den 
Schluss  des  Bandes  bilden  einige  kleinere  Aufsätze  über  die  Hauptindustrien  der 
Provinz.  Rüdersdorfer  Kalk,  Zehdenicker  Ziegeln,  Veltener  Öfen,  Cottbusser  und 
Forster  Tuche  und  manche  andere  Spezialität  der  Mark  finden  hier  ihre  Würdigung. 
Eine  Karte  zeigt  das  Vorkommen  der  Braunkohle  und  die  Hauptzentren  der  Ziegel- 
industrie. 

Zehlendorf.  Karl    Beucke. 


216  Andree-Eysn,  Hirsch: 


Ernst  von  Frisch,  Kulturgeschichtliche  Bilder  vom  Abersee.  Ein  Beitrag 
zur  Salzburgischen  Landeskunde.  Mit  neun  Abbildungen  und  einer 
Karte.    Wien  und  Leipzig,  Alfred  Holder,  1910.    VIII,  113  S.  8°.  3,40  Mk. 

Der  Aber-  oder  St.  Wolfgangsee  liegt  in  herrlicher  Alpenlandschaft  an  der 
oberösterreichisch-salzburgischen  Grenze.  Es  ist  ein  historisch  stiller  Winkel, 
dessen  lokale  Geschichte  in  den  letzten  Jahrhunderten  zum  grossen  Teil  durch 
Grenzstreitigkeiten  ausgefüllt  wird.  Sie  erscheinen  uns  aber  kulturgeschichtlich 
von  Belang,  da  der  Verfasser  es  versteht,  uns  durch  sie  ein  treffliches  Bild  ver- 
gangener Zeiten  vor  Augen  zu  führen.  In  eingehender  Weise  berichtet  er  in 
diesem  kleinen  Buche  über  die  damaligen  Wirtschaftsverhältnisse.  Zölle,  Gerichts- 
und Forstwesen,  Jagd  und  Schiffahrt  und  namentlich  werden  die  kirchlichen  Ver- 
hältnisse und  was  damit  zusammenhängt,  erörtert. 

Reich  ist  die  Literatur  angezogen,  nur  flüchtig  die  vorgeschichtlichen  Be- 
ziehungen. Vielleicht  hätten  die  Urkunden,  die  so  mannigfachen  Stoir  geboten, 
auch  für  die  Volkskunde  Ausbeute  geliefert. 

Wer  aber  seine  Sommerfrische  an  den  Ufern  des  Wolfgangsees  verbringen 
oder  wie  Ott  Heinrich,  Pfaltzgraf  by  Rhein,  zu  dem  Aberseer  Gotteshaus  pilgern 
will,  und  wer  mit  der  hoch  über  dem  See  gelegenen  Bahn  von  Norden  her  den 
See  erreicht  und  tief  unten  das  liebliche  Brunnwinkl  erblickt,  wird  Interesse  für 
die  Vergangenheit  dieser  Stätte  empfinden,  und  dem  sei  dies  kleine  Buch  wärmstens 
empfohlen. 

München.  Marie  Andree-Evsn. 


Theodor  Birt,  Aus  der  Provence.  Reiseskizzen.  (Deutsche  Bücherei  112/113.) 
Berlin,  Otto  Koobs.    o.  J.    166  S.    Kl.  8°.    1  Mk. 

Man  könnte  das  Büchlein,  die  Frucht  eines  fünfwöchentlichen  Aufenthaltes 
in  der  Provence,  als  harmlose  Reisebeschreibung  passieren  lassen,  schlüge  es  nicht 
zuweilen  einen  wissenschaftlichen  Ton  an,  der  den  Leser  Wertvolles  erwarten 
lässt.  Bald  werden  die  'Jahreshefte  des  österreichischen  Instituts",  bald  Mommsens 
'Römische  Geschichte',  bald  ein  Werk  über  die  Verwendung  des  Feuers  in  antiken 
Seeschlachten  zitiert.  Historische  Reminiszenzen  machen  sich  überall  in  auf- 
dringlicher Weise  breit  (S.  38  ff.,  47  f.,  58  ff.,  117  ff.  usw.).  Sie  würden  weniger 
stören,  stünden  nicht  dazwischen  Bemerkungen,  wie  sie  der  Durchschnittsreisende 
zwar  macht,  bei  einiger  Bescheidenheit  auch  in  sein  Tagebuch  notiert,  aber  doch 
niemals  veröffentlicht.  Triviale  Ausrufe  („Wie  schön  ist  es  doch,  in  fremden 
Gassen  müssig  zu  schlendern!"  S.  18,  „Römertum,  Römertum.  ich  hatte  es  ganz 
vergessen!"  S.  24)  wechseln  ab  mit  humoristischen  Gedichten  etwa  folgender  Art: 
„Wer  anhebt  die  Provence  zu  preisen,  der  darf  nicht  schweigen  von  den  Speisen" 
(S.  134)  oder  „Auf  Bergen  hoch  wohnt  die  Bellevue,  Sie  aufzusuchen  kostet  Müh" 
(S.  18). 

Für  die  Volkskunde  fällt  bei  dieser  Art  der  Reisebeschreibung  natürlich  nicht 
viel  ab.  In  Lyon  hat  Birt  das  Interessanteste  leider  nicht  gesehen:  das  Museum 
für  Erzeugnisse  der  Seidenindustrie,  das  für  den  Erforscher  des  Volksgeschmacks 
und  der  Volkstrachten  eine  unerschöpfliche  Fundgrube  ist.  Über  den  S.  54  er- 
wähnten Farandole-Tanz  auf  der  Brücke  in  Avignon  hätte  man  gern  näheres 
gehört.     Auch  von  Bräuchen    bei    der  Weinernte    hat    B.   wenig  gesehen.      Dabei 


Berichte  und  Bücheranzeigen.  —  Notizen.  217 

kann  selbst  der  schnell  Reisende  hier  leicht  Beobachtungen  machen:  denn  der 
provenzalische  Bauer  ist  nicht  verschlossen  und  kennt  vor  allem  nicht  die  Scheu 
vor  dem  Deutschen,  die  dem  nordfranzösischen  eigen  ist.  Ganz  anschaulich  ge- 
schildert ist  ein  Stiergefecht  in  Nimes  (S.  72  f.).  Das  Buch  schliesst  mit  den  — 
natürlich  scherzhaft  gemeinten  — ,  aber  doch  etwas  unvorsichtigen  Worten: 
_,Dem  Nebenmenschen  ist  Unheil  widerfahren,  der  nun  gar  diese  Erinnerungen 
lesen  soll." 

Berlin.  Julian  Hirsch. 


Notizen. 

Die  Evangelien  vanden  Spinrocke,  metter  glosen  bescreven  ter  eercn  vanden 
vrouwen.  Antwerpen,  M.  Hillen  van  Hoochstraten  e.  1520.  (Neudruck  von  G.  J.  Boeken- 
oogen).  's-Graveuhage,  M.  Nijhoff.  [1910.]  20  Bl.  +  14  S.  4Ü.  2,75  11.  —  Die  in  Nord- 
frankreich oder  Flandern  entstandenen  'Evangiles  des  quenouilles',  die  zuerst  um  1480  zu 
Brügge  und  zuletzt  1855  in  Paris  im  Druck  erschienen,  liefern  uns  ein  trotz  der  satirischen 
Absicht  des  Vf.  recht  wertvolles  Verzeichnis  abergläubischer  Meinungen  des  15.  Jahrh.  und 
sind,  wie  eine  bei  Wynkyn  de  Worde  erschienene  englische,  eine  1537  u.  ö.  gedruckte 
deutsche  (vgl.  oben  13,  457  f.)  und  die  hier  vortrefflich  reproduzierte  niederländische  Über- 
setzung erweisen,  auch  ausserhalb  des  französischen  Sprachgebietes  fleissig  gelesen  worden. 
In  seinem  Nachworte  zeigt  Boekenoogen,  dass  die  um  1520  gedruckte  Antwerpener  Auf- 
gabe des  niederländischen  Textes  auf  einem  verlorenen  älteren  Drucke  beruht,  dass  aber 
die  drei  späteren  Drucke  (zuletzt  Amsterdam  1GG2)  aus  ihr  geflossen  sind  und  nur  ein 
paar  Satiren  auf  die  Frauen  hinzufügen.  Abgesehen  von  einigen  Kürzungen  und  Miss- 
verständnissen schliesst  der  nid.  Übersetzer  sich  genau  an  das  französische  Original  an. 
Ob  auch  das  jedem  der  sechs  Abschnitte  voraufgehende  charakteristische  Bild  der  sechs 
Frauen,  von  denen  vier  spinnen  und  die  fünfte  der  sechsten  ihr  Evangelium  diktiert,  schon 
auf  ein  französisches  Vorbild  zurückgeht,  wird  leider  nicht  gesagt. 

V.  Junk,  Tannhäuser  in  Sage  und  Dichtung.  München,  C.  11.  Beck  11)11.  51  S.  Kl.  8°. 
1  Mk.  -  -  Der  Vf.  weist  im  Anfang  der  kleinen  Schrift  auf  die  vielverbreiteten  Sagen  von 
der  'Bergentrückung'  hin  und  bringt,  wie  andere  vor  ihm,  die  Tannhäusersage  damit  in 
Verbindung.  Er  scheint  sich  aber  selbst  in  einer  Art  'Bergentrückung'  befunden  zu  haben, 
als  er  dies  Büchlein  schrieb  und  herausgab,  denn  die  gesamte  Tannhäuserliteratur  der 
letzten  Jahrzehute  ist  ihm  unbekannt  geblieben.  Obendrein  kann  dieser  Quidam  (übrigens 
ein  österreichischer  Universitätsdozent)  nicht  einmal  sagen,  er  sei  weit  davon  entfernt,  dass 
er  von  Toten  was  gelernt:  beruft  er  sich  doch  mit  Vorliebe  auf  den  alten  Grässe  und 
ähnliche  längst  verstorbene  oder  niemals  lebendig  gewesene  Leute! 

G.  L.  Kittredge,  Notes  on  witchcraft  (Proceedings  of  the  American  Antiquarian 
Society  vol.  18.)  Worcester,  Mass.  1907.  Gl  S.  —  Auch  Amerika  hat  Hexenverfolgungen 
gehabt;  1692  — 1<">93  wurden  zu  Salem  in  Massachusetts  22  Personen  unter  diesem  Ver- 
dachte getötet.  K.  zeigt,  dass  diese  Bewegung  keineswegs  aus  der  puritanischen  Welt- 
anschauung floss,  sondern  aus  den  von  England  mitgebrachten  Ansichten  über  Magie  zu 
erklären  ist,  wo  viele  angesehene  Gelehrte  des  17.  Jahrhunderts  den  Hexenwahn  verteidigten 
und  noch  1712  eine  Hexe  zum  Tode  verurteilt  wurde. 

C.  A.  Kortums  Lebensgeschichte,  von  ihm  selbst  erzählt,  hrsg.  von  K.  Deicke. 
Dortmund,  F.  W.  Ruhfus  1910.  VIII,  82  S.  Kl.  8°.  1,50  Mk.  —  Seiner  1893  erschienenen 
Darstellung  des  Lebens  und  der  Schriften  des  Jobsiadendichters  Carl  Arnold  Kortum 
hat  Deicke  kürzlich  als  Ergänzung  diese  Selbstbiographie  folgen  lassen,  die  er  durch  einen 
Zufall  entdeckt  hat.  Das  der  Hauptsache  nach  vollständig  abgedruckte  Schriftchen  berührt 
uns  angenehm  durch  den  schlichten  Ton  der  Erzählung:  es  beginnt  mit  einigen  Nach- 
richten von  dem  alten  Geschlechte  der  Kortume  und  führt  bis  zur  Geburt  von  Kortunis 
ersten  Enkelkindern.  Aus  dem  Inhalt  interessieren  vor  allem  die  Mitteilungen  aus  der 
Schulzeit   und    Studentenzeit,    die    einen  Einblick   in    den  Betrieb    an    den  höheren  Lein- 


2  1  8  Notizen. 

anstalten  und  in  der  medizinischen  Fakultät  sowie  in  die  Zeremonien  der  Doktorpromotion 
in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  gestatten.  Für  die  Volkskunde  ist  der  Ertrag 
des  Rüchleins,  trotz  Kortums  vielseitigen  Interessen,  gering.  Hierher  gehört  etwa,  dass  er 
aus  eigenem  Trieb  das  Jüdisch-deutsche  sehr  gut  lesen  lernte.  Wesentlicher  ist  seine 
Stellung  zur  Alchemie,  die  er  in  einem  besonderen,  360  Seiten  starken  Buch  verteidigt 
hai  (Duisburg  1789),  und  eine  ganz  eigentlich  volkskundliche  Schrift  ist  seine  1804  ver- 
t'asste  'Beschreibung  einer  neuentdeckten  alten  germanischen  Grabstätte  nebst  Erklärung 
der  darin  gefundenen  Altertümer:  zugleich  etwas  zur  Charakteristik  alter  römischer  und 
germanischer  Leichengebräuche  und  Gräber.'     (R.   Böhme.) 

li.  Kühn  au,  Schlesische  Sagen  2:  Eiben-,  Dämonen-  und  Teufelssageu.  Leipzig, 
I  ibner  1911.  XXXII,  745  S.  10  Mk.  (Schlesiens  volkstümliche  Überlieferungen  hsg.  von 
Th.  Siebs  1 -..  —  Kühnaus  sehr  dankenswerte  Sammlung  und  Sichtung  des  schlesischen 
Sagenmaterials  aus  gedruckter  und  mündlicher  Überlieferung  lässt  den  Seelensagen  des 
ersten  Bandes  (oben  20,  330)  rasch  die  Traditionen  über  die  Naturgeister  folgen.  Aus- 
führlich werden  uns  in  sachlicher,  z.  T.  auch  örtlicher  Anordnung  alle  erreichbaren 
Varianten  vorgeführt,  die  über  die  Eiben  d.  h.  Haus-,  Erd-,  Wald-  und  Wassergeister,  die 
Dämonen  d.  h.  Schlangen,  Berggeister,  Winde,  Biesen,  Tod  und  andere  halbgöttliche 
Wesen,  endlich  über  den  Teufel  v*ien  Feind  der  Menschen,  den  vom  Christentum  über- 
wundenen, den  betrogenen,  den  Helfer  der  Unterdrückten)  handeln,  im  ganzen  691 
Nummern.  Die  allermeisten  Stoffe  sind  durch  ganz  Deutschland  verbreitet;  polnischen 
Charakter  tragen  viele  Sagen  vom  Wassermaun  und  von  dämonischen  Wesen  wie  Zywie, 
Dziewanna,  Zmora;  auf  Böhmen  weist  wohl  das  Motiv  des  Speisens  vom  eisernen  Tisch 
zurück:  in  katholischen  Kreisen  ist  die  Erzählung  von  Luthers  Abstammung  entstanden; 
ziemlich  modern  klingt  es,  wenn  die  Erfindung  des  schlesischen  Streuselkuchens  den 
Zwergen  zugeschrieben  wird  oder  ein  Wassergeist  einen  Wandrer  um  Feuer  für  seine 
Zigarre  bittet.  Neu  ist  die  Bezeichnung  des  heulenden  Windes  als  Melusine,  während  in 
einer  wirklichen  Melusinensage  (S.  228)  der  Name  der  Heldin  vergessen  ist.  Bei  der  Ge- 
schichte vom  Herrn  von  Rechenberg  (S.  669)  hätte  der  Herausgeber  aus  den  von  ihm 
zitierten,  aber  nicht  nachgeschlagenen  Sprichwörtern  Agricolas  das  Datum  1520  gewinnen 
können.  Ein  Übelstand,  der  hoffentlich  später  durch  ein  ausführliches  Sachregister  aus- 
geglichen wird,  besteht  darin,  dass  derselbe  Stoff,  z.  B.  Kind  und  Schlange  (Grimm, 
KHM.  105)  oder  Nix  und  Bär  (R.  Köhler,  Kl.  Schriften  1,  72),  an  fünf  und  mehr  Stellen 
im  Bande  verstreut  auftritt.  Sollte  die  Sammlung  auch  auf  Märchen  (Gevatter  Tod, 
Schmied  von  Jüterbog,  die  vergessene  Braut)  und  Balladen  (Wassermanns  Braut,  die  vom 
Schmied  beschlagene  Pfaffenköchin)  ausgedehnt  werden,  was  ich  nicht  ganz  konsequent 
finde,  so  hätte  auch  die  Literatur  darüber  herangezogen  werden  sollen;  im  Liederhort 
von  Erk-Böhme  Nr.  1  und  219  stehen  noch  andere  schlesische  Fassungen  dieser  Balladen 
verzeichnet.  Doch  gegenüber  der  Reichhaltigkeit  und  Zuverlässigkeit  des  Ganzen  fallen 
solche  kleine  Ausstellungen  nicht  ins  Gewicht. 

Fr.  Ranke,  Der  Erlöser  in  der  Wiege,  ein  Beitrag  zur  deutschen  Volkssagen- 
forschuDi;.  München,  C.  H.  Beck  1911.  3  Bl.,  78  S.  2,80  Mk.  —  Viele  Geistersagen 
schliessen  mit  der  Klage  der  nicht  erlösten  Jungfrau,  nun  müsse  sie  warten,  bis  aus  einem 
künftigen  Baume  eine  Wiege  gezimmert  und  der  darin  ruhende  Knabe  zum  Priester 
geweiht  sei.  Dies  Motiv  wollte  schon  Weinhold  (oben  1,  2.  4,  453)  im  Gegensatze  zu 
mythologischen  Erklärungen  aus  der  in  der  Kreuzholzlegende  gegebenen  Weissagung  von 
Adams  Erlösung  aus  der  Hölle  ableiten.  Jetzt  erbringt  R.  den  Beweis  für  die  Richtigkeit 
dieser  Ansicht,  indem  er  ausführlich  die  Legende  mit  der  Sage  vergleicht  und  als  Zwischen- 
stufe .ine  bereits  im  13.  Jahrh.  vorhandene  Erzählung  von  einer  im  Fegfeuer  über  die  gleiche 
Aussicht  Jauchzeoden  Seele  anführt.  Zugleich  mahnt  die  umsichtig  und  klar  geführte 
Untersuchung  zur  Vorsicht  gegenüber  dem  oft  gerühmten  hohen  Alter  unserer  Volkssagen: 
sie  zeigt,  dass  sich  bisweilen  der  ursprüngliche  Sinn  eines  Motivs  völlig  umkehren  kann, 
und  lehrt  von  neuem,  dass  der  'Deutung'  einer  Sage  die  Erforschung  ihrer  Entwicklung 
voraut'i,rr!i>>n  muss. 


Beruhard  Kahle  f.  —   Brunner:    Protokolle.  219 

Bernhard  Kahle  f. 

Am  9.  Dezember  1!>1U  starb  in  Heidelberg  nach  kurzer  Krankheit  unser  Mitglied,  der 
ao.  Professor  an  der  dortigen  Universität  Dr.  Beruhard  Kahle.  Er  war  in  Berlin  am 
25.  August  1861  geboren  und  hatte  auch  dort  seine  Studien  abgeschlossen.  Sie  bewegten 
sich  von  Anfang  an  vornehmlich  auf  dem  Gebiete  der  nordischen  Sprachen  und  Literaturen, 
weshalb  er  denn  auch  einen  Sommer  auf  Island  zubrachte.  Er  hat  diesen  Aufenthalt  in 
einer  besonderen  Schrift  geschildert,  hat  in  unserer  Zeitschrift  auch  über  Reisen  nach  den 
nördlichen  Ländern  im  17.  und  angehenden  18.  Jahrhundert  und  über  verschiedene  Sitten 
des  Nordens  gehandelt  (vgl.  oben  20,  467).  Denn  nach  und  nach  hatte  er  auch  das  Gebiet 
der  Volkskunde  betreten,  wovon  neben  unserer  Zeitschrift  auch  die  Hessischen  Blätter  für 
Volkskunde  und  die  Arbeiten  Zeugnis  ablegen,  die  er  dem  badischen  Volkstum  widmete 
und  die  dazu  führten,  dass  ihm  als  einzigem  Universitätsprofessor  in  Deutschland  ein 
Lehrauftrag  für  Volkskunde  erteilt  wurde.  Der  Verband  volkskundlicher  Vereine  hatte 
ihn  betraut,  an  der  Sammlung  der  Zaubersprüche  und  Segen  mitzuwirken.  Allzufrüh  ist 
seinem  Wirken  ein  Ende  gesetzt  worden. 


nv 


Berlin.  Max  Roediger. 


Aus  den 

Sitznngs- Protokollen  des  Vereins  für  Volkskunde. 


Freitag,  den  20.  Januar  1911.  Der  Vorsitzende,  Hr.  Geheirnrat  Roediger, 
begrüsste  die  zur  Feier  des  20jährigen  Bestehens  des  Vereins  Versammelten  und 
hielt  folgende  Ansprache,  die  wir  im  Wortlaut  wiedergeben: 

„Wir  treten  heut  an  ungewohntem  Orte  zusammen.  Äussere  Gründe  sind 
daran  schuld;  aber  ich  bedaure,  dass  nicht  wie  sonst  das  Bild  des  Mannes  auf 
uns  herabblickt,  der  der  Begründer  unseres  Vereins  und  sein  Patron  ist,  zu  dem 
wir  in  Ehrfurcht  und  Dankbarkeit  aufschauen,  Karl  "Weinhold.  Freilich,  als  am 
2G.  Januar  1901  das  zehnjährige  Bestehen  des  Vereins  gefeiert  wurde,  war  ihm 
auch  nicht  vergönnt,  dieses  Fest  zu  leiten,  und  musste  ich  den  Erkrankten  ver- 
treten. Er  hat  uns  dann  nicht  mehr  lange  angehört:  am  15.  August  desselben 
Jahres  verschied  er  in  Nauheim.  In  ihm  war  der  Stifter  des  ersten  volkskund- 
lichen Vereins  in  Deutschland  dahingegangen,  und  man  darf  sagen:  zugleich  der 
Begründer  der  wissenschaftlichen  A'olkskunde,  der  ihren  Begriff  und  Umfang  zuerst 
fest  abgegrenzt  und  die  ihr  nötige  Methode  der  Forschung  klar  bestimmt  hat. 

Auch  die  Männer,  die  mit  ihm  den  ersten  Vorstand  des  Vereins  bildeten,  sind 
bis  auf  einen  uns  entrissen.  Zuerst  schied  Wilhelm  Schwartz,  dann  der  jüngste 
unter  ihnen,  von  dem  der  Gedanke  der  Vereinsgründung  ausgegangen  war,  Ulrich 
Jahn,  darauf  Virchow,  Alexander  Meyer  Cohn,  Meitzen.  Erhalten  geblieben  ist 
dem  Vorstand  einzig  Dr.  Georg  Minden,  vom  Ausschuss  die  Herren  Friedel  und 
Erich  Schmidt,  ersterer  der  alljährlich  einstimmig  wiedergewählte  Obmann  des 
Ausschusses.  Grösser  ist  erfreulicherweise  die  Zahl  der  uns  gebliebenen  Urmit- 
glieder,  und  ein  paar  uns  werte  Namen  zeigt  unsere  Liste  in  der  zweiten  Generation: 
Bartels,  Treichel. 

Der  Verein  konstituierte  sich  am  23.  Januar  18'Jl  in  der  Aula  des  Königlichen 
"Wilhelmsgymnasiums  mit  143  Mitgliedern,  die  nach  und  nach  auf  ungefähr  20O 
persönliche  und  korporative  anstiegen;    eine  Zahl,    um    die    der  Mitgliederbestand 


9-JO  Brunner: 

mit  geringen  Schwankungen  sich  seither  bewegt,  die  er  jetzt  um  etwa  ein  Dutzend 
überschritten  hat.  Den  ersten  Vortrag  hielt  August  Meitzen,  die  ersten  Vorlagen 
erläuterten  die  Herren  Jahn  und  Friede!.  Wir  sind  dieser  Disposition  der  Sitzungen 
treu  geblieben:  A'orträge,  grössere  und  kleinere  Mitteilungen,  Erklärung  von  Vor- 
lagen haben  wir  in  allen  Sitzungen  zu  bieten  gesucht,  ein  paarmal  wurden  auch 
Museen  -  das  märkische  und  die  Königl.  Sammlung  für  Volkskunde  —  besichtigt. 
Die  Leiter  dieser  Institute  haben  uns  später  bereitwillig  Gegenstände  daraus  für 
die  so  nötige  Belehrung  durch  den  Augenschein  zur  Verfügung  gestellt  und  so  dem 
öfter  eintretenden  Mangel  an  Vorlagen  abgeholfen.  Nach  dieser  Seite  förderten 
uns  auch  die  allmählich  aufkommenden  Vorträge  mit  Lichtbildern.  Wir  haben  in 
den  beiden  ersten  Jahren  je  9,  dann  je  8  Sitzungen  abgehalten,  im  ganzen  also  162. 
Darin  sind  etwa  100  verschiedene  Redner  zu  Worte  gekommen,  abgesehen  von 
den  nur  an  den  Debatten  Beteiligten;  die  meisten  Redner  Mitglieder  des  Vereins, 
aber  auch  Gäste,  wie  u.  a.  Prof.  Gallee,  Gunkel,  Finck,  Lehmann-Xitsche.  Müllen- 
hoff,  Tiktin,  Dr.  Andersson,  Maler  Holleck  -AVeithmann.  Von  den  früheren  Mit- 
gliedern haben  am  häufigsten  vorgetragen  —  ich  ordne  nach  absteigenden  Zahlen  — 
Weinhold.  Max  Bartels,  Brückner,  Jahn,  von  den  jetzigen  die  Herren  Sökeland, 
Bolte,  Frl.  Lemke,  die  Herren  Mielke,  Brunner.  Friede!,'  Roediger  (zu  meiner 
eigenen  Verwunderung!),  Hahn. 

Für  die  Beteiligung  an  der  Zeitschrift  brauche  ich  nur  auf  das  sorgfältige 
Register  zu  verweisen,  das  Boltes  Fleiss  dem  20.  Bande  beigegeben  hat.  Es  lehrt, 
dass  die  Zahl  der  Mitarbeiter  in  den  letzten  zehn  Jahren  von  199  auf  365  ge- 
stiegen ist  und  dass  die  beiden  Herausgeber  der  Zeitschrift,  Weinhold  und  Bolte, 
die  eifrigsten  Beisteurer  gewesen  sind.  Durch  Austausch  hat  uns  die  Zeitschrift 
zu  einer  reichen  Sammlung  anderer  in-  und  ausländischer  Zeitschriften  unseres  und 
verwandter  Gebiete  verholfen,  und  diese  Bibliothek  ist  durch  einzelne  Gaben  und 
eine  wertvolle,  etwa  200  Nummern  umfassende  Schenkung  der  Witwe  und  Tochter 
unseres  1903  verstorbenen  Mitgliedes  Marelle  in  hochherziger  Weise  vermehrt 
worden. 

Als  unser  Verein  begründet  wurde,  stand  er  allein.  Jetzt  gibt  es  in  den 
Ländern  deutscher  Zunge  gegen  20  Vereine  für  Volkskunde,  und  mehr  als  2  > 
solcher  Vereine,  Museen  und  ähnlicher  Anstalten  schlössen  sich  seit  1904,  zuerst 
durch  die  Bemühungen  des  leider  schon  190G  verstorbenen  Adolf  Strack,  zu  einem 
Verband  zusammen,  dessen  Vertreter  wir  190S  hier  in  Berlin  aufnehmen  konnten. 
Es  ist  wahr:  gemeinsame  Leistungen  hat  der  Verband  noch  nicht  aufzuweisen.  Er 
leidet  unter  der  finanziellen  Lage  der  einzelnen  Vereine  und  des  Deutschen  Reiches 
und  seiner  Staaten,  und  nur  mit  Bangen  erwarten  wir  den  Bescheid  wegen  einer 
erbetenen  Unterstützung,  die  es  dem  Verbände  ermöglichen  sollte,  die  Texte  und 
Melodien  der  deutschen  Volkslieder  vom  18.  Jahrhundert  an  durch  ganz  Deutsch- 
land hin  zu  sammeln,  eine  notwendige  Arbeit,  mit  der  man  in  Österreich  und  der 
Schweiz  schon  begonnen  hat. 

Indes  anderes,  nach  der  idealen  und  realen  Seite,  auf  dem  geistigen  und  sach- 
lichen Gebiete  zu  leisten,  ist  den  der  Volkskunde  dienenden  doch  schon  gelungen. 
Ich  will  hier  nicht  einzelne  Arbeiten  aufzählen,  nur  die  Gewinne  im  grossen  an- 
deuten. 

Es  ist  gelungen,  dem  planlosen  Sammeln  verstreuter,  verbindungsloser 
Kuriositäten  ein  Ende  zu  machen  und  den  an  sich  sehr  schätzbaren  und  unent- 
behrlichen Sammeleifer  in  geregelte  Bahnen  zu  leiten.  Es  ist  gelungen,  wenigstens 
einem  Teile  der  höher  Gestellten  Interesse  einzuflössen  für  die  Denkweise  und  die 
Leistungen  der  tieferen  sozialen  Schichten  und  immer  mehr  die  Erkenntnis  zu  ver- 
breiten, dass  man  hier  nicht  nur  Rohheit,  Albernheit,  Aberglauben  und  Unfug  er- 


o 


Protokolle.  22 1 

blicken  dürfe,  dass  man  vielmehr  dieses  Leben  zu  verstehen  und  mit  jenem  Respekt 
zu  beachten  habe,  den  die  höheren  Schichten  für  das  ihrige  verlangen.  Es  beginnt 
den  sogenannten  Gebildeten  die  Erkenntnis  aufzuleuchten  oder  wenigstens  zu 
dammern,  dass  auch  hier  geistige  Werte  und  aus  ihnen  hervorgehende  wertvolle 
Schöpfungen  vorhanden  sind,  die  sie  mit  dem  abschätzig  so  genannten  Volke  ver- 
binden, die  in  ihr  eigenes  Denken  und  Wirken  hineinreichen,  ja  dessen  Wurzeln 
sind.  Die  Volkskunde  ist  nicht  bloss  die  Kunde  vom  niederen  Volke,  vom  vulgus, 
sondern  von  der  natio,  von  einer  durch  Geburt  und  Abstammung  verbundenen 
Gemeinschaft.  Dessen  soll  nicht  nur  der  Liebhaber  und  Gelehrte,  nein  auch  der 
in  der  Praxis  stehende  Verwaltungsbeamte,  Richter,  Geistliche,  auch  der  Dichter 
und  Künstler  gedenken.  Er  soll  das  Vorhandene  aus  dem  Vergangenen  begreifen 
und  bewerten. 

Aber  die  Volkskunde  soll  nicht  in  den  Grenzen  eines  Volkes  eingeschlossen 
bleiben:  sie  soll  vom  eigenen  Volke  ausgehen,  aber  seine  Leistungen  ver- 
gleichen mit  denen  anderer  Völker.  Historisch  und  vergleichend  muss  sie  ver- 
fahren. Wie  wir  längst  daran  gewöhnt  sind,  die  Sprachen  zu  vergleichen,  wie 
man  dann  begonnen  hat,  Mythologie  und  Recht  und  literarische  Erzeugnisse  zu 
vergleichen,  so  müssen  überhaupt  die  gesamten  Äusserungen  der  geistigen  Anlagen 
verschiedener,  möglichst  aller  Völker  miteinander  verglichen  werden.  Und  die 
geistige  Anlage  eines  Volkes  äussert  sich  nicht  nur  auf  literarischem  und  künst- 
lerischem, sondern  auch  auf  sachlichem  Gebiete,  in  Bauten  und  Geräten  und 
Trachten,  kurz  auch  in  seiner  ganzen  äusseren  Lebensweise.  Der  seinem  Zwecke 
nach  deutliche  Besitz  eines  Volkes  soll  den  undeutlich  gewordenen  anderer  auf- 
klären. 

Diese  vergleichende  volkskundliche  Methode  hat  schnell  in  allen  Wissenschaften 
Fuss  gefasst.  Wer  scheut  sich  heute  noch,  wenn  er  die  trümmerhaften  Über- 
lieferungen oder  kümmerlichen  Reste  ältester  Zustände  sogar  der  vornehmsten 
Nationen  in  Zusammenhang  bringen  und  erklären  will,  bei  den  primitiven  Völkern 
Umschau  zu  halten?  Oder  welchen  wissenschaftlich  Denkenden  beleidigt  es,  wenn 
man  zum  Verständnis  jüdischer  und  christlicher  Kulte,  Anschauungen  und  Lehren 
den  Blick  auf  die  Heiden  des  Orients  und  Griechenlands  richtet?  Wären  Unter- 
suchungen klassischer  Philologen  auf  dem  Gebiete  der  Religion,  der  Sitten  und 
Bräuche,  wie  sie,  um  anderer  Forscher  zu  geschweigen,  von  unseren  hoch- 
geschätzten Mitgliedern  Diels  und  Samter  ausgegangen  sind,  ohne  den  Einfluss  der 
Volkskunde  denkbar? 

Aber  statt  diese  Nachweise  auf  andere  Gebiete  auszudehnen,  will  ich  lieber 
die  Frage  zu  beantworten  suchen:  was  hat  denn  unser  Verein  im  besondern  getan, 
um  die  Wissenschaft  der  Volkskunde  auszubauen,  ihr  Verbreitung  und  Anerkennung 
zu  verschaffen,  ihre  Aufgaben  zu  lösen?  Hier  muss  ich  in  erster  Linie  auf  unsere 
Zeitschrift  hinweisen.  Sie  hat  jahrelang  als  einzige  volkskundliche  durch  die  Tat 
gezeigt,  wie  man  methodisch  Probleme  der  Volkskunde  zu  behandeln  habe,  sie  ist 
auch  bis  auf  den  heutigen  Tag  die  umfassendste,  inhaltreichste  und  bedeutendste 
ihrer  Art,  trotz  wertvoller  Genossinnen,  geblieben  —  das  dürfen  wir  ohne  Über- 
hebung sagen,  weil  es  allgemein  anerkannt  wird.  Das  ist  freilich  in  erster  Linie 
das  Verdienst  ihrer  Herausgeber  Weinhold  und  Bolte,  und  derer,  die  ihre  Ar- 
beiten der  Zeitschrift  zum  Abdruck  überlassen.  Aber  die  materielle  Grundlage  der 
Zeitschrift  bilden  die  Zahlungen  der  Mitglieder  unseres  Vereins,  die  ihren  nicht 
geringen  Jahresbeitrag  vornehmlich  zu  dem  ihnen  bewussten  Zwecke  leisten,  das 
Erscheinen  der  Zeitschrift  zu  ermöglichen,  und  die  sich  um  unsere  Wissenschaft  wohl- 
verdient machen,  wenngleich  ihre  Kraft  allein  ohne  die  uns  bisher  alljährlich  bewilligte 
und  stets  neues  Dankgefühl  erzeugende  Beihilfe  des  zuständigen  Ministeriums  nicht 


222  Brunner: 

ausgereicht  haben  würde,  die  Zeitschrift  aufrechtzuerhalten.  Aber  auch  die  Be- 
deutung unserer  regelmässigen  Zusammenkünfte  sollen  wir  nicht  gering  an- 
schlagen. Sie  erweitern  und  vertiefen  unsere  Kenntnisse  und  wecken  immer  aufs 
neue  bei  uns  freudige  und  befriedigende  Teilnahme  für  unser  Arbeitsgebiet.  Je 
mehr  wir  von  Interesse  daran  erfüllt  sind,  desto  eher  werden  wir  es  andern  ein- 
zuflössen suchen,  und  das  ist  auch  ein  Verdienst,  das  gewiss  jeder  unter  uns  sich 
zusprechen  darf:  Apostel  der  Volkskunde  zu  sein. 

Haben  nun  andere  Vereine  ihren  Schwerpunkt  nicht  in  ihre  Zeitschriften  und 
häufige  Zusammenkünfte  gelegt,  sondern  ihre  Kraft  an  die  Lösung  bestimmter  Auf- 
gaben gesetzt,  wie  Sammlung  von  Flurnamen,  von  Volksliedern.  Aufnahmen  zur 
Hausforschung,  Erwerb  von  volkskundlichen  Gegenständen  usw.,  so  können  wir 
uns  solcher  Unternehmungen  nicht  rühmen.  Das  hat  seinen  Grund  zum  Teil 
darin,  dass  verwandte  Berliner  Vereine  uns  dergleichen  Aufgaben  abnehmen,  haupt- 
sächlich aber  in  dem  Sitz  unseres  Vereins.  Alle  anderen  ruhen  auf  dem  festen 
Untergrund  provinzieller  oder  staatlicher  Bezirke,  die  entweder  ein  im  wesent- 
lichen einheitliches  Volkstum  zeigen  oder  sich  doch  aus  nicht  allzu  vielen  Ein- 
heiten zusammensetzen.  Berlin  hat  einen  alles  Herkömmliche  zerstörenden  Ein- 
lluss,  den  es  weit  um  sich  ausdehnt.  Es  bietet  dem  volkskundlichen  Forscher,  der 
zweckmässig  vom  Gegenwärtigen  aus  rückwärts  schreitet,  ein  schillerndes,  brodeln- 
des Gemisch  dar,  dessen  Bestandteile  sich  fortwährend  verändern  und  das  kein 
sicheres  Füssen  ermöglicht.  Der  Bewohner  Berlins  muss  schon  weit  pilgern, 
wenn  er  einigermassen  von  der  Grossstadt  unberührtes  Volksleben  finden  will.  So 
können  sich  in  unserem  Verein  nur  die  sammeln,  welche  die  allgemeine,  land- 
schaftlich und  völkisch  nicht  beschränkte  Volkskunde  lockt,  ihrer  sind  weniger 
als  die,  deren  Heimatliebe  sie  zur  Vertiefung  in  ihre  Eigenart  treibt,  und  so 
werden  wir,  fürchte  ich,  auf  eine  wesentlich  gesteigerte  Mitgliederzahl  nicht  rechnen 
dürfen.  Trotzdem  brauchen  wir  uns  nicht  vorzuwerfen,  dass  wir  in  diesen  zwanzig 
Jahren  das  Unsrige  nicht  getan  hätten.  Gewiss  wird  sich  im  Betriebe  dies  und 
jenes  bessern  lassen,  und  der  Vorstand  wird  dahingehende  Vorschläge  sorgsam 
prüfen.  Aber  im  ganzen  will  es  mir  doch  scheinen,  als  sei  die  Teilnahme  am 
Verein  und  das  Leben  in  seinen  Sitzungen  reger  geworden,  und  gelernt  haben  wir 
ohne  Zweifel  viel  miteinander  und  voneinander.  Wir  sind  uns  alle  gegenseitig  Dank 
schuldig,  und  den  lassen  Sie  uns  betätigen  durch  Treue  gegen  unseren  Verein  und 
durch  Wirken  zu  seinem  Heil  und  Gedeihen." 

Dann  sprach  Hr.  Robert  Mielke  über  „Die  Giftmischerin  von  Sanspareil,  eine 
Nachwirkung  der  Sage  von  der  weissen  Frau.t;  Die  Sage  von  der  Giftmischerin 
von  Sanspareil  führt  uns  in  ein  von  den  hohenzollernschen  Markgrafen  im  Anfang 
des  18.  Jahrhunderts  gegründetes  oberfränkisches  Schloss.  Unter  der  Burg  liegt 
der  Ort  Wonsees.  Hier  befindet  sich  ein  Grabstein,  wahrscheinlich  dem  Geschlechte 
von  Aufsess  zugehörig,  welcher  im  Volksmunde  der  Grabstein  der  Giftmischerin 
Zwanziger  genannt  wird,  weil  er  mit  fünf  Federn,  die  an  Löffel  erinnern,  ge- 
schmückt ist.  Diese  Dienstmagd  Zwanziger  soll  ihren  Herrn  vergiftet  haben,  und 
ihr  Prozess  fand  anfangs  des  vorigen  Jahrhunderts  in  Turnau  statt.  Die  Sagen- 
bildung bemächtigte  sich  des  Stoffes  und  verband  die  Elemente  der  bekannten  Sage 
von  der  Gräfin  von  Orlamünde  damit.  Das  Motiv  des  Kinderraordes  wurde  auch 
in  die  Sage  von  der  Giftmischerin  von  Sanspareil  übertragen  und  damit  eine  An- 
gleichung  an  die  Sage  von  der  weissen  Frau  vollzogen,  deren  Urheimat  ja  in  der 
dortigen  Gegend  zu  suchen  ist.  Vor  dem  Tode  des  Albrecht  Achilles  trat  die 
weisse  Frau  zuerst  in  Bayreuth  auf.  Den  eigentlichen  Grund  dieser  Sagenbildungen 
des  Volkes  sucht  der  Redner  in  dem  schnellen  und  jähen  Absterben  blühender 
Fürstengeschlechter.     So    ging    das  Geschlecht    der  Beatrice    von  Orlamünde,    die 


Protokolle.  223- 

1:303  auf  der  Plassenburg  starb,  bald  nach  dem  Tode  dieser  grossen  Fürstin  unter, 
und  die  letzten  Orlamünder  schlössen  einen  Erbvertrag  mit  den  Hohenzollern. 
Dieses  jähe  Erlöschen  von  Fürstenhäusern  macht  auf  das  Volksgemüt  einen  be- 
fremdenden Eindruck,  und  volkstümliche  Erklärung  ist  dann  die  Grundlage  der 
Sagenbildung,  wie  an  mehreren  historischen  Beispielen  nachgewiesen  wurde.  Die 
Volksempfindung  bleibt  eben  immer  gleich  und  wird  vermutlich  niemals  mit  der 
Sagenbildung  aufhören. 

Dann  hielt  Hr.  Privatdozent  Dr.  Ed.  Hahn  einen  Vortrag  über  „Die  Erkenntnis 
des  heutigen  Volkslebens  als  Aufgabe  unserer  Wissenschaft",  der  im  nächsten  Heft 
zum  Abdruck  kommen  wird. 

Nach  dem  anschliessenden  gemeinschaftlichen  Festmahl  im  Kaiserkeller  gab 
Frau  Emma  Hertrich  eine  Keihe  volkstümlicher  Lieder  des  In-  und  Auslandes 
zum  Besten,  die  sie  mit  eigener  Begleitung  meisterhaft  vorzutragen  wusste.  Auch 
Frl.  Gesa  Fried el  erfreute  durch  Darbietung  einiger  Volkslieder  die  festliche 
Versammlung. 

Freitag,  den  24.  Februar  1911.  Der  Vorsitzende,  Hr.  Geheimrat  Roediger, 
erstattete  den  Bericht  über  das  Vereinsjahr  1910  und  dankte  nochmals  dem 
Herrn  Unterrichtsminister  für  die  wiederum  dem  Verein  bewilligte  Beihilfe  von 
000  Mk.  Der  Schatzmeister  Hr.  Dr.  Fiebelkorn  erstattete  den  Kassen- 
bericht, wofür  ihm  mit  Dank  Entlastung  erteilt  wurde.  Der  Vorsitzende  legte  dann 
einige  Neuerscheinungen  vor,  wie  das  Buch  von  Seefried-Gulgowski  über  die 
Kaschuben  ('Von  einem  unbekannten  Volke  in  Deutschland'.  Berlin,  Deutsche 
Landbuchhandlung).  Er  wies  darauf  hin,  dass  in  diesem  Jahre  ein  hessisches 
Volkstrachtenfest  in  Kassel  stattfinden  soll.  Eine  Tagung  des  Verbandes  deutscher 
Vereine  für  Volkskunde  soll  am  8.  Juni  stattfinden.  Da  der  Vorsitzende  des  Ver- 
bandes, Prof.  Dr.  E.  Mogk,  sein  Amt  niederlegt,  hält  Hr.  Roediger  es  für  ratsam, 
die  Verbandsgeschäfte  durch  Direktor  Dr.  Lauffer  in  Hamburg  wahrnehmen  zu 
lassen.  Das  Verbandsorgan,  die  'Mitteilungen',  dürfte  eingehen,  aber  der  Verband 
selber  sollte  bestehen  bleiben.  Hr.  Stadtverordneter  H.  Sökeland  erklärt  sich, 
mit  diesen  Vorschlägen  einverstanden  und  fügt  noch  hinzu,  der  bereits  einmal 
vertagte  Antrag  auf  Erhöhung  der  Mitgliederbeiträge  für  den  Verband  sei  ab- 
zulehnen. 

Hr.  Dr.  Brunner  legte  alsdann  einige  nordische  Runenkalender  aus  Holz  und 
Photographien  von  solchen  aus  der  Kgl.  Sammlung  für  deutsche  Volkskunde  vor. 
Allen  diesen  Kalendern  ist  die  Verwendung  von  Runen  zur  Bezeichnung  der 
Sonntagsbuchstaben  und  der  Güldenzahlen  gemeinsam.  Die  Runen  entstammen 
dem  jüngeren  nordischen  Runenalphabet,  Futhork  gen.,  sind  aber  keineswegs  auf 
allen  Kalendern  gleichmässig  gebraucht,  sondern  vielfach  variiert.  Man  kann  dar- 
aus schliessen,  dass  die  Kenntnis  der  Runen  im  17.  Jahrhundert  keinen  festen 
Boden  mehr  im  Volke  hatte.  Die  meisten  Holzkalender  gehören  etwa  dieser  Zeit 
oder  einer  noch  späteren  an.  Der  eine  vorgelegte  Holzkalender  in  Buchform  vom 
Jahre  1688  zeigt  neben  den  Runen  viele  Buchstabeninschriften  in  dem  Festkalender, 
der  ausserdem  wie  bei  allen  übrigen  Exemplaren  mit  vielen  symbolischen  bild- 
lichen Darstellungen  versehen  ist.  Diese  waren  ursprünglich  für  Analphabeten  be- 
rechnet und  sind  bis  in  die  jüngste  Zeit  sogar  in  den  Volkskalendern  vielfach 
erhalten  geblieben.  Der  erwähnte  buchförmige  Holzkalender  zeigt  seinen  nordischen 
Charakter  in  der  Bezeichnung  des  23.  Dezember  als  'Jule  dagh'  und  der  des 
13:  Januar  als  des  20.  Tages  der  Julfeier  mit  dem  Sinnbilde  eines  umgekehrten 
Trinkhornes.  Andrerseits  tritt  das  Protestantentum  an  ihm  in  der  Bezeichnung 
des  10.  November  mit  dem  Namen  'Märt  luter'  hervor.  Eigentümlich  ist  diesem 
Stücke  ferner  die  Angabe  von  .'14  Unglückstagen,    verworfenen  Tagen,    von    denen 


•'■_'  |  Brunner:    Protokolle. 

sieben  allein  auf  den  Januar  fallen.  Man  kennt  in  schwedischen  Kalendern  sonst 
nur  33  Unglückstage.  Den  !>.  Oktober  pllegt  man  sonst  nicht  dahin  zu  rechnen. 
Vielleicht  hatte  der  Besitzer  unseres  Kalenders  einen  persönlichen  Grund  für  seine 
Aufnahme  unter  die  Unglückstage.  Die  Tagewählerei,  wie  Luther  sie  nennt,  ist 
ein  alter  Volksaberglaube,  der  bereits  im  5.  Buch  Moses  18,  10  erwähnt  ist.  Bei 
den  alten  Römern  wären  die  dies  religiosi  oder  vitiosi  und  im  Mittelalter  die  dies 
aegyptiaci  zu  vergleichen.  Der  zweite  vorgelegte  Runenkalender  ist  einer  der  ge- 
wöhnlichen nordischen  Stabkalender.  Er  enthält  nur  runische  und  bildliche  Dar- 
stellungen, keine  Buchstaben.  Der  dritte  endlich  war  ein  solcher  der  schwedischen 
Küstenbewohner  in  Esthland.  Er  ist  auf  7  Holzplättchen  verzeichnet  in  13  Reihen 
von  je  '2S  Tagen.  Er  unterscheidet  sich  wesentlich  von  den  nordschwedischen 
Kalendern,  indem  keine  Güldenzahlenreihe  vorhanden  ist  und  also  die  Mondphasen 
aus  ihm  nicht  berechnet  werden  können.  Er  enthält  nur  2  Reihen  von  Dar- 
stellungen. Oben  die  7  ersten  Runen  des  Futhork  in  beständiger  regelmässiger 
'Wiederholung  als  Sonntagsbuchstaben  und  darunter  der  Pestkalender.  Bemerkens- 
wert ist  an  diesem  Bauernkalender  das  Vorkommen  der  Vigilienzeichen  an  den 
sogen,  heiligen  Abenden  vor  grossen  Festen. 

Alle  diese  Kalender  sind  sogen,  julianische  immerwährende  Kalender,  in  erster 
Linie  schon  in  früher  Zeit  für  den  kirchlichen  Gebrauch  hergestellt  und  später 
durch  Hinzufügung  landwirtschaftlicher  Darstellungen  besonders  im  Norden  auch 
für  den  praktisch-profanen  Zweck  erweitert.  Eine  sehr  ausführliche  Darstellung 
über  die  Runenkalender  hat  E.  Schnippel  im  4.  Heft  der  Berichte  über  die  Tätig- 
keit des  Oldenburger  Landesvereins  für  Altertumskunde,  1883,  gegeben.  • 

Hr.  Archivar  Dr.  Fritz  Behrend  sprach  alsdann  auf  Grund  neuen  handschrift- 
lichen Materials  über  die  Meistersinger  von  Memmingen.  In  der  langen  Lebensdauer 
des  Meistergesangs  —  etwa  1300  bis  1800  —  lassen  sich  verschiedene  Epochen 
scheiden,  die  ihre  Wendepunkte  ungefähr  in  den  Jahren  1450,  1550  und  1650 
haben.  Während  vornehmlich  dank  den  Forschungen  Jakob  Grimms  und  Ludwig 
Unlands  die  Wurzeln  dieser  Kunstübung  und  ihre  Frühzeit  schärfer  beleuchtet 
worden  sind,  zeigte  der  Vortragende,  dass  auch  die  späteren  Entwicklungs- 
stufen, deren  mehrere  sind,  als  man  bisher  annahm,  eine  Fülle  interessanter 
Erscheinungen  bieten.  Gerade  die  Memminger  Schule,  die  erst  um  lrJOO  sich 
zusammenschloss,  ist  für  die  späteste  Entwicklung  aufschlussreich.  Es  wurde 
betont,  dass  die  Memminger  ähnlich  den  Ulmern  sich  gleich  nach  dem  Dreissig- 
jährigen  Kriege  zu  neuer  Tätigkeit  aufrafften.  Die  Memminger  Tabulatur  von 
HiCO  zeigt  patriotischen  Sinn,  Streben  nach  reiner  deutscher,  dialektfreier  Sprache 
und  nach  den  neuen  metrischen  Regeln  Opitzens.  Diese  Handwerker  der  süd- 
deutschen Reichsstadt  werden  so  Bundesgenossen  der  hochgeborenen  Herren,  die 
im  nördlichen  und  mittleren  Deutschland  die  'Fruchtbringende  Gesellschaft'  bildeten. 
Auch  in  ihren  Theaterübungen  suchen  sich  die  Meister  alle  Fortschritte  der 
Schauspielkunst  zu  eigen  zu  machen.  So  finden  wir  sogar  im  ausgehenden  18.  Jahr- 
hundert Schillers  'Räuber'  in  ihrem  Repertoire.  Ein  ominöser,  aber  bezeichnender 
Zufall  fügte  es,  dass  eine  neue  Leichensängerordnung  1874  das  schwache  Lichtlein 
völlig  ausblies. 

Die  während  der  Sitzung  vorgenommene  Ausschusswahl  ergab  folgendes  Re- 
sultat: Hr.  Geheimrat  Friedel  wurde  wiederum  zum  Obmann  des  Ausschusses 
gewählt,  der  sich  im  übrigen  aus  den  Mitgliedern  Bartels,  A.  Behrend, 
Hahn,  Heusler,  Lemke,  Ludwig,  Maurer,  Michel,  Samter,  Erich 
;    hmidt  und  Schulze-Veltrup  zusammensetzt. 

Berlin.  Karl  Brunner. 


Die  Erkenntnis  des  heutigen  Volkslebens  als  Aufgabe 

der  Volkskunde. 

Vortrag,  gehalten  am  20.  Januar  1911 
zur  Feier  des  zwanzigjährigen  Bestehens  des  Vereins  für  Volkskunde. 

Von  Eduard  Hahn. 


Als  Adolf  Bastian,  der  grosse  Organisator  der  Ethnologie,  am  Anfange 
der  sechziger  Jahre  des  19.  Jahrhunderts  die  Aufmerksamkeit  der  deutschen 
Wissenschaft  auf  die  Wichtigkeit  des  kulturellen  Besitzes  der  Aussen- 
völker  für  die  Erkenntnis  der  Menschheit  als  Ganzes  und  im  ganzen 
hinzulenken  versuchte,  da  stand  seinem  schliesslich  ja  grossem  Erfolge 
anfänglich  doch  auch  eine  Opposition  entgegen,  ganz  ähnlich  wie  sie  jetzt 
trotz  unseres  zwanzigjährigen  stillen  Wirkens  auch  unserer  Gesellschaft 
immer  noch  ento-e^ensteht. 

Einmal  meinten  die  sogenannten  verständigen  Leute:  Brauchbares, 
sogenanntes  Positives  käme  doch  gewiss  nicht  dabei  heraus;  auf  der 
anderen  Seite  aber  meinte  man:  es  sei  ja  ganz  unmöglich  und  deshalb 
auch  von  Anfang  an  zwecklos,  den  ungeheuren  Ozean  menschlicher  Gedanken 
einer  wissenschaftlichen  Analyse  und  einer  systematischen  Ordnung  unter- 
werfen zu  wollen. 

Bastian  selbst  hat  dann  doch  noch  den  Triumph  erlebt,  dass  dies 
letzte  Argument  in  einem  Umfange  widerlegt  wurde,  der  seine  eigenen 
kühnsten  Erwartungen  weit  übertraf.  Sachverständige  Ethnologen  können 
jetzt  mit  ruhigem  Gewissen  sagen,  dass  sie  gegen  Überraschungen  in 
ihrer  Wissenschaft  ebensogut  oder  auch  noch  besser  gefeit  sind  als 
manche  Forscher  auf  anderem  Gebiet.  Hat  doch  gerade  unsere  Zeit,  die 
doch  durch  den  ausserordentlichen  Aufschwung  der  Naturwissenschaften 
und  die  damit  verbundene  ungeheure  Entwicklung  der  Technik  am  meisten 
charakterisiert  wird,  erfahren  müssen,  dass  gerade  bei  den  sog.  realen 
Wissenschaften,  Chemie  und  Physik,  die  scheinbar  wichtigsten  und  grund- 
legendsten Sätze  und  Gesetze,   wie  die  Auffassung  der  chemischen  Atonir 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.    1911.    Heft  3.  15 


226  Hahn: 

und  Elemente  und  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft,  in  letzter  Zeit 
geradezu  grundstürzenden  Umformungen  ausgesetzt  gewesen  sind. 

In  der  Ethnologie  haben  wir  dergleichen  wohl  kaum  zu  fürchten  oder 
zu  erwarten.  Wir  werden  in  Zukunft  wohl  manches  besser  erkennen  und 
tiefer  auffassen  lernen,  wir  werden  manche  Gedankenreihen  anders  an- 
einanderknüpfen  und  einzelnes  anders  auffassen  lernen,  aber  wir  werden 
kaum  unsern  Gedankenbau  in  seinen  Fundamenten  erschüttert  sehen  oder 
uns  zu  plötzlichen  grossen  Umbauten  entschliessen  müssen,  ausgenommen, 
es  handele  sich  —  ich  komme  auf  ein  besonderes  Beispiel  noch  zurück 
etwa  um  eine  Erweiterung  unseres  Wissensaufbaus  oder  um  eine  be- 
deutungsvolle Verstärkung  und  Vertiefung  der  Fundamente  unserer  Wissen- 
schaft. Vierkandt  hat  uns  in  seinem  schönen  Buche  über  die  'Stetigkeit 
im  Kulturwandel'  noch  kürzlich  gelehrt,  wie  langsam  eine  Anreicherung 
unseres  Kulturbesitzes  erfolgt  und  wieviel  dazu  gehört,  ehe  alle  Vor- 
bedingungen eines  neuen  Gewinns  für  unsere  Kultur  sich  erfüllt  haben. 
Ich  fürchte  übrigens  sehr,  eine  historische  Periode,  die  uns  schon  recht 
bald  folgt,  wird  für  unsere  Zeit  eine  nicht  kleine  Liste  unserer  Kultur- 
verluste aufstellen  müssen,  die  manchen  von  uns  doch  nicht  wenig;  er- 
schrecken  würde. 

Bastians  Tätigkeit  als  Organisator  der  ethnologischen  Forschung  stand 
nun  von  Anfang  an  unter  einem  beherrschenden  Losungswort,  das  ihm 
zuerst  nicht  immer  nur  gut  gemeinten  Spott  zuzog,  das  ihm  aber  schliesslich 
doch  zu  seinem  grossen  Erfolge  verholfen  hat,  das  war  das  Wort  von 
der  zwölften  Stunde.  Er  wusste  nur  zu  gut  durch  seine  ungeheuren 
Reisen,  dass.  mit  der  Ausnahme  ausserordentlich  beschränkter  und  ver- 
steckter Gebiete  —  ich  nenne  die  durch  alle  Schrecken  des  tropischen 
Urwalds  und  eines  verrufenen  Klimas  geschützten  Stellen  im  Innersten 
Brasiliens,  Borneos,  Neuguineas  und  dergleichen,  daneben  aber  auch 
noch  besonders  das  wohl  kaum  noch  lange  durch  seine  politische  Rück- 
ständigkeit geschützte  Albanien,  die  grosse  Terra  incognita  unserer  Welt 
mitten    in    Europa  alle    übrigen  Gebiete    dem  Weltverkehr   und  dem 

Welthandel  und  ihrer  Tätigkeit  auf  Gnade  und  Ungnade  ausgeliefert  sind. 
Diese  aber  schleifen  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  und  mit  immer  stärker 
•'insetzender  Ausgleichung  alle  Sonderformen  ab  und  alle  Unterschiede 
und  Einzelentwickluneren  weg. 

So  hatte  sich  denn  Bastian  das  hehre  Ziel  gesetzt,  in  «1er  letzten 
Stunde  vor  dem  völligen  Verschwinden  dieser  wichtigen  Entwicklungen 
und  Einzelgestaltungen  noch  alles  zu  sammeln,  um  die  unwiederbringlichen 
Verluste  wenigstens  für  die  Wissenschaft  möglichst  zu  verringern. 

Denn  er  wusste  nur  zu  gut,  dass  diese  allgemeine  Absehleifung  und 
Ausgleichung  aller  Sonderheiten  nicht  unter  allen  Umständen  als 
eine  Kulturb  ereich  er  ung  anzusehen  sei.  Gerade  hier  zeigen  die  idealen 
Forderungen  der  Wissenschaft    und  die   Richtung,    in    die    das   ungeheure 


Die  Erkenntnis  des  heutigen  Volkslebens  als  Aufgabe  der  Volkskunde.  227 

Gewicht  unserer  Wirtschaft  und  unserer  Technik  mit  all  ihren  Macht- 
mitteln die  Massen  der  Menschheit  im  allgemeinen  zwingt,  nach  ganz 
verschiedenen  Seiten. 

Die  Geschichte  —  ich  brauche  nur  an  die  Tätigkeit  Friedrich 
von  Schillers  als  Professor  in  Jena  zu  erinnern  —  hatte  freilich  schon  seit 
mehr  denn  hundert  Jahren  die  Darstellung  der  Entwicklung  der  Menschheit 
als  ihre  Aufgabe  proklamiert,  die  Naturwissenschaften  sind  ihr  darin  ja  aber 
erst  im  letzten  halben  Jahrhundert  gefolgt,  und  Anthropologie  und  Ethnologie 
wüssen  nun  genau,  dass  es  ihre  Aufgabe  ist,  die  durch  die  Entwicklung 
bedingte  körperliche  und  geistige  Verschiedenheit  der  Mensch- 
heit zu  untersuchen. 

Volkskunde  aber  ist  ja  nur  Ethnologie  auf  unser  eigenes  Volk 
angewandt,  und  soll  sich  nun  unsere  Wissenschaft  von  ihrer  Schwester, 
der  Ethnologie,  beschämen  lassen?  Sollten  w7ir  uns  nicht  Bastians  so 
erfolgreiches  Feldgeschrei  in  vollem  Umfange  und  mit  zielbewusster 
Entschlossenheit  aneignen?  Ist  nicht  auch  für  uns  die  zwölfte  Stunde 
gekommen,  in  der  wir  für  die  breitesten  Schichten  unseres  Volkes  den 
geschichtlichen  Zusammenhang  und  damit  zugleich  die  Möglichkeit  der 
ungestörten  Entwicklung  mit  aller  Macht  wieder  anstreben  müssen?  Ist 
es  nicht  die  letzte  Stunde,  in  der  wir  hoffen  können,  aus  unserem  Volks- 
leben wertvollste  Materialien  zu  retten,  die  in  ganz  kurzer  Zeit  unwieder- 
bringlich verloren  sein  werden,  wenn  die  Reste  der  zweiten  Generation 
von  uns,  die  noch  lebend  unter  uns  weilen,  dahingegangen  sind? 

Die  ungeheuerliche  Ausdehnung  des  Industrialismus  mit  seiner  weder 
in  den  Grossstädten  noch  in  den  Industriebezirken  irgendwie  und  irgendwo 
wTurzelfesten  Bevölkerung,  die  ungeheure  Ausdehnung  des  städtischen 
Lebens,  das  leider  einen  überaus  bedenklichen  Hauptteil  der  Gesamtzahl 
unserer  Bevölkerung  in  Gross-  und  Kleinstädten,  ja  selbst  in  den  Industrie- 
dörfern in  die  Mietskasernen  und  Einzimmerwohnungen  mit  ihren  licht- 
losen Höfen  einpfercht,  ja  selbst  das  ungeheure  Anschwellen  der  Be- 
völkerung au  sich  als  unorganisierte  Masse,  die  auch  da,  wo  es  ihnen 
materiell  eigentlich  ganz  gut  geht  und  wo  sie  also  nach  dieser  Seite  wrohl 
gedeihen  könnte,  doch  leider  fast  ganz  ohne  volkliches  Bewusstsein  und 
ohne  sie  befriedigende  ideale  Ziele  ihres  Strebens  in  geistiger  Öde  ihr 
Dasein  verbringt,  lässt  die  Zukunft  unseres  Volkes  in  allertrübstem  Lichte 
erscheinen.  Die  besten  geistigen  Kräfte  in  diesen  Massen  liegen  brach, 
weil  sie  nicht  wissen,  was  sie  damit  anfangen  sollen  und  für  wen  und 
auf  welches  Ziel  hin  sie  arbeiten  sollen.  Da  kann  uns  nun  auch  die  Volks- 
kunde, d.  h.  die  Kenntnis  vom  geschichtlichen  Charakter  unseres  Volkes 
und  von  der  Geschichte  seines  Lebens  nach  den  einzelnen  Landschaften 
und  nach  den  verschiedenen  Berufsarten,  gründlich  und  nachhaltig  helfen, 
und  das  ist  doch  wahrlich  eine  schöne  und  eine  reizvolle  Aufgabe  mit 
grossen  Zielen  und,  wenn  wir  etwas  erreichen,  auch  mit  den  wichtigsten 

15* 


228  Hahn: 

Erfolgen  für  unser  ganzes  Volk.  Denn  was  ist  das  Volk,  wenn  nicht  eine 
organische,  durch  die  stärksten  Bande  geschichtlicher  Entwicklung  zu- 
sammengeschweisste  und  in  sich  verbundene  Masse,  das  Ergebnis  einer 
unendlich  langen  geschichtlichen  Entwicklung!  Zugleich  ist  das  Volk  ja 
aber  auch  eine  Masse,  d.  h.,  dass  sie  mit  allen  ihren  vielen  Fehlern  und 
wenigen  Vorzügen  den  Gegenstand  einer  neuen,  in  der  Zukunft  wahr- 
scheinlich  sehr  wichtigen  Wissenschaft  bildet,  der  Soziologie,  die  den 
Einfluss  und  die  Einwirkungsmöglichkeit  des  Einzelnen  auf  die  Masse  und 
die  Rückwirkung  der  Massen  auf  Gefühlsleben,  Gedankentätigkeit  und 
Wirksamkeit  des  Einzelnen  mit  neuen  Gesichtspunkten  und  neuen  Methoden 
untersucht. 

Festhalten  aber  müssen  wir  daneben  als  ein  Ergebnis  der  Anthropo- 
logie, der  Ethnologie  und  der  Vorgeschichte,  dass,  wie  Ratzel  es  immer 
wieder  betonte,  die  Tiefe  der  Menschheit  unendlich  gross  ist;  dass 
über  die  in  Tausenden  von  Generationen  festgelegten  Schwingungen  der 
Menschenseele  uns  nur  der  Gesamtbesitz  aller  Zeiten  und  aller  Kulturen 
ein  gewisses  Verständnis  geben  kann,  also  die  Psychologie,  die  Geschichte 
in  ihrem  weitesten  Umfang,  auch  aus  allen  Aussengebieten  und  aus  allen 
Forschungszweigen,  wie  Kultur-  und  Wirtschaftsgeschichte,  und  vor  allem 
endlich  die  Ethnologie  und  die  Volkskunde. 

So  muss  dafür  gesorgt  werden,  dass  das  uns  bis  dahin  noch  so 
ziemlich  unbekannte  Seelenleben  der  Massen  als  solcher  für  das  öffent- 
liche Leben  der  Zukunft  nicht  mehr  wie  bisher  ein  ganz  unbekannter 
Faktor  bleibt,  den  man  für  politische  und  wirtschaftliche  Berechnungen 
als  Zufall  einstellen  muss,  und  durch  den  alle  zielbewusste  öffentliche 
Tätigkeit  aufs  äusserste  gefährdet  und  in  Frage  gestellt  werden  kann. 

Zunächst  scheint  ja  diese  Aufgabe  ungemein  schwierig,  ja  dem  Laien 
erscheint,  wenn  er  etwas  derart  hört,  die  Lösung  zuerst  völlig  unmöglich. 
Aber  ich  brauche  ja  nur  darauf  hinzuweisen,  dass  das,  was  die  Volkskunde 
auf  einem  kleineren  Gebiet,  freilich  mit  einem  grossen  Grenzgebiet  und 
zahllosen  Ausblicken  leisten  soll,  ihre  Schwester,  die  Ethnologie,  auf  ihrem 
ungeheuren  Gebiet,  unserer  Welt,  bereits  erfüllt  hat  und  sogar  in  einem 
viel  grösseren  Umfang  und  in  viel  kürzerer  Zeit,  als  man  je  vorher  er- 
wartet hätte.  Freilich  geht  es,  wie  mit  der  Volkskunde,  so  auch  mit  der 
Ethnologie,  dass  die  Betätigung  der  Geisteswissenschaft  auf  praktischem 
(iebiet  noch  sehr  zu  wünschen  übrig  lässt.  Wie  es  in  anderen 
Wissenschaften  gegangen  ist,  so  überlassen  wir  hier  viel  zu  viel  der  un- 
leugbar  öfter  vorhandenen  angeborenen  Begabung.  Das  geht  aber  zu 
einer  Zeit  nicht,  wo  alle  Urbetriebe  der  Menschheit  der  wissenschaftlichen  Be- 
handlung und  Erkenntnis  unterworfen  werden.  Jahrtausende  lang  haben  wir 
Brot  geltacken  und  Felle  gegerbt  z.  B.,  ohne  dass  wir  eine  wissenschaftliche 
Erkenntnis  der  schwierigen  Bedingungen  dieser  Verfuhren  hatten.  Das 
geht  nicht  mehr,  jetzt  verlangen  wir  vom  Landwirt,  vom  Bierbrauer,  vom 


Die  Erkenntnis  des  heutigen  Volkslebens  als  Aufgabe  der  Volkskunde.  229 

Forstmann  wissenschaftliche  Kenntnisse.  Wir  werden  auch  von  unseren 
Kolonialbeamten  dr aussen  und  von  unseren  Verwaltungsbeamten  im  eigenen 
Lande  verlangen  müssen,  dass  sie  das  Volk,  mit  dem  sie  zu  tun  haben, 
kennen  sollen,  und  dies  Verlangen  wird  uns  später  als  ganz  selbst- 
verständlich erscheinen.  Unnötig  viel  Missgriffe  in  der  Kolonialgeschichte 
wären  vermieden  und  bei  uns  mancher  nicht  gerade  rühmliche  Ver- 
waltuna'skonflikt,  wenn  das  schon  bekannt  und  beachtet  gewesen  wäre. 
Es  ist  ja  freilich  vergebens,  von  den  früheren  Zeiten  ein  Verständnis  zu 
fordern,  welches  ihnen  doch  noch  nicht  aufgegangen  war.  So  erscheint 
uns  der  Kampf  älterer  Behörden  gegen  die  Spinnstuben  oder  gar  gegen 
den  Tannenbaum  ausserordentlich  abgeschmackt,  aber  der  immer  noch 
nicht  beendete  Kampf  mit  dem  Haberfeld  ist  im  Lichte  der  Volkskunde 
alles  andere  wie  ruhmvoll  für  die  bayerischen  Behörden.  Ist  es  doch 
nur  ein  Kampf  gegen  die  im  Interesse  der  Sitte  —  freilich  wie  die  Leute 
sie  verstehen  —  organisierte  Jungmannschaft  eines  geschlossenen  grossen 
Bezirks. 

Andere  Zeiten  und  andere  Völker  empfinden  gegen  ihre  Vergangenheit 
eine  gewisse  Ehrfurcht;  unsere  Zeit  betrachtet  die  eigene  Vergangenheit 
meist  nur  mit  ironischem  Lächeln,  aber  werden  nicht  spätere  Zeiten 
allen  Grund  haben,  über  uns  zu  lachen,  wenn  sie  erfahren  müssen,  dass 
die  wissenschaftlich  gebildeten  Stände  unserer  Zeit,  die  ihr  Beruf  auf  den 
lebendigen  Zusammenhang,  auf  den  steten  persönlichen  Verkehr,  auf  die 
fortwährende  Beeinflussung  der  Massen  in  dem  einen  oder  anderen  Sinne 
hinwies,  bis  in  unsere  Zeit  in  bezug  auf  die  Kenntnis  ihrer  Aufgabe,  auf 
die  Kunde  von  dem  Volk  ganz  und  gar  der  natürlichen  Begabung  und 
Veranlagung  des  Einzelnen  überlassen  wurde;  dass  von  einem  wissen- 
schaftlichen Rüstzeuge  für  diese,  ihre  schwierigste  Aufgabe  bei  Lehrern, 
Geistlichen,  Richtern,  Verwaltungsbeamten  und  Ärzten  nicht  die  Rede  ist, 
dass  man  sich  einfach  darauf  beschränkt,  dem  Einzelnen  seinen  Weg  und 
den  Dingen  ihren  Lauf  zu  lassen,  wie  der  Zufall  es  fügt? 

Es  ist  kein  Wunder,  dass  gegenüber  dem  reichen  sachlichen  Stoff 
unserer  Wissenschaft  bei  den  Vertretern  der  Volkskunde  und  so  auch  bei 
den  Vereinen  diese  Richtung,  ja,  wenn  ich  so  sagen  kann,  das  Hauptziel 
unserer  Wissenschaft  bis  dahin  nur  wenig  zur  Geltung  gekommen  ist. 
Ich  bin  aber  nicht  der  Meinung,  dass  das  so  bleiben  soll,  ja,  ich  bin  sogar 
der  Ansicht,  dass  das  gar  nicht  so  bleiben  kann,  wenn  nicht  unserem 
Volke  und  unserer  Sache  ausserordentlich  viel  und  grosser  Schaden  ge- 
schehen soll.  Es  ist  aber  wahrlich  schon  Schaden  genug  geschehen.  Im 
Banne  von  Vorstellungen,  die  die  geschichtliche  Auffassung  und  die 
politische  Tätigkeit  und  die  der  Verwaltung  der  letzten  hundertundzwanzig 
Jahre  beherrscht  haben,  und  die  meist  auf  den  genialen  Wirrkopf  Rousseau 
zurückgehen,  haben  sich  alle  Kulturstaaten  Europas  bemüht,  mit  einer 
Knergie,  die  aufrichtig  zu  bewundern  wäre,  wenn  sie  nicht  zu  einem  Teile 


230  Hahn: 

dem  lastenden  Gewicht  des  Schemas  zuzuschreiben  wäre,  der  Bildung  des 
Volkes  zugewendet.  Ich  will  ganz  gewiss  dem  Enthusiasmus,  der  die 
besten  Männer  ihrer  Zeit  für  diese  Sache  begeisterte,  nicht  zu  nahe  treten, 
aber  wir  in  Deutschland  und  in  den  Nachbarländern  beginnen  jetzt  all- 
mählich doch  mit  grösserem  Ernst,  wie  man  das  früher  tat,  auf  die  End- 
resultate zu  achten.  Und  da  müssen  wir  denn  doch  als  Vertreter  unserer 
\\i -senschaft  mit  Trauer  hervorheben,  dass  das  Leben  unseres  Volkes 
unendliche  Einbusse  erlitten  hat.  Märchen  und  Sagen,  Kinderspiel  und 
Kinderlied  werden  durch  die  Tätigkeit  der  Schulen  und  Kindergärten  in 
wenig  Generationen,  wenn  nicht  in  der  ursprünglichen  Fassung  völlig 
vernichtet,  so  doch  fast  bis  zur  Unkenntlichkeit  umgestaltet  und  ab- 
geschliffen sein.  Wie  soll  sich  in  Grossstadt  und  Industriestadt  mit  ihren 
Mietskasernen  volkskundliche  Überlieferung,  ja,  wie  soll  sich  in  der 
Massenanhäufung,  in  der  immer  der  Rücksichtsloseste  am  besten  voran- 
kommt und  deshalb  auf  die  Massen  bestimmend  wirkt,  der  Schatz  an  guter 
Sitte  erhalten,  den  das  Volk  mit  seinem  feinen  Gefühl  für  Pflicht  und 
Recht  in  Jahrhunderten  in  allen  seinen  Schichten,  in  den  höchsten  wie 
in  den  niedersten,  so  gut  ausgearbeitet  und  in  Schloss  und  Stadthaus, 
wie  in  Bauernhaus  und  in  der  Tagelöhnerhütte  aufgespeichert  hatte? 

Ich  will  hier  nicht  eine  lange  Liste  aufzählen  von  den  Verfehlungen 
in  dieser  Richtung,  wie  bei  der  Separation  der  Gemeindeflur  im  Interesse 
rohesten  Nutzens  oder  vielmehr  der  Steuerfähigkeit,  dem  Gemeindewesen, 
der  Jugend  und  den  Armen  des  Dorfs,  der  Naturschönheit,  dem  Tier-  und 
Pflanzenbestande,  der  doch  auch  seinen  hohen  geschichtlichen  Wert  hat, 
und  anderem  geschadet  worden  ist;  ich  will  vielmehr  als  Beispiel  für  die 
Wichtigkeit  unserer  Wissenschaft  einen  Notstand,  der  mit  der  Einführung 
der  Schulpflicht  direkt  und  indirekt  zusammenhängt,  erörtern,  bei  dem 
sich  aber  zugleich,  dem  Charakter  unserer  Wissenschaft  entsprechend. 
Ethnologie  und  Volkskunde  schwesterlich  die  Hand  reichen. 

Naturgemäss  mussten  für  die  Bildung,  wie  sie  die  allgemeine  Schul- 
pflicht mit  sich  brachte,  auch  bis  dahin  unerhörte  Lasten  aufgebracht 
werden.  Um  diese  möglichst  gering  zu  halten,  glaubte  man,  das  all- 
gemeine Ziel  für  das  Volk:  Lesen,  Schreiben  und  einige  Grundbegriffe, 
sei  in  acht  Jahren  zu  erreichen.  Es  wurden  also  Knaben  und  Mädchen 
mit  etwa  14,  höchstens  15  Jahren  aus  der  Schule  entlassen.  So  waren 
die  Knaben,  mit  Ausnahme  der  geringen  Minorität,  die  für  die  sogenannte 
höhere  Bildimg  bestimmt  war,  von  da  an  bis  zum  Eintritt  ins  Heer,  zu 
dem  sie  die  allgemeine  Wehrpflicht  zwang,  also  im  allergefährlichsten  Alter 
ohne  jede  staatlich  oder  öffentlich  organisierte  Aufsicht  in  bezog  auf  ihre 
geistige  und  körperliche  Ausbildung.  Das  war  aber  doch  auch  zugleich 
die  lVriode,  in  der  das  Haus,  vielfach  noch  auf  Grund  alter  Sitte,  die 
Knaben,  um  nur  bei  denen  zu  bleiben,  ganz  frei  gab  oder  sie  doch 
wenigstens  wesentlich  freier  stellte. 


Die  Erkenntnis  des  heutigen  Volkslebens  als  Aufgabe  der  Volkskunde.  231 

Von  Amts  wegen  kümmerte  sich  also  vom  Schulaustritt  bis  zum 
Militär  absolut  niemand  mehr  um  die  Knaben.  Allmählich  konnten  aber 
jedem,  der  von  Amts  und  Rechts  wegen  mit  der  Beobachtung  dieser 
Verhältnisse  zu  tun  hatte,  das  um  sich  greifende  Verderben  unserer 
männlichen  Jugend  nicht  mehr  verborgen  bleiben. 

Da  musste  denn  den  Verständigen  auch  die  Einsicht  kommen,  dass 
unser  Volk  früher  diese  Verhältnisse  in  ihrer  Wichtigkeit  erkannt  und 
sie  auch  in  einer  damals  seinen  Bedürfnissen  wohl  entsprechenden  Weise 
recht  gut  geordnet  hatte. 

Wenn  der  deutsche  Junge  aus  dem  Knabenalter  trat  —  etwa  mit  15 
oder  IG  Jahren  — ,  so  fand  er  auf  dem  Lande  bei  der  Jungmannschaft, 
um  einen  liele^entlich  gebrauchten  Ausdruck  Süddeutschlands  und  der 
Schweiz  hier  allgemeiner  anzuwenden,  in  der  Stadt  als  Lehrling  feste 
Verhältnisse  vor,  die  bis  in  das  späte  Mittelalter  hinein,  und  stellenweise 
darüber  hinaus,  ihm  seinen  festen  Platz  mit  genauer  Bestimmung  von 
Pflicht  und  Recht  sicherten.  Diese  wichtigen  Verhältnisse  hat  unsere 
Zeit  vollkommen  übersehen. 

Vor  wenigen  Jahren  erst,  1902,  hat  dann  Heinrich  Schurtz  in  einer 
kurzen,  aber  in  ihrer  Wichtigkeit  keineswegs  gewürdigten  und  aus- 
geschöpften Studie  über  Altersklassen  und  Männerbünde  diese  wichtigen 
und  merkwürdigen  Verhältnisse  auf  ethnologischem  Gebiet  in  ihrem 
grossen  Zusammenhang  nicht  nur  aufgedeckt,  sondern  man  kann  wohl 
sagen,  für  uns  entdeckt.  Er  hat  auch  auf  den  grossen,  so  ungeheuer 
wichtigen,  hier  tiefeinschneidenden  Unterschied  zwischen  Mann  und  Frau 
aufmerksam  gemacht,  einstweilen,  für  die  breite  Öffentlichkeit  wenigstens, 
ohne  jeden  Erfolg. 

Mann  und  Frau  unterscheiden  sich  nämlich  in  ihrem  sozialen  Ver- 
hältnis durchaus  und  ganz  und  gar,  und  alle  Ausnahmen  können  an  der 
Wichtigkeit  dieses  Grundergebnisses  nichts  ändern. 

Mädchen  haben,  dafür  ist  ja  die  Puppe  charakteristisch,  das  Bedürfnis, 
sieb  mit  kleineren  Wesen  ihrer  Art  zu  beschäftigen  und  sie  zu  pflegen. 
Deerns  sind  lütte  Möderkens,  sagte  das  plattdeutsche  Volk  ganz  richtig. 
Knaben  haben,  so  wie  sie  einigermassen  selbständig  sind,  das  Bedürfnis, 
sich  zusammenzuschliessen  und  sich  in  Altersklassen  abzugliedern. 
Die  Kleinen,  das  ist  der  bei  den  Knaben  sich  unendlich  wiederholende 
Vorgang,  müssen  schon  deshalb  zusammenbleiben,  weil  die  Alteren  sie  bei 
ihrem  Zusammenschluss  herausdrängen,  wenn  sie  sie  nicht  gerade  irgend- 
wie als  untergeordnete  Hilfsmittel  bei  ihren  Spielen  benutzen  wollen. 

Deshalb  hat  Schurtz  sein  schönes  Werk  auch  die  Altersklassen  und 
Männerbünde  getauft.  Dies  Bedürfnis  ist  so  naturgemäss,  dass  es  sich 
über  die  ganze  Erde  und  durch  alle  Zeiträume  verfolgen  lässt,  und  es 
steht  natürlich  in  engster  Verbindung  mit  der  ebenso  natürlichen  Organi- 
sation der  Männer  als  Verband  der  Krieger.     Wir    sehen   ja    daher  auch, 


232  Hahn: 

dass  die  Vertreter  jeuer  Bestrebungen,  die  Frauen  und  Männer  mit 
gleichen  Rechten  ausstatten  wollen  —  Bestrebungen,  die  von  der  Anthro- 
pologie und  der  Ethnologie  nicht  gerade  viel  Förderung  und  Begründung 
zu  erwarten  haben  — ,  die  völlige  und  dauernde  Abschaffung  des  Kriegs 
und  den  ewigen  Frieden  als  ein  Ideal  der  Menschheit  proklamieren 
müssen,  um  nicht  sofort  über  die  Einführung  der  Wehrpflicht,  auch  für 
die  Frauen,  zu  stolpern. 

Die  Lücke,  von  der  ich  oben  sprach,  die  zwischen  der  Schule  und 
dem  Eintritt  ins  Heer  klafft,  war  unter  diesen  Umständen  für  die  breiten 
Schichten  des  Volks  ungeheuer  fühlbar,  doch  die  Versuche,  so  gut  gemeint 
sie  waren,  Fortbildungsunterricht  und  dergleichen  einzuschieben,  scheiterten 
fast  überall  mehr  oder  weniger. 

Nur  dort,  wo  geborene  Pädagogen  und  Volkskundler  die  Sache  auf 
eigene  Hand  durchführen  konnten,  stellten  sich  schöne  Erfolge  ein,  die 
aber  meist  an  eine  führende  Persönlichkeit  geknüpft  waren  und  daher 
nur  zu  oft  mit  dieser  untergingen,  leider  auch  oft  genug  im  Schema  er- 
stickten. 

Denn  die  aus  der  eigentlichen  Schule  entlassenen  Knaben  hatten  das 
natürliche  Gefühl,  dass  sie  nun  erwachsen  genug  seien,  um  ihre  eigenen 
Wege  zu  gehen,  und  wenn  sie  nicht  sehr  geschickt  geleitet  wurden,  so 
dass  sie  das  Gefühl  behalten  konnten,  selbständig  zu  sein,  so  leisteten  sie 
allen  Erziehungsversuchen  stets  weitgehenden  passiven,  oft  genug  freilich 
auch  erfolgreichen  aktiven  Widerstand. 

Nun  ist  es  aber  eine  eigentümliche  Erscheinung,  dass  —  in  einem  gewissen 
Gegensatz  zu  ihrem  Gedanken-  und  Gefühlsleben  die  heranwachsenden 
Knaben  in  ihrer  gewohnheitsgemässen  Betätigung  ausserordentlich  stark 
an  die  Tradition  gebunden  sind.  In  Sitte  und  Unsitte  machen  die 
Heranwachsenden  nach,  was  die  Herauswachsenden  einst  ihnen  vorgemacht 
haben,  während  sie  im  Gefühlsleben  zugleich  doch  einem  vorwärtsstürmen- 
den, oft  allzuweitgehenden  Idealismus  anhängen.  Das  deutsche  Studenten- 
tum  ist  dafür  ja  ein  deutlicher  Beweis,  wie  mächtig  diese  Gefühle  eine 
Generation  nach  der  anderen  beherrschen. 

Wenn  wir  nun,  wie  wir  dies  ja  tun  müssen,  die  Knaben  in  Stadt  und 
Land  im  Interesse  ihrer  körperlichen  Entwicklung  zum  Turnen  und  zu 
Turnspielen  organisieren  wollen,  so  werden  wir  ausserordentlich  viel  guten 
Willen  und  vielleicht  grosse  Mittel  aussichtslos  verschwenden,  so  lange 
wir  nicht  die  Ethnologie  und  die  Volkskunde  zur  Lösung  dieser  Aufgabe 
mit  heranziehen. 

Dass  aber  solche  Turnspiele  und  andere  Gelegenheiten  zur  körper- 
lichen und  ja  auch  zur  geistigen  Ausbildung  für  unsere  Knaben  zwischen 
der  Schule  und  dem  Heer  nicht  nur  wünschenswert,  sondern  durchaus 
notwendig  sind,  das  ist  eine  Erkenntnis,  die  sich  in  den  beteiligten 
Kreisen    immer    grössere  Geltung    verschafft.     Dass  es  früher  dergleichen 


Die  Erkenntnis  des  heutigen  Volkslebens  als  Aufgabe  der  Volkskunde.  233 

gegeben  hat,  war  vielleicht  manchem  fremd.  Jetzt,  wo  Kück  und  Sohn- 
rey  ihre  Sammlung  darüber  veröffentlicht  haben,  darf  man  daran  nicht 
festhalten.  Die  Volkskunde  aber  hat  die  grosse  und  wichtige  Aufgabe, 
die  Erinnerungen  der  alten  Volksgenossen,  die  jetzt  in  den  sechziger 
und  siebziger  Jahren  stehen,  in  Stadt  und  Land  auszuspüren,  mögen  sie 
nun  im  Altenteil  sitzen  oder  im  Spital,  um  so  in  dieser  zwölften  Stunde 
zu  sammeln,  was  noch  zu  sammeln  ist,  und  die  Kegeln  der  einstmals 
bodenständigen  Spiele  wieder  in  die  Praxis  einzuführen,  damit  wir  nicht 
länger  unter  dem  Unsinn  zu  leiden  haben,  dass  die  Kinder  unseres  deutschen 
Mittelstandes  Football,  Crioket  oder  Hockey  and  Golf  spielen  müssen. 
Wenn  auch  alle  diese  Spiele  germanisch  sind,  so  sind  sie  doch  von  aussen 
bei  uns  eingeführt;  wir  aber  haben  eigen  gewachsene  Spiele  genug  für 
unsere  Bedürfnisse. 

Organisiert  man  nun  unsere  männliche  Jugend  durch  sich  selbst  und 
aus  sich  selbst  heraus,  so  gewinnen  wir  damit  sicher  ein  Machtmittel, 
dass  den  rücksichtslosen  Individualismus,  dem  die  politische  und  wirt- 
schaftliche Entwicklung  einen  viel  zu  grossen  Einfluss  auf  die  Massen 
gewährt  hat,  kräftig  wieder  eindämmen  kann. 

Die  Masse,  das  haben  wir  gerade  wieder  erfahren  müssen,  lässt  sich 
nicht  durch  Polizeiverordnungen  binden,  viel  weniger  folgt  sie  den  Be- 
weggründen der  sogenannten  Vernunft.  Bindend  für  die  Masse  sind  nur 
die  Sitten  und  die  Sitte.  Da  kann  nun  unsere  Wissenschaft  mit  vollen 
Kräften  eingreifen,  das  Feld  ist  leider  nur  zu  gross,  zuviel  ist  zerstört 
und  nur  wenige  sind  der  Helfer.  Lassen  Sie  uns  aber  alle  zu  unserem 
Teil  dahin  arbeiten,  dass  das  nicht  mehr  so  sei,  dass  die  Volkskunde 
der  alten  guten  Sitte  wieder  zu  ihrem  Rechte  verhelfe.  Denn  es 
ist  eine  ganz  falsche  Auffassung  und  ein  Fehler  in  unserer  allzuweit- 
gehenden Überbildung  einer  wesentlich  auf  das  Einzelwesen  gerichteten 
philosophischen  Strömung,  wenn  die  Masse  in  jedem  Einzelfalle  eine  Ent- 
scheidung darüber  treffen  soll:  Sollen  wir  dies  tun,  sollen  wir  jenes  lassen? 

Viel  einfacher  ist  es,  wenn  wir  nach  dem  Beispiele  unserer  Vorväter 
die  Massen  in  all  den  Tausenden  Einzelfällen,  wie  sie  an  jeden  einzelnen 
in  der  Masse  so  oft  herantreten,  vor  einer  eigenen  Entscheidung  behüten 
und  sie  vielmehr  einfach,  aber  entschieden  durch  die  Überlieferung  au 
die  Sitten  und  sie  dadurch  auch  wieder  an  die  gute  Sitte  binden. 

Berlin. 


234  Wehrhan: 


Das  Hickelspiel  iii  Frankfurt  a.  M. 

Von  Karl  Weluiian. 


Das  Spiel  der  Kinder,  von  dem  hier  die  Rede  sein  soll,  ist  fast 
überall  in  deutschen  Gauen  bekannt  und  beliebt,  wenn  es  auch  die  ver- 
schiedensten Namen  aufzuweisen  hat;  man  nennt  es  (nach  Franz  Magnus 
Böhme.  Kinderlied  und  Kinderspiel,  Leipzig  1897  S.  599)  Paradiesspiel, 
auch  Paradies-  und  Himmelhuppen  oder  Tempelhuppen  in  Öster- 
reich, hier  und  da  auch  Wochenhüpfen,  in  Schleiz  heisst's  Hicke,  in 
Südwestdeutschland  Hüpfeldrei1).  Diese  Namen  erklären  sich  aus  dem 
Spiel;  einmal  wird  dabei  gehüpft  oder  gehuppt,  dann  heisst  ein  Teil  der 
in  den  losen  Sand  gezeichneten  Figur  der  Himmel,  der  Tempel  oder  das 
Paradies,  und  endlich  werden  in  einigen  Gegenden  statt  der  Zahlen  die 
Namen  der  Wochentage  in  die  Felder  der  Figur  eingetragen,  was  den 
Namen  Wochenhüpfen  hat  bilden  lassen. 

In  Frankfurt  a.  M.  heisst  das  Spiel  'Hickelspiel',  d.  h.  Hüpfspiel 
(hickeln  =  hüpfen  im  Frankfurter  Dialekt),  so  dass  der  Name  mit  jenen 
Bezeichnungen  auf  einer  Stufe  steht;  es  wird  jedoch  auch  Hickelkreis 
genannt,  wahrscheinlich,  weil  eine  Abart  der  Spielfigur  Ähnlichkeit  mit 
einein  Kreis  hat.  Im  übrigen  finden  die  Kinder  durchaus  keinen  Anstoss 
daran,  jede  der  zu  dem  Spiel  benötigten  Figuren  mit  dem  Ausdruck 
'Kreis'  zu  bezeichnen,  mögen  sie  nun  in  Wirklichkeit  quadratisch,  recht- 
eckig, kreuz-  oder  N-förmig  sein. 

Die  verschiedenen  Spielarten  oder  Spielformen  des  Hickelspiels  in 
Prankfurt  a.  31.  haben  wieder  verschiedene  Namen  erhalten:  Deutscher 
Kreis,  französischer  Kreis,  langer  Kreis,  Enncheskreis  usw.  Es  wird  bei 
der  Beschreibung  der  einzelnen  Spiele    noch  darauf  eingegangen  werden. 

Das  Spiel  wird  im  Anschluss  an  eine  Figur  ausgeführt,  die  mit  dem 
Absatz  des  Schuhes  in  den  weichen  Sand  der  weiten  Anlagen  oder  in  den 
Kies  der  Schulhöfe  gezogen  wird.  Figuren  wie  Spielausführung  sind  sehr 
verschieden,  unterscheiden  sich  selbst  in  den  einzelnen  Stadtteilen,  ja,  ein 
kleiner  Bub,  den  ich  deswegen  befragte,  erklärte  mir,  das  Spiel  würde  selbst 
in  jeder  Strasse  anders  gespielt.  In  der  Tat  habe  ich  eine  so  grosse 
Mannigfaltigkeit  in  ein  und  demselben  Spiel  selten  gefunden.  Die  ein- 
t'aeliste  Figur  ist  die  auf  Seite  235  abgebildete.  Sie  besteht  aus  einem  iu 
acht  Felder  geteilten  Rechteck  (Kreis);  die  Zahlen  fehlen  häufig. 


1)  [Hans  Meyer,  Der  richtige  Berliuer  1904  S.  15  'Schafskopf .  Schumann,  Lübecker 
Spielbuch  1905  S.  %  mit  Anm.  Höhr,  Siebenbürgische  Kinderspiele  1903  S.  73.  De  Cock- 
Teirlinck,  Kinderspel  in  Zuid-Nederland  1,  309.  Kristensen,  Danske  Börnerim  1896  p.  511. 
Pitre,  Giuochi  t'anciulleschi  siciliani  p.  141. j 


Das  Hickelspiel  in  Frankfurt  a.  M.  235 

Zu  dem  Spiel  gebraucht  man  ferner  einen  platten,  glatten  Stein,  den 
sich  jeder  Mitspieler  nach  Belieben  aussuchen  kann.  Die  Spielausführung 
ist  in  einfachster  Form  nun  folgende:  Der  erste  Spieler  wirft  seinen  Stein 
in  irgend  ein  kleines  Rechteck  und  hüpft  dann,  bei  1  anfangend,  dein 
Steine  nach,  um  ihn  zu  holen;  beim  Steine  angelangt,  darf  er  sich  bücken 
und  kann  nun  ohne  zu  hüpfen,  nach  8  hin  den  "Kreis'  verlassen.  Das 
muss  er  sechsmal  wiederholen,  aber  möglichst  das  Feld,  in  das  er  den 
Stein  wirft,  wechseln,  doch  ist  es  kein  zwingendes  Erfordernis.  Gelingt 
ihm  das  Werfen  und  nachfolgende  Hüpfen  sechsmal,  ohne  mit  dem  Steine 
einen  Strich  (der  Schüler  sagt:  einen  Kreis)  zu  treffen  oder  mit  seinem 
Fusse  den  Strich  zu  berühren,  so  darf  er  in  irgend  ein  Feld  der  Figur 
seinen  Xamen  schreiben.  Auf  diesem  Felde  darf  er  sich  nun  bei  jeder 
Wiederholung  des  Spiels  ausruhen,  d.  h.  mit  beiden  Füssen  zugleich  den 
Boden  berühren,  während  es  allen  andern  Mitspielern  untersagt  ist,  dies 
Feld  zu  betreten.  Gewinnt  er  wieder,  so  darf  er  sich  noch  ein  anderes 
Feld  als  Ruhehäuschen  aussuchen  usw.  Wenn 
er  seinen  Xamen  hiueinschreibt,  so  tut  er  das 
meistens  mit  einem  einfachen  N,  oder  er  macht 
ein  Kreuz  in  das  betreffende  Feld.  Sobald  ein 
Spieler  gegen  die  Spielregel  verstösst,  kommt  ein 
anderer  dran.  Die  Bezeichnung  oder  Zählung 
der  Felder  wechselt  insofern,  als  man  auch 
wohl  bei  den  linksseitigen  vier  Feldern  zuerst 
zu  zählen  anfängt,  so  dass  also  Nr.  8  zu  Nr.  1 
wird.     Doch  ist  diese  Zählung  seltener.  lg" 

Wichtiger  sind  verschiedene  Spielabweichungen,  von  denen  die  haupt- 
sächlichsten hier  noch  anoeoeben  werden  sollen.  Der  Stein  muss  ins  erste 
Feld  geworfen  und  hüpfend  wieder  geholt  werden,  dann  ins  zweite  Feld  usw.; 
der  Spieler  kehrt  jeweils  auf  denselben  Feldern  zurück,  auf  denen  er 
hingehüpft  ist,  bis  alle  acht  Felder  durch  sind.  Dann  muss  der  Spieler 
durch  alle  acht  Felder  blind  gehen,  d.  h.  er  muss  die  Augen  schliessen 
und  den  Kopf  hintüber  halten,  dass  er  die  Striche  nicht  sehen  kann;  auch 
hierbei  darf  er  nicht  auf  den  'Kreis'  treten.  Nun  wird  der  Stein  auf  einen 
Fuss  gelegt  und  mit  offenen  Augen  durch  die  einzelnen  Felder  getragen; 
in  diesem  Falle  wird,  ebenso  wie  beim  Blindgehen,  nicht  gehi ekelt, 
sondern  einfach  gegangen.  Dann  wird  der  Stein  vom  Fusse  aus  dreimal 
in  die  Höhe  geworfen  und  mit  der  Hand  wieder  gefangen.  Endlich  muss 
der  Spieler  dreimal  durch  alle  acht  Felder  laufen,  ohne  einzuhalten.  Jetzt 
erst  ist  der  Spieler  aus  und  kann  sich,  wie  schon  oben  bemerkt,  ein  Ruhe- 
häuschen  wählen. 

Eine  andere  Spielart  kennt  folgende  Abweichungen:  Der  Stein  wird 
erst  ins  erste,  dann  ins  zweite  usw.  Feld  geworfen,  dann  jedesmal  hüpfend 
abgeholt,    nur    darf    der  Spieler    nicht  wieder  zurück,    wie  eben  erwähnt, 


5 

4 

6 

3 

7 

•) 

8 

1 

236  Wehrhan: 

sondern  er  muss  weiter  hüpfen,  alle  acht  Felder  durch,  also  achtmal  hinter- 
einander. Ferner  wird  vor  dem  Durchgehen  (mit  dem  Stein  auf  dem 
Fusse)  der  Stein  durch  alle  acht  Felder  hindurchgeschickt,  d.  h.  er  wird 
vor  das  erste  Feld  ausserhalb  der  Figur  auf  den  Boden  gelegt  und  mit 
dem  Fusse  weiter  gestossen,  ohne  dass  er  auf  den  'Kreis'  kommen  darf. 
Eine  Verschärfung  dieses  Spiels  besteht  noch  darin,  dass  der  Stein  bei 
jedem  Felde  nur  einmal  angestossen  werden  darf;  wer  ihn  beim  erst- 
maligen Anstossen  nicht  auf  das  folgende  Feld  hinüberschnickt,  ist  ab, 
und  der  folgende  kommt  dran. 

Wer  bei  allen  diesen  und  auch  den  folgenden  Spielarten  gegen  eine 
einzige  Spielregel  verstösst,  wer  also  z.  B.  auf  einen  Strich  tritt,  oder 
einmal  einen  mit  dem  Fusse  in  die  Höhe  geworfenen  Stein  nicht  fängt,  muss 
wieder  ganz  von  vorn  anfangen,  was  streng  gehandhabt  wird. 

Wenn  die  Figur  nicht  aus  acht,  sondern  aus  mehr  Feldern  besteht. 
meistens  aus  zehn  oder  zwölf  Feldern,  nennt  mau  das  Spiel  'langer 
Kreis',  während  die  einfachere  Form  unter  dem  gewöhnlichen  Namen 
Hickelkreis,  Kreis,  hier  und  da  auch  wohl  'kurzer  Kreis"  bekannt  ist. 
Beim  'langen  Kreise'  kommen  im  allgemeinen  dieselben  Spielregeln  in 
Anwendung,  wie  sie  oben  angegeben  sind,  nur  einige  Abweichungen 
mögen  hier  Platz  finden:  Während  man  den  Stein  aus  dem  ersten  und 
dann  aus  dem  zweiten  Häuschen  wieder  holt,  also  nicht  alle  Felder  durch- 
hickelt,  muss  man  von  dem  dritten  Felde  ab  nach  dem  Aufheben  des 
Steines  jeweilig  weiterhickeln,  alle  Häuschen  durch;  ferner  muss  der 
Spieler  dreimal  durch  alle  Felder  durchhickelu,  nicht,  wie  oben  erwähnt, 
nur  durchlaufen. 

Der  sogenannte  'französische  Kreis'  unterscheidet  sich  nur  in  der 
Figur,  sonst  aber  nicht  wesentlich  von  den  bisher  genannten  Spielweisen; 
es  liegt  ihm  nachstehende  Zeichnung  (Fig.  2)  zugrunde. 

Hier  ist  der  'Kreis'  also  auch  in  acht  Felder  abgeteilt,  nur  haben 
diese  infolge  der  diagonalen  Linien  dreieckige  Form,  wodurch  das  Spiel 
etwas  schwerer  gestaltet  wird.  Der  Mittelraum  ist,  wie  bei  dem  noch  zu 
besprechenden  eigentlichen  'deutschen  Kreis",  ein  für  Stein  wie  Spieler  ver- 
botener Raum,  es  darf  also  kein  Stein  hineintreworfen  oder  hineingeschnickt 
werden,  auch  darf  der  Spieler  nicht  hineintreten.  Die  Ausführung  des  Spieles 
unterscheidet  sich  aber  weiter  nicht  von  den  schon  mitgeteilten  Spielweisen. 
Der  Name  'französischer  Kreis'  setzt  das  Spiel  in  bevvussten  Gegensatz 
zu  dem  folgenden  eigentlichen  'deutschen  Kreise".  Woher  diese  Namen 
zu  erklären  sind,  vermag  ich  augenblicklich  nicht  anzugeben. 

Der  'Kreis',  wie  er  mit  Ausnahme  des  letztgenannten  bisher  be- 
schrieben ist,  wird  auch  wohl  als  'deutscher  Kreis1  bezeichnet, 
doch  kommt  diese  Bezeichnung  vor  allem  folgender  Abart  in  Frank- 
furt a.  M.  zu,  deren  Figur  aus  nachstehender  Zeichnung  (Fig.  •>)  zu  er- 
sehen ist. 


Das  Hickelspiel  in  Frankfurt  a.  M. 


237 


Das  Charakteristische  an  dieser  Figur  ist  der  sich  oben  ansetzende 
Raum  a,  das  Paradies  genannt,  aus  dessen  Bezeichnung  sich  die  eingangs 
angeführten  Namen  Paradiesspiel  usw.  ergeben.  Das  Paradies  stellt  den 
Kaum  dar,  in  dem  sich  die  Spieler  aufhalten  dürfen,  die  mit  dem  Spiel 
durchgekommen  sind;  von  dort  aus  können  sie  sehr  bequem  das  Spiel 
ihrer  Mitspieler  überwachen  und  leicht  erkennen,  wenn  sich  jemand  gegen 
die  Spielregel  vergangen  hat.  Der  in  der  Längsmitte  angegebene  Freiraum 
ist  ein  unwesentliches  Stück  der  Figur  und  kann  fehlen,  er  stellt  allerdings 
(wie  beim  französischen  Kreise)  für  das  Spiel  eine  Verschärfung  dar,  denn 
auch  in  ihn  darf  der  Stein  nicht  fallen,  und  der  Spieler  muss  ihn  wie 
jeden  Strich  meiden.    Es  brauchen  nicht  gerade  zehn  Felder  zu  sein,  aus 


\  5 

6      \ 

v 

/      3 

7         / 
/      8 

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~^\   ^ 

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1  3 

9 

2 

10 

1 

Fig.  2. 


Fit 


Fig.  4. 


denen  die  eigentliche  Spielfigur  besteht,  es  genügen  auch  acht  Felder, 
wie  andererseits  auch  selbst  zwölf  derselben  zu  finden  sind;  in  dieser  Be- 
ziehung stellt  also  der  'deutsche  Kreis'  eine  Abart  des  kurzen  und  langen 
Kreises  dar.  Die  Ausführung  des  Spieles  ist  beim  deutschen  Kreis  und 
dem  Paradiesspiele  die  schon  oben  beschriebene;  jeder  Mitspieler  ist  hier 
bestrebt,  wie  er  sich  ausdrückt,  'in  das  Paradies  zu  kommen.' 

Eine  eigenartige  Variation  des  Hickelspiels  wird  in  der  vorstehenden 
Zeichnung  (Fig.  4)  zum  Ausdruck  gebracht. 

Hier  ist  das  Paradies  in  die  Mitte  der  Spielfigur  gelegt,  jedenfalls 
für  die  konkurrierenden  Mitspieler  ein  zur  Beobachtung  sehr  geeigneter 
Aufenthalt.  Das  Paradies  hat  hier  wenigstens  annähernd  (dem  Kinde 
kommt  es  ja  nicht  genau  darauf  an)  die  Gestalt  eines  Kreises.  Der  Kreis 
hat  in  gewissen  Fällen  auch  noch  eine  andere  Bedeutung.  Zuweilen 
verlangt  die  Spielregel  nämlich,  —  wie  schon  oben  hervorgehoben,  weichen 
die  Spielregeln  selbst  in  den  einzelnen  Strassen    voneinander  ab    —    dass 


238 


Wehrhan : 


die  Spieler,  die  noch  nicht  aus  sind,  also  das  Anrecht  auf  ein  Ruhe- 
häuschen noch  nicht  erworben  haben,  diesen  Kreis  in  der  Mitte  über- 
springen müssen.  Dann  schreibt  derjenige,  der  alle  Bedingungen  erfüllt 
hat,  seinen  Namen  in  den  Kreis  ein,  der  in  diesem  Falle  also  als  Ruhe- 
häuschen dient.  Um  das  Überspringen  zu  ermöglichen,  hüpft  man  dann 
nicht  in  der  durch  die  Ziffern  angegebenen  Reihenfolge  durch  die  Felder, 
sondern  von  einem  Felde  der  einen  Seite  nach  dem  schräg;  gegenüber- 
liegenden  Felde  der  anderen  Seite,  also  in  der  Reihenfolge  der  Felder  1, 
9,  3,  7,  5,  6,  4,  8,  2,  10.  Man  sieht,  die  kleinen  im  Spiel  ausserordentlich 
ausdauernden  Künstler  machen  es  sich  nicht  immer  leicht,  Lorbeeren  zu 
erringen. 

Eine  andere  Form  des  Spiels,  die  an  die  oben  genannte  des  'deutschen 
Kreises'  erinnert,  auch  wohl  dieselbe  Bezeichnung  führt,  wird  durch  Ver- 
breiterung   der  Spielfigur  erzielt.     Man    legt    die  Figur  so  an,    dass  nicht 


5 

6 

4 

7 

3 

8 

2 

9 

1 

10 

:» 

6 

R 

4 

3 

(7) 

2 

(8) 

1 

(9) 

Fig.  5. 


Fig.  6. 


zwei,  sondern  vier  oder  fünf  Felder  nebeneinander  entstehen.  Schon  beim 
deutschen  und  französischen  Kreise  haben  wir  gesehen,  dass  in  der  Mitte 
ein  schmales  Feld  der  Länge  nach  eingefügt  war;  in  diesem  Falle  schiebt 
man  noch  fernere  zwei  oder  drei  Felder  ein.  Die  Zeichnung  (Fig.  5)  fin- 
den letztgenannten  Fall  würde  demnach  wie   oben  abgebilder    aussehen. 

Pur  diese  Figur  gibt  es  zwei  Hauptspielweisen.  Nach  der  einen  darf 
der  Stein  hingeworfen  werden,  wie  es  das  Belieben  des  einzelnen  Spielers 
wünscht,  also  in  ein  Feld  jeder  Längsreihe,  einerlei  ob  links,  rechts  oder 
in  der  .Mitte  usw.  Demgemäss  ist  auch  nicht  bestimmt,  in  welcher  Längs- 
reihe der  Spieler  hüpfen  muss,  dieser  kann  ferner  sein  Ausriihehäuschen 
bezeichnen,  wo  er  will,  nur  darf  ein  ihm  folgender  Spieler  niemals  in  das 
als  Ruhehäuschen  gewählte  Feld  werfen,  muss  es.  wie  in  allen  andern 
schon  genannten  Abweichungen  des  Hickelspiels,  stets  überspringen,  da 
daa  Ausruhen  nur  dem  Besitzer  zusteht.  Bei  dieser  Spielausführung  darf 
der  Spieler  auch  schräg  hüpfen,  ist  also  nicht  gebunden,  eine  Längsreihe 
innezuhalten. 


Das  Hickelspiel  in  Frankfurt  a.  M.  239 

Etwas  anders  ist  die  Ausführung  des  Spieles  für  den  Fall,  für  den 
die  in  der  Zeichnung  angegebenen  Ziffern  massgebend  sind.  Hier  schliesst 
sie  sich  eng  an  die  oben  ausgeführten  Spielweisen  an,  d.  h.  der  Spieler 
wirft  seinen  Stein  in  das  Feld  Nr.  1,  hüpft  hinein,  hebt  den  Stein  auf  und 
durchhüpft  dann  die  erste  Längsseite,  die  obere  Querseite  und  wieder 
zurück  zu  Nr.  10;  jetzt  wird  der  Stein  auf  Nr.  2  geworfen  und  das  Hüpfen 
wiederholt  sich  in  derselben  Reihenfolge  usw.  Auch  das  Blindgeheu,  das 
dreimalige  Durchlaufen,  bzw.  Durchhüpfen,  das  Schnicken  usw.  ist  bei 
dieser  Figur  nicht  unbekannt. 

Eine  bedeutende  Abweichung  von  den  bisherigen  Spielfiguren  zeigt 
uns  die  auf  S.  238  abgebildete  Kreuzform  (Fig.  6.). 

Die  Ausführung  des  Spiels  schliesst  sich  eng  an  die  schon  angegebenen 
Weisen  an.  Der  Stein  wird  auf  Nr.  1  geworfen,  dann  wird  in  der  Reihen- 
folge der  Ziffern  (nachdem  der  Stein  aufgehoben  worden  ist)  durch  alle 
Häuschen  gehickelt,  so  dass  viermal  kreuzweise  gehickelt  wird  und  die 
Häuschen  1  bis  3  doppelt  betreten  werden;  dann 
wird  der  Stein  auf  Nr.  2  geworfen  usw.  Nachdem 
so  der  Stein  auf  allen  mit  Ziffern  bezeichneten 
Feldern  gelegen  hat  und  geholt  worden  ist,  legt 
man  ihn  auf  den  Fuss  und  geht  durch  die  Felder; 
dann  schnickt  man  ihn,  geht  blind  durch  alle 
Häuschen  und  läuft  endlich  dreimal  hindurch, 
wobei  der  Stein  wegbleibt.  Wer  alle  diese  Be- 
dingungen ohne  Unterbrechung  erfüllt  hat,  darf  bei 

jedem  folgenden  Hüpfen  oder  Schnicken  usw.  in  dem  durch  R  bezeichneten 
Felde  ausruhen.  —  Eine  weitere  Form  des  Hickelspiels  lehrt  uns  die  vor- 
stehende Zeichnung  (Fig.  7)  kennen. 

Dieser  'Kreis'  heisst  bei  den  Spielern  'runder  Kreis',  'Schlangen- 
kreis'  oder  'Schneckenkreis',  der  natürlich  durch  Weiterziehung  der 
äusseren  Linie  oder  durch  Weglassung  eines  Teiles  derselben  vergrössert 
oder  verkleinert  werden  kann.  Das  mit  R  bezeichnete  Viereck  in 
der  Mitte  darf  wegbleiben,  die  mit  N  bezeichneten  Vierecke  geben 
wieder  die  schon  aus  früheren  Mitteilungen  bekannten  Ruhehäuschen  an. 
Die  einfachste  Ausführung  des  Spiels  bestellt  darin,  von  dem  äusseren 
Anfange  der  Schnecke  nach  innen  und  wieder  zurück  zu  hüpfen.  Wem 
das  ohne  Unterbrechung  und  ohne  Berührung  eines  Striches  gelingt,  darf 
auf  einer  beliebig  von  ihm  zu  erwählenden  Stelle  der  Figur  ein  Ruhe- 
häuschen errichten,  das  nur  von  ihm  benutzt  werden  darf,  von  jedem 
andern  aber  übersprungen  werden  muss.  Schwierig  gestaltet  sich  die 
Überspringung  in  dem  Falle,  dass  mehrere  Spieler  ihr  Ruhehäuschen 
hintereinander  errichten,  so  dass  der  zu  überspringende  Raum  an  Länge 
beträchtlich  zunimmt;  mag  dieser  Raum  nun  auch  noch  so  gross  sein,  er 
muss  übersprungen  werden,  sonst  ist  für  den  betreffenden  Spieler  jeweils 


240 


Wehrlian: 


das  Spiel  aus  und  ein  anderer  kommt  dran.  In  einigen  Fällen  erlaubt 
die  Spielregel,  in  dem  mit  R  bezeichneten  Felde  in  der  Mitte  auszuruhen. 
Eine  Verschärfung  des  Spieles  besteht  darin,  dass  man,  um  ein  Ausruhe- 
häuschen  zu  erhalten,  nach  dem  Hickeln  den  'Kreis'  blind,  d.  h.  mit  nach 
oben  gerichteten  Antlitz  durchgehen  muss. 

Eine  andere  Ausführung  erfordert  für  die  Schaffung  eines  Ruhe- 
platzes das  dreimalige  erfolgreiche  Durchhickeln  hintereinander. 

Im  allgemeinen  ist  das  Hickeln  im  Schlangenkreise  ohne  Stein  üblich, 
•  loch  ist  auch  der  Stein  dabei  nicht  ganz  vergessen,  wodurch  die  Aus- 
führung; natürlich  wieder  bedeutend  erschwert  wird.  In  diesem  Falle  muss 
der  Stein  in  das  in  der  Mitte  befindliche  Viereck  geschleudert  werden; 
dann  erfolgt  das  Durchhickeln  bis  zum  Steine  hin,  worauf  der  Stein  auf 
den  Fuss  gelegt  und  zurückgetragen  werden  muss.      Er  darf  dabei    nicht 


o 
c 


Fig.  8. 


herunterfallen,  wie  auch  der  Strich  hier  wie  sonst  niemals  berührt 
werden  darf. 

Zu  einer  ganz  neuen  Art  des  Hickelspiels  führen  uns  die  folgenden 
Figuren  und  Spiele,  die  sogenannten  'Ennchesspiele'.  Der  Name  ist 
abgeleitet  von  dem  grossen  Buchstaben  N,  dessen  Linienführung  eine  ent- 
fernte Ähnlichkeit  mit  der  Zeichnung  der  Spielfigur  hat.  Ennches  oder 
N-ches  ist  die  Frankfurter  Diminutivform  von  N.  Vielleicht  hat,  wie 
man  wohl  aus  dem  Namen  schliessen  könnte,  die  ursprüngliche  Figur 
grössere  Ähnlichkeit  mit  dem  Buchstaben  N  gehabt.  Die  Spielfigur 
(Fig.  8)  sieht,  wie  oben  abgebildet,  aus. 

Der  meinetwegen  bei  a  stehende  Spieler  (er  kann  ebensogut  auch 
bei  b  stehen),  wirft  seinen  Stein  nach  irgend  einem  beliebigen  Orte  inner- 
halb der  Figur,  beispielsweise  nach  c,  alsdann  hickelt  er  von  seinem 
Standpunkte  aus  dem  Steine  nach,  hebt  ihn  auf  und  hickelt  weiter  nach  6, 
alter  immer  auf  dem  durch  die  Figur  angebenen  Wege,  ohne  den  Strich 
nur  zu  berühren,  der  auch  von  dem  Steine  nicht  getroffen  werden  darf. 
In  b  angelangt,  nimmt  der  Spieler  seinen  Stein  und  wirft  ihn  direkt  nach  a 
zurück  und  hickelt  ihm  wieder  nach;  jetzt  hat  er  das  Recht  auf  ein 
Häuschen,  dessen   Platz  er  sich  wieder  nach  Belieben  innerhalb  der  Figur 


Das  Hickelspiel  in  Frankfurt  a.  M. 


241 


wählen  darf  und  das  ihm  das  Vorrecht  verleiht,  sich  bei  nachfolgenden 
Spielen  darin  auszuruhen.  Jeder  Spieler  darf  sich  so  viel  Häuschen 
machen,  als  es  ihm  gelingt,  Spiele  ohne  Verstoss  gegen  die  Regel  zu 
vollenden. 

Eine  Verschärfung  des  Spiels  besteht  darin,  den  Stein  nicht  auf- 
zuheben, sondern  weiter  zu  schnicken;  andere  Spielausführungen  ver- 
langen für  das  Schaffen  eines  Häuschens  das  zwei-  oder  mehrmalige 
Hin-  und  Herwerfen  des  Steines  mit  nachfolgendem  Hickeln  oder  Schnicken. 
Immer  muss  das  Hickeln    ohne  Einhalten  geschehen,  nur,   wer  ein  Ruhe- 


d 

• 

c  b 

a 


Fig.  9. 


bauschen  hat,  darf  sich  diesen  'Luxus'  erlauben.  Eine  Weiterführung  der 
Schwierigkeiten  besteht  darin,  den  Stein  auf  dem  Fusse  durchzutragen  usw., 
ähnlich  also  wie  bei  den  oben  angegebenen  Spielen. 

Bedeutender  ist  schon  die  in  obiger  Zeichnung  (Fig.  9)  angeführte 
Spielart. 

Die  Ausführung  zu  dem  in  dieser  Figur  angedeuteten  Spiele  ist 
ziemlich  schwierig  und  zusammengesetzt.  Der  Spieler  wirft  von  a  aus 
seinen  Stein  nach  c,  hickelt  hin  (immer  auf  der  Figur  und  ohne  einen 
Strich  zu  berühren)  und  holt  den  Stein  nach  a  zurück.  Dann  wirft  er 
ihn  von  dem  gleichen  Standpunkte  aus  nach  d  und  hickelt  nach  d. 
(Dieses  Hickeln  wird  von  einigen  nicht  gefordert,  man  begnügt  sich  hier 
und  da  mit  dem  blossen  Gehen  von  a  nach  d).     Von  d  aus  wird  der  Stein 

Zeitschr.  d.  Vereins  f.  Volkskunde.   1911.   Heft  3.  IG 


'24-2 


Wehrhan:  Das  Hickelspiel  in  Frankfurt  a.  M. 


nach  b  geworfen,  auf  der  Figur  wird  naehgehickelt,  der  Stein  aufgehoben 
und  dann  weiter  nach  a  gehickelt. 

Endlich  muss  der  Spieler  blind  von  a  nach  c  (oder  auch  nach  d) 
und  wieder  zurück  nach  a  hickeln.  Dabei  darf  niemals  ein  Strich  berührt 
oder  neben  die  Figur  getreten  werden,  sonst  ist  das  Spiel  für  ihn  aus, 
bis  er  wieder  an  die  Reihe  kommt.  Verschärft  wird  das  Spiel  durch  die 
Bestimmung,  dass  mit  dem  aufgehobenen  Steine  nicht  gehickelt,  sondern 
nur  geschnickt  werden  darf,  was  bei  der  grossen  Anzahl  von  Strichen  nicht 
leicht  ist.  Übrigens  ist  die  in  der  vorstehenden  Figur  gegebene  Anzahl 
der  Felder  nicht  gerade  immer  massgebend,  die  Kinder  statten  ihre 
Enncheskreise  oft  noch  reichlicher  aus,  bleiben  auch  manchmal  hinter  der 
angegebenen  Zahl  der  Felder  zurück.  Wer  die  Bedingungen  erfüllt,  darf 
sich  wieder  ein  Ruhehäuschen  errichten,  wo  er  will.  Das  ist,  wie  immer, 
der  einzige  und  bescheidene  Lohn  oder  Lorbeer  für  den  eifrigen  Mitspieler. 


Fig.  10. 


Ein  zusammengesetztes  Ennchesspiel  ist  das  aus  der  obigen  Fig.  10 
ersichtliche  "W i n d raü hlsp i el. 

Der  Spieler  hickelt,  bei  a  anfangend  nach  b,  von  da  nach  c  und  dann 
nach  d  und  über  a  nach  dem  mittleren  Kreise.  Wer  das  fertiggebracht 
hat,  darf  sich  ein  Ruhehäuschen  macheu.  Der  Kreis  in  der  Mitte  muss 
überhickelt  werden.  Das  Spiel  kann  mit  und  ohne  Stein  ausgeführt 
werden,  wodurch  die  Schwierigkeiten  natürlich  wechseln.  Der  Stein  kann 
dann  entweder  in  den  Kreis  auf  dem  Kreuzungspunkte  oder  der  Reihe 
aach  auf  die  verschiedenen  Felder  geworfen  werden,  so  dass  sich  die 
weitgehendsten  Kombinationen  ergeben.  Auch  hier  werden  Ruhehäuschen 
errichtet. — 

Das  hier  behandelte  Hickelspiel  entstammt  in  seinen  verschiedenen 
Ausführungen  und  Arten  vorwiegend  nur  einem  einzigen  Stadtteil  Frank- 
furts, nämlich  dem  Nordend.  Ob  ich  hier  alle  Abweichungen  dieser  Gegend 
verzeichnen  konnte,  kann  ich  mit  Bestimmtheit  nicht  behaupten;  im 
übrigen  Teile  Frankfurts  werden  aber  jedenfalls  noch  andere  Spielweisen 


Haas:  Brummshagensch  und  Vater  Bümke,  zwei  poramersche  Sageugestalten.     243 

des  Hickelspiels  zu  finden  sein.  Aber  eins  zeigt  uns  diese  Zusammen- 
stellung mit  aller  Deutlichkeit  doch,  nämlich  die  ungemein  grosse  Reich- 
haltigkeit der  schaffenden  Phantasie  unserer  Jugend,  von  der  wir  oft  an- 
nehmen, dass  sie  mit  nüchternem  Innern  ausgestattet  sei.  Und  man  erkennt 
beim  Spiel  kaum  den  Schüler  wieder,  der  in  der  Schule  keiner  Anstrengung 
fähig  erscheint,  der  immer  getrieben  werden  muss,  der  auch  zu  Hause  zu 
nichts  Ordentlichem  zu  gebrauchen  ist,  wie  mir  eine  besorgte  Mutter  einmal 
sagte.  Hier  beim  Spiel  ein  Eifer,  der  in  Erstaunen  setzt,  hier  eine  unermüd- 
liche Wiederholung  der  geforderten  Spieltätigkeiten,  um  die  Aufgabe  zu 
lösen.  Denn  wie  wir  aus  den  verschiedenen  Spielausführungen  ersehen 
haben,  ist  die  Erreichung  des  Zieles  nicht  überall  gerade  leicht  gemacht. 
Wie  kompliziert  sind  die  Anforderungen!  Und  sie  müssen  gewissenhaft 
erfüllt  werden,  dafür  sorgen  die  konkurrierenden  Mitspieler,  denen  sich 
jeder  gern  unterwirft,  wTenn  auch  zuweilen  arge  Meinungsverschiedenheiten 
ausgetragen  werden.  Stundenlang  hat  der  kleine  Bub,  das  etwas  ungelenke 
Mädchen  zu  spielen,  bis  endlich  der  Mühe  Preis  in  Gestalt  eines  be- 
scheidenen und  nichts  Materielles  darstellenden  Ruhehäuschens  erworben 
ist.  Immer  wieder  mit  eisernem  Eifer  und  nie  ermüdender  Geduld  werden 
die  verschiedenen  Sprüuge  usw.  wiederholt,  Tätigkeiten,  die  von  uns  Er- 
wachsenen oft  als  so  langweilig,  als  so  nüchtern  und  uninteressant 
empfunden  werden. 

An  und  für  sich  ermüdet  also  eine  oftmals  wiederholte  Tätigkeit,  und 
sei  sie  nach  uusern  Begriffen  noch  so  einfach  und  nüchtern,  das  Kind  nicht, 
im  Gegenteil,  die  von  Erwachsenen  oft  beliebte  Abwechslung  würde  ein  Kind 
nicht  befriedigen,  was  für  Schule  und  Leben  eine  nicht  genug  zu  beherzigende 
Lehre  gibt.  Die  moderne  Richtung  der  Pädagogik  würde  dabei  nicht  immer 
gut  abschneiden,  und  die  überhäufte  Versorgung  des  Kindes  mit  allen  mög- 
lichen Spielsachen  in  der  Familie  trifft  sicherlich  auch  nicht  das  richtige. 

Frankfurt  a.  M. 


Brimimskagenscli  und  Vater  Bümke, 
zwei  pommerscke  Sagengestalten. 

Von  Alfred  Haas. 


Vor  ungefähr  Jahresfrist  machte  mich  Herr  Prof.  Dr.  Wossidlo  in 
Maren  auf  eine  eigentümliche  Spukgestalt  aufmerksam,  die  er  unter  dem 
Namen  'Brummshagensch'  oder  'Brummshagensch  mit '11  Pirkopp'  im 
mecklenburgisch-vorpommerschen  Grenzgebiet,  in  der  Nähe  der  Stadt 
Damgarten  angetroffen  habe.     Da  ich    von  diesem  Wesen    niemals    etwas 

IG* 


244  Haas: 

gehört  hatte,  so  liess  ich  durch  meinen  Bruder,  Pastor  0.  Haas  in  Langen- 
hanshagen  (Kr.  Franzburg),  Nachforschungen  anstellen,  die  auch  bald  von. 
Erfolg  gekrönt  waren.  Es  gelang  ihm  in  kurzer  Zeit,  mit  Hilfe  der 
Herren  Pastor  Hoepffner  in  Saal,  Lehrer  Böttcher  in  Bartelshagen  bei 
Lüdershagen  und  Lehrer  Fritz  in  Langendamm  bei  Damgarten  die  hier 
folgenden  Sagen  und  Erzählungen  über  Brummshagensch  zu  sammeln. 

1.  Vor  langen  Jahren  hat  in  Saal  (Kr.  Pranzbur^>)  eine  Bauersfrau  mit  Namen 
Brumm